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La patrie ou la mort

Geschichte. Thomas Sankara, der Gründer eines antikolonialen Burkina Faso, wurde vor 25 Jahren ermordet. Seine Ideen bleiben unverzichtbar für die Befreiung Afrikas

Von Gerd Schumann *

Welche Bücher er, müßte er dorthin, mit auf eine einsame Insel nehmen würde, wurde Thomas Sankara einmal gefragt. Der Präsident Burkina Fasos (1983–1987) antwortete: »Natürlich ›Staat und Revolution‹ von Lenin«. Das würde er dann, je nachdem, in welcher Stimmung er sich befände, »auf verschiedene Weise auslegen«. Auch die Bibel und den Koran nähme er mit. Zu deren Interpretationsfähigkeit erläuterte er an anderer Stelle: »Zwischen Reichen und Armen gibt es keine gemeinsame Moral. Die Bibel und der Koran können nicht in gleichem Maße dem Ausbeuter wie dem ausgebeuteten Volk dienen. Es muß also zwei Fassungen (…) geben.«

Nein, die armen Länder konnten ihre vermeintlichen Schulden bei den reichen nicht mehr begleichen, Wucherzinsen und Auflagen zogen sie immer tiefer in die Misere. Folgerichtig forderte Sankara auf einem Kongreß der Organisation Afrikanischer Einheit (OAU) in Addis Abeba die Staatschefs des Kontinents auf, sich den westlichen Kreditgebern zu verweigern. Gemeinsam, panafrikanisch-solidarisch müsse das geschehen.

Frech, ganz wie es seine Art ist, mit einem, ja, verschmitzten Grinsen bringt er die Versammlung zum Lachen: »Wer wünscht sich nicht, daß die Schulden aufgehoben werden? Wer sich das nicht wünscht, kann gleich rausgehen, sich in den Flieger setzen und bei der Weltbank bezahlen! Wir alle wünschen uns das.« Der schlanke, an die zwei Meter große 37jährige Mann täuschte sich. Er hatte noch gesagt: »Wenn Burkina Faso sich alleine weigert, die Schulden zu bezahlen, bin ich auf der nächsten Konferenz nicht mehr da.« Das war im Juli 1987 – drei Monate vor seiner Ermordung.

Ermordet und verscharrt

Am 15. Oktober 1987, einem Donnerstag, endet gegen 16 Uhr die vierjährige Geschichte des unabhängigen Burkina Faso. Eine Gruppe Elitesoldaten aus der Leibgarde von Blaise Compaoré, des zweiten Mannes im Staat und vermeintlichen Freundes Sankaras, stürmt den Sitz des Nationalen Revolutionsrats in der Hauptstadt Ouagadougou. Sie erschießen den Präsidenten und mindestens zwölf seiner Gefährten – manche Quellen sprechen von einhundert Toten. Die Überreste von Sankaras zerfetztem Körper werden nachts in den Osten der Stadt verbracht, nach Dagnoin, einem verhuschten Ort ganz weit draußen. Der Journalist Joseph Barth vom österreichischen Nachrichtenmagazin profil dazu: »Das vielleicht größte politische Talent Afrikas wurde auf einem verlassenen Friedhof verscharrt, der übersät mit Plastikfetzen mehr einer Müllhalde als einer Gedenkstätte gleicht.«

Nichts soll bleiben, hat Compaoré verfügt. Entsorgung der Geschichte, wird das hier wie dort genannt. Sankaras Familie wird drangsaliert, seine Frau Mariam muß ins Exil. Unterlagen verschwinden. Gerüchte werden gestreut. Sankaras Markenzeichen, seine unerschütterliche Integrität, soll demontiert und mit ihr die erfolgreiche Geschichte der Befreiung vom Kolonialismus demoliert werden. Compaorés Schergen stellen das Lehmhäuschen des Präsidenten auf den Kopf, verbreiten, er habe sich bereichert. Doch finden sie nichts, was den Ruf des Revolutionsführers beschädigen könnte. Sankara war gestorben wie er gelebt hatte: Mit leeren Taschen.

Tatort Obervolta, wie das Land hieß, bevor es die Regierung am 4. August 1984, dem ersten Jahrestag der Revolution, zum »Land der aufrechten Menschen« (Burkina Faso) erklärt und es zugleich mit anderer Fahne und neuem Wappen ausstattet: auf gelbem Grund roter Stern, aufgeschlagenes Buch, mit einer Kalaschnikow gekreuzte Feldhacke – Symbole eines außerordentlichen, dem Zeitgeist widersprechenden Aufbruchs aus einer Pseudounabhängigkeit. In diese hatte Frankreich seine Kolonie 1960 entlassen und dabei zugleich für eine ungebrochene Kontinuität der Ausplünderung gesorgt – wie im größten Teil Westafrikas, der trefflich bis in die Gegenwart »Françafrique« genannt wird.

Präsident Thomas Sankara charakterisiert den alten Status seines Landes im Oktober 1983 auf einer Pressekonferenz am Rande eines französisch-afrikanischen Gipfels in Vittel: »Die Afrikapolitik Frankreichs ist sehr französisch, das heißt, sie ähnelt der früheren Politik Frankreichs. Früher war Frankreich in diversen Ländern Afrikas präsent, um entweder einen Staatschef, Führer oder Duodezfürsten an der Macht zu halten, oder um einen neuen anzuschleppen. Heute verhält sich Frankreich immer noch so.«

Lebensmittel werden aus Europa importiert, und die Politik in Ouagadougou diktiert Paris. »Noch heute liegt die französische Botschaft unmittelbar neben dem Präsidentenpalast. In der Elfenbeinküste gab es damals sogar eine Tunnelverbindung von der Botschaft zum Sitz des Präsidenten Houphouët-Boigny«, berichtete Fidéle Kientega, Sankaras einstiger Berater und später burkinischer Parlamentsabgeordneter, im Gespräch mit dem Journalisten Karl Rössel im Jahr 2008. Das Elend wurde so als Endlosschleife programmiert.

Obervolta, etwa 16 Millionen Einwohner, von der Fläche her vergleichbar mit Italien, Ecuador oder Neuseeland, über 90 Prozent Analphabetismus, die Lebenserwartung bei 40 Jahren, eine hohe Kindersterblichkeit, auf 50 000 Einwohner kommt ein Arzt. Zu Recht gilt das Land als eines der kargsten Armenhäuser eines historisch dauervergewaltigten Kontinents. Kein Zugang zum Meer, Wüstengebiet im Norden, eine vorsintflutliche Landwirtschaft. Haupteinnahmequelle sind die Gelder der Millionen Wanderarbeiter, die sich auf den Plantagen der französischen Großgrundbesitzer im Nachbarland Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste), Afrikas Kornkammer am Atlantik seinerzeit, billig verkaufen müssen.

Der Ungeduldige

Sankara, 1949 in einer katholischen Familie mit insgesamt zehn Kindern geboren, hatte Glück gehabt: Er war von seinem Vater nicht nur zur Schule geschickt worden und hatte einen guten Abschluß erreicht, sondern er hatte sich danach – als einer von wenigen hundert Einwohnern – im Ausland weiterqualifiziert. Im Rahmen seiner Offiziersausbildung besuchte er Akademien in Madasgaskar, Frankreich und Marokko. Er sei auch Gasthörer im sowjetischen Kulturzentrum in Ouagadougou gewesen, heißt es. Und er galt »früh«, wie das Personenarchiv Munzinger weiß, als »linksradikal«. Der ihm eng verbundene Jerry Rawlings, sein späterer Amtskollege in Ghana (1981–2001), meinte: »Er war ein sehr ungeduldiger Mensch. Geduld kann man sich in diesem Elend nicht leisten. Die Menschen haben kein sauberes Trinkwasser, sie haben Hunger – da hat jeder das Recht, ungeduldig zu sein.«

In Paris machte sich folgerichtig Unruhe breit, als Sankara in Obervolta zunehmend von sich reden machte. Geschätzt wegen seiner musikalischen – Sankara spielte als Gitarrist in der Band »Tout à coup Jazz« – und sportlichen Aktivitäten als Fußballspieler, wegen seiner ungestümen Motorradfahrten über die rotstaubigen Pisten der Stadt, nicht zuletzt aber auch wegen der brillanten rhetorischen Fähigkeiten, mit denen er seine klar antiimperialistischen Positionen zu vermitteln vermochte, war der junge Mann längst landesweit populär. Als der Capitaine (Hauptmann) der Fallschirmjäger nach zwei Militärputschen 1980 und 1982 schließlich im Januar 1983 den Posten des Premierministers übernimmt, schickt Frankreichs besorgter Präsident François Mitterrand (1981–1995) seinen afrikapolitischen Berater Guy Penne nach Ouagadougou. Am 16. Mai führt er Gespräche, tags darauf werden Sankara und seine beiden als »links« bekannten Gefährten Henri Zongo und Jean-Baptiste Lingani verhaftet. Von den vier, später »historische Chefs der Revolution« genannten Männern entkommt lediglich Blaise Compaoré.

In Harlem

Bevor eine von breiten Teilen der Bevölkerung getragene Aufstandsbewegung Sankara Anfang August 1983 aus dem Knast in Ouagadougou befreit und damit die weitgehend gewaltfreie Revolution auslöst, schreibt er einen Brief an Maurice Bishop. Sankara kannte den Premier (1979–1983) der kleinen Karibikinsel Grenada persönlich, hatte eine lange Nacht hindurch mit ihm diskutiert über gemeinsame Wege aus der imperialen Umarmung ihrer Länder. Aber der Brief erreicht Bishop nicht mehr. Am 19. Oktober 1983 wurde Bishop von – wie es hieß – »maoistischen Verschwörern« exekutiert. Die USA schickten umgehend Marines und beendeten die freundschaftlichen Beziehungen der Insel zu Kuba und Nicaragua. Grenada kehrte zurück in den Hinterhof des angloamerikanischen Big Brother.

Nun erinnerte Sankara in Harlem/New York, am Vorabend der UN-Generalversammlung 1984, auf einer Veranstaltung im afroamerikanischen Herzen des Landes an den Revolutionär. Als er darüber spricht, schnallt er seinen Gürtel mit dem Pistolenhalfter ab, hält die Waffe hoch. Sie sei geladen. »Kugel für Kugel echt«, sagt er unter tosendem Beifall. Und fügt hinzu: »Ich will euch zeigen, daß ich vorbereitet bin für den Kampf gegen den Imperialismus.« Das »schwarze Harlem« sei für ihn das wirkliche Weiße Haus. Er lädt Vertreter des Viertels zu einem Festival in Ouagadougou ein: Wo alle afrikanischen Ländern, vertreten sein werden, muß auch Harlem sein. »Ihr müßt stolz sein, schwarz zu sein.«

Auf der UN-Generalversammlung tags darauf erklärt Sankara: »Ich spreche im Namen jener Millionen Menschen, die in Ghettos leben, weil sie eine schwarze Hautfarbe haben. Wir sehen uns als Erben aller Revolutionen auf der ganzen Welt.« Er reist nach Havanna, schließt mehrere bilaterale Handelsabkommen, die kubanische Revolution schickt Fachleute für Landwirtschaft und aus dem Gesundheitswesen nach Westafrika, burkinische Jugendliche studieren auf Kuba. Sankara zeigt sich solidarisch mit den Sandinisten in Nicaragua. Da »sprach der US-amerikanische Botschafter bei uns vor, um ihn aufzufordern, sich nicht in die Angelegenheiten der USA einzumischen«, berichtet Fidèle Kientega. Sankara läßt den Vertreter Washingtons abblitzen, setzt ihn vor die Tür. »Thomas trat überall mit Respekt auf, nahm jedoch nie ein Blatt vor den Mund«, so Kientega.

Während einer Pressekonferenz mit Mitterrand versucht eine Reporterin der katholischen Tageszeitung La Croix Sankara wegen dessen Kontakte zu sozialistischen Staaten unter Druck zu setzen. Diese würden doch »Fragen aufwerfen«. Sankara bleibt sachlich: »Ich war in Moskau, Kuba und auch anderswo. Ich war nicht nur in diesen Ländern. Wir pflegen nämlich hervorragende Beziehungen mit diesen Ländern und ihren politischen Führern.« Der neben Sankara sitzende Präsident Frankreichs blickt seinen Nachbarn von der Seite an, als wolle er ihn umbringen, wendet sich dann ab. »Wir planen Projekte, die für unsere Entwicklung wichtig sind. Wir suchen dafür Partner. Wenn uns ein näher gelegenes Land die weite Reise nach Moskau ersparen will, sehen wir darin kein Hindernis. Mir hat noch niemand Hilfe angeboten, die ich abgelehnt hätte. Was mir fehlt, ist eine Concorde, für die andere offenbar Geld haben.« Jetzt muß sogar Mitterrand schmunzeln, was er zu verbergen versucht, indem er eine Hand vor den Mund schiebt.

Sankara war zum Hoffnungsträger des Südens geworden, zu »einer Art internationalem Politstar« (Munzinger). Er hatte erreicht, was im Afrika jener Tage kaum noch denkbar gewesen war. Der Kontinent schien am Boden, gebändigt und gebunden: Die in den Sechzigern unabhängig gewordenen Staaten ihrer antikolonialen Führer beraubt – zuvorderst Partrice Lumumba; die in den Siebzigern siegreichen Volksbefreiungsbewegungen – Angola, Moçambique – militärisch attackiert von US-gesponserten bewaffneten Banditen. Andere Staaten gebeutelt von Hunger, Ausplünderung und Mißwirtschaft, von Apartheid und Unrecht, der realsozialistische Block schon weitgehend gelähmt vom eigenen wirtschaftlichen Niedergang. Burkina Faso fällt aus dem Trend.

Die Revolution beginnt

Schritt eins: Kampf der Korruption. Revolutionsführer Sankara fährt einen R5. Die luxuriöse Mercedesflotte der bisher Regierenden wird stillgelegt und durch kleine Renaults ersetzt. Flüge erster Klasse für Staatsvertreter werden abgeschafft, gestrichen jegliche Privilegien, Gehälter dem niedrigen Landesdurchschnitt angepaßt. Kientega: »Es waren diese Aufrichtigkeit und Selbstlosigkeit, die mich am meisten beeindruckt haben, und der Stolz, den viele in unserem Land, die bis dahin weniger als nichts gegolten hatten, für das Erreichte empfanden.« Die nächsten Schritte: Zweieinhalb Millionen Kinder werden geimpft, kostenlos, auch viele aus dem – vermeintlich reicheren – Nachbarland Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste). Die Kindersterblichkeit halbiert sich in kurzer Zeit. Die Kopfsteuer für Bauern entfällt. Die Feudalherrschaft von traditionellen Clanchefs wird in Frage gestellt, eine Landreform in Angriff genommen. Schließlich soll eine Kulturrevolution für allgemeine Bildung und die Gleichberechtigung der Frau sorgen.

»Die Kinder galten als die Hoffnungsträger der Revolution«, sagt Jonas Sawadogo in der empfehlenswerten TV-Dokumentation von Robin Shuffield »Thomas Sankara – der Che Guevara Afrikas« (frz. Original: »Thomas Sankara, l’homme intègre«, zu finden auch auf Youtube). In der Pionierorganisation sind alle Kinder, egal welcher Herkunft, gleichberechtigt, tragen eine einheitliche Kleidung, erhalten eine Erziehung »gegen Habgier, Egoismus und Egozentrismus«. Sankara, während einer Schulversammlung nach der Frauenemanzipation gefragt, antwortet: »Die feudale Erziehung lehrt uns, Jungen sind Mädchen übergeordnet. Wenn ein Mädchen schwanger ist, fliegt es von der Schule. Niemand fragt danach, ob der Sexualpartner, der sie geschwängert hat, in derselben Klasse ist. Und selbst wenn, dann ließe man ihn in Ruhe.«

Burkina Faso übernimmt weltweit eine Vorreiterrolle im Kampf gegen feudal-religiöse Grausamkeiten: Die Beschneidung von Mädchen wird ebenso abgeschafft wie die Polygamie. Verhütungsmittel werden verteilt, Frauenbataillone aufgestellt. Der traditionelle Machismo steht zur Disposition. Frauen skandieren: Nieder mit prügelnden Ehegatten! Am 8. März, dem Internationalen Frauentag, werden die Männer erstmals angehalten, statt ihrer Frauen auf den Markt zu gehen und danach den Haushalt zu erledigen. Sankara: »Jede Frau muß die Möglichkeit bekommen, auf ehrliche und würdige Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen.« Er haßt Prostitution und Demütigungen.

Wirkliche Unabhängigkeit

Der drahtige Mann, meist gekleidet im Drillich und mit rotem Barrett auf dem Kopf, vermittelt anschaulich, wie Burkina Faso zu einer tatsächlichen Unabhängigkeit gelangen kann: »Manche fragen: Wo ist der Imperialismus? Den Imperialismus seht ihr auf euren Tellern. Importierter Mais, Reis und Hirse, das ist Imperialismus!« Er weiß: Die Hand, die mich füttert, bestimmt über mich. Nach dem formalen Rückzug Frankreichs 1960 hat sich die städtische Elite aushalten lassen von ausländischem Kapital, sich an der sogenannten Entwicklungshilfe bereichert, während die Landbevölkerung in überkommenen Strukturen verelendete.

Nun erklärt der Präsident: »Unser Land produziert genug, um uns zu ernähren. (…) Die Nahrungsmittellieferungen lähmen uns. Sie verfestigen in unseren Köpfen die Vorstellung, daß wir Bittsteller oder Bettler sind. Wir müssen uns davon unabhängig machen durch unsere eigene Großproduktion. Wir müssen mehr produzieren.« Selbst anbauen, selbst verarbeiten, selbst verbrauchen, lautet sein Credo. Dünger und moderne Arbeitsmittel kommen zum Einsatz, die Landreform zeigt Wirkung. Innerhalb weniger Jahre kann sich Burkina Faso nicht nur selbst ernähren, es beginnt, Lebensmittel in die Region zu exportieren.

Als Frankreichs zugesagte Hilfe beim Bau einer Eisenbahnlinie auf sich warten läßt, ruft der Revolutionsrat die Bevölkerung zur freiwilligen Arbeit auf. Subbotnik in Afrika. Abertausende Menschen verlegen Bohlen und Schienen mit bloßen Händen. Um der fortschreitenden Verödung der Böden vorzubeugen, werden Millionen Bäume gepflanzt. Burkina Faso blüht und macht in Afrika Furore.

Lebensgefährlicher Bruch

Mitterrand besucht Ouagadougou. Kurz zuvor noch hatte er in Paris den südafrikanischen Apartheid-Präsidenten Pieter Willem Botha mit allen Ehren empfangen. Sankara traut sich, spricht aus, was Schwarzafrika denkt, nennt Botha »Mörder« und greift Mitterrand an: Jene, die dessen »grausamen Taten zugelassen haben, tragen dafür die Verantwortung, hier, überall, heute und für immer«. Frankreichs sichtlich pikierter Erster Mann gibt sich jovial, spricht von der »entschiedenen Leidenschaft der Jugend«, urteilt, daß Sankara manchmal weiter vorpresche, »als es notwendig sei« und legt ihm in patriarchalischer Geste kurz die Hand auf die Schulter.

Der Präsident Burkina Fasos war zum gefährlichen und unberechenbaren Störenfried der postkolonialen Ordnung in ganz Afrika geworden. Der frankophone Félix Houphouët-Boigny, Côte d’Ivoires reaktionärer Präsident (1960–1993), intrigiert. Er stellt Compaoré nicht nur dessen zukünftige Ehefrau vor, die France-Ivorerin Chantal Terrasson de Fougères, er führt ihn an sich und seine Positionen heran – daß auch Bestechungsgelder fließen, bestreitet Compaoré später. Der wird zum Verbindungsmann des Landes zu Côte d’Ivoire. Der Entwicklungspolitiker Jean Ziegler im Deutschlandfunk: »Wenn Compaoré zum Mörder geworden ist, wenn jemand die Hand von Campaoré gelenkt hat, dann waren es sicher die französischen Geheimdienste.« Sankara habe den Bruch versucht. Sich aber mit Paris anzulegen, »das ist lebensgefährlich«.

Zunehmende innenpolitische Probleme spielen der internationalen Verschwörung in die Hände. Unzufriedene Lehrer streiken – 1200 bis 1400 werden auf einen Streich entlassen und durch in Schnellkursen ausgebildete Männer und Frauen ersetzt. War es ein Fehler, die Gewerkschaften zu verbieten? »In einer Revolution gibt es kein Streikrecht«, sagt Jonas Sawadogo. »Es gab Volksversammlungen und viele andere Instanzen, in denen sich jeder und jede zu Wort melden konnte. Aber wer streikte, war automatisch gegen die Revolution und wurde auf die Straße gesetzt. Das war ganz normal.« Die durchweg mit AK47-Maschinenpistolen ausgerüsteten Komitees zur Verteidigung der Revolution (CDR; Comités de défense de la Révolution) besorgen hier und dort das Gegenteil von dem, was ihre eigentliche Aufgabe ist: Schlecht ausgebildete, junge Kader handeln willkürlich, es kommt zu Übergriffen.

Sankara versucht die Einheit der revolutionären Bewegung zu erhalten, doch Konkurrenzen, unterschiedliche politische Linien, Streit und persönliche Interessen sorgen für Mißtrauen zwischen dem Sankara- und dem Compaoré-Lager. Bis zum Schluß setzte der Präsident auf Verständigung, während sein Widersacher deutlich erkennbar die Gewaltkarte spielen will. Rawlings bietet Sankara an, sich zumindest kurzzeitig nach Ghana in Sicherheit zu begeben. Der lehnt ab. Er glaubt nicht an die Untreue seines Genossen. Aufgeben ist seine Sache nicht.

Nach dem Mord erklärt Compaoré, es ginge ihm nun um eine »Berichtigung der Revolution«. Er öffnet den französischen Postkolonialisten umgehend jene Tore ins Land, die Sankara dichtgemacht hatte. Burkina Faso behält seinen Namen, doch fällt das Land historisch um ein Zeitalter zurück, zurück nach »Obervolta«. Das wird zur Drehscheibe des französischen Waffenhandels. Im Krieg um Diamanten rüstet Compaoré Liberias Staatschef Charles Taylor aus. Die UNO schweigt.

Gbagbos Sturz

Im neuen Jahrtausend wird von Burkina Faso die militärische Attacke auf den Präsidenten von Côte d’Ivoire, Laurent Gbagbo, vorbereitet. Der burkinische Süden dient den Putschisten von 2002 als Trainingsbasis und Aufmarschgebiet gegen Gbagbo, den in Paris ungeliebten Sozialisten. Im April 2011 wird er von Rebellen – unterstützt von französischen Legionären und UN-Blauhelmen – gefangengenommen, mißhandelt und gedemütigt. Aktuell steht er in Den Haag vor dem Internationalen Strafgerichtshof.

Das alte Westafrika unter französischer Führung ist weitgehend wiederhergestellt, auch wenn derzeit in Mali Rebellenbewegungen im Norden für Unruhe sorgen und politische Turbulenzen den Süden erschüttern. In Sachen Mali agiert Compaoré als Vermittler der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS, derweil er im eigenen Land mit Gewalt und Wahlmanipulationen für den Erhalt seiner Ordnung sorgt. Die Bindung des Landes an den »afrikanischen Franc« (Franc-CFA) bleibt, die Banque de France diktiert – wie 1994 – urplötzliche Abwertungen, dekretiert auf diesem Weg Zwangsenteignungen der Bevölkerungen von 14 franco-afrikanischen Staaten.

Wo Thomas Sankara einst wüstenbedrohte Landstriche aufforsten ließ, gibt Compaoré heute dem US-Konzern Monsanto – einstmals Produzent von »Agent Orange« – freie Hand für Freilandversuche mit genmanipuliertem Saatgut. In den zweieinhalb postsankaristischen Jahrzehnten hält sich Burkina Faso wieder beharrlich unter den zehn Letztplazierten auf der UN-Entwicklungsskala. Den »Boulevard de Révolution« in Ouagadougou gibt es nicht mehr. Ein Teil von ihm heißt nun »Charles de Gaulle«. Präsident Compaoré »und seine schöne diamantenbehangene Frau Chantal« (Deutschlandfunk) präsentieren sich bei Galas und erhalten Besuch vom deutschen »Entwicklungsminister« Ingo Niebel.

Afrikanischer »Che«

Jean Ziegler erinnert sich an seine letzte Begegnung mit Thomas Sankara Anfang Oktober 1987, berichtet von einem langen Gespräch über Ernesto Che Guevara. »Ich sagte, am 8. Oktober jährt sich die Ermordung von Che Guevara zum zwanzigsten Mal (…). Plötzlich – ich weiß es noch wie gestern – sah er mich an und sagte: Er starb mit 39 Jahren. Werde ich es, wie Che, bis 39 schaffen?« Es sei eine Art »Todesahnung« gewesen, meinte Ziegler. Der 1949 in Yako/Obervolta geborene Sankara schaffte es, anders als Che Guevara und Maurice Bishop, nicht mehr bis 39. Die Zeitenwende im Sinne des Imperiums wurde auf dem Trikont vorbereitet.

Eine Woche vor seinem Tod hatte Sankara in einer Rede den argentinisch-kubanischen Revolutionär mit dem Satz zitiert: »Revolutionäre und Individuen kann man töten, aber Ideen lassen sich nicht ermorden!« Tatsächlich lebt Sankaras Traum von einem geeinten Afrika. Wie seit Jahrzehnten werden auch diesmal in der Nacht vom 14. zum 15. Oktober junge Menschen aus ganz Afrika zum Friedhof von Dagnoin draußen vor der Hauptstadt pilgern, Kerzen anzünden, Sankaras Reden rezitieren und skandieren: »La patrie où la mort – nous vaincrons!« (Vaterland oder Tod – wir werden siegen).

* Aus: junge Welt, Freitag, 12. Oktober 2012


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