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Bulgarien bleibt neoliberal

Rechte Parteien siegen bei Parlamentswahl. Merkel-Vertrauter Bojko Borissow vor zweiter Amtszeit als Ministerpräsident

Von Roland Zschächner *

Am vergangenen Sonntag haben in Bulgarien die zweiten vorgezogenen Parlamentswahlen innerhalb von 17 Monaten stattgefunden. Nach dem bisherigen Stand der Auszählung ging die bisherige Oppositionspartei »Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens« (GERB) unter dem Vorsitzenden und Gründer Bojko Borissow als Gewinnerin aus der Abstimmung hervor. Sie errang laut der Zeitung Standart 32,66 Prozent der Stimmen. Zweitstärkste Kraft wurde mit 15,34 Prozent die Sozialistische Partei (BSP), gefolgt von der »Bewegung für Demokratie und Freiheit« (DPS), die angibt, die Interessen der türkischen und anderer Minderheiten zu vertreten. Die DPS erhielt 14,75 Prozent der Wählerstimmen. In der Narodno Sabranie werden noch weitere fünf Parteien vertreten sein, darunter der konservative »Reformblock« (RB) um Meglena Kunewa, der auf 8,8 Prozent der Stimmen kam. Außerdem gelang der rassistischen und extrem nationalistischen Partei »Ataka« mit 4,6 Prozent knapp der Sprung über Vierprozenthürde. Das endgültige Wahlergebnis soll am Mittwoch bekanntgegeben werden.

Die vorgezogenen Wahlen mussten abgehalten werden, nachdem die Regierung aus der BSP-geführten »Koalition für Bulgarien« und der DPS im Juli dieses Jahres zerbrochen war. Dem vorausgegangen waren Proteste aufgrund der anhaltenden Bankenkrise und das schlechte Abschneiden der Sozialisten bei der EU-Wahl im Mai.

Borissow sprach sich am Montag auf einer Pressekonferenz gegen eine Koalition mit der BSP sowie der DPS aus. Vielmehr plädierte er für eine Minderheitenregierung, die aller Voraussicht nach von der ehemaligen EU-Kommissarin für Verbraucherschutz Kunewa unterstützt werden wird. Sowohl GERB wie RB vertreten eine neoliberale Politik nach den Vorgaben der EU.

Bulgarien ist das ärmste Land der EU. Mit der Finanzkrise 2008 brach die offizielle Wirtschaftsleistung um fünf Prozent ein. Eine anhaltende Rezension war die Folge. Auslöser war – wie in vielen ehemaligen realsozialistischen Staaten – ein Entwicklungsmodell, das auf ausländischen Krediten, Privatisierung von ehemaligen staatlichen Betrieben und billigen Exporten basierte. Gewinner sind einige wenige Oligarchen und westliche Konzerne, die sich profitable Industriezweige wie die Kohleproduktion oder die Textilverarbeitung nicht selten unter dubiosen Umständen aneigneten. Anfang 2013 gingen Hunderttausende auf die Straße, nachdem die privatisierten Stromanbieter hohe Nachzahlungen verlangt hatten, die weit über ein durchschnittliches Monatseinkommen betrugen.

Ein Fünftel der Bulgaren lebt unter der offiziellen Armutsgrenze von rund 250 Lewa – umgerechnet 130 Euro. Die Rechte der Beschäftigten werden immer weiter beschnitten, Gewerkschaften aus den Betrieben gedrängt. Sicherheitsstandards systematisch missachtet. So kam es am vergangenen Donnerstag in einer Sprengstoffabrik im westbulgarischen Gorni Lom zu einer Explosion, bei der mindestens 15 Arbeiter starben. Verschärft wird die Krise durch Kürzungen im sozialen Bereich. In den vergangenen Jahren wurden die Löhne von öffentlichen Angestellten, Renten und andere staatliche Gelder zum Teil erheblich gesenkt. Immer wieder kommt es an Hochschulen und im Gesundheitssektor zu Protesten gegen die miserablen Bedingungen. Viele Bulgaren versuchen das Land zu verlassen und sich als billige Arbeitskräfte in Westeuropa zu verdingen.

Eine neue Regierung unter Borissow wird daran nichts ändern. Er gilt als Statthalter von Angela Merkel in Bulgarien. Das Programm des ehemaligen Karate-Profis und Bodyguards ist eine Mischung aus autoritärem Führungsstil, Hoffnungen auf EU-Hilfe und dem Versprechen auf stabile Verhältnisse. Viele Bulgaren sehen in der herrschenden Korruption die Ursache für die Misere des Landes. Borissow scheint vielen als kleineres Übel. Außerdem wuchs in der Zeit seiner ersten Regierung die Wirtschaft, wenn auch nur gering. Das war vor allem auf EU-Gelder zurückzuführen. Die Gegenleistung war die vollständige Unterordnung unter das Diktat Brüssels.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 7. Oktober 2014


Ungewisse Zukunft

Olaf Standke über die Folgen der bulgarischen Parlamentswahl **

Darin waren sich am Dienstag alle bulgarischen Zeitungen von »Duma« bis »Kapital Daily« einig: Der konservativen GERB bleibe nach ihrem Wahlsieg ohne absolute Mehrheit wohl nicht viel anderes, als eine Minderheitsregierung anzustreben. Schon in den nächsten Tagen sollen die Konsultationen mit den anderen Parteien über eine entsprechende Vereinbarung beginnen; als erstes mit den Sozialisten, vom Wähler zwar hart abgestraft, aber noch immer zweitstärkste Kraft im Land.

Auch die zweite vorgezogene Wahl in 17 Monaten brachte dem ärmsten EU-Staat keine Stabilität, eher ist die Lage nun noch verzwickter. Staatspräsident Plewneliew forderte deshalb alle Politiker auf, im Geiste des großen Staatsmanns Samuil einen gemeinsamen Ansatz für die Zukunft zu finden. Nur, der Zar ist seit 1000 Jahren tot und die Parteienlandschaft Bulgariens 25 Jahre nach der Wende so zersplittert wie nie, zudem vergiftet durch persönliche Feindschaften wichtiger Protagonisten. Selbst der ebenfalls konservative Reformblock will nur kooperieren, wenn GERB-Chef Borissow kein zweites Mal Regierungschef wird. Seine erste Amtszeit endete nach Massenprotesten gegen Armut und Korruption vorfristig. Gebessert hat sich nichts. Die soziale Lage ist für viele Bulgaren so desaströs wie die politische Zukunft des Landes ungewiss.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 8. Oktober 2014 (Kommentar)


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