Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Protest und Proporz

Hintergrund. Vor dem Urnengang in Bulgarien am 12. Mai 2013: Im ärmsten Land der EU erzwang die Bevölkerung den Rücktritt der Ein-Parteien-Regierung. Aber deren Wiederwahl ist sehr wahrscheinlich

Von Janeta Mileva *

Alles begann am 5. Februar in Blagoewgrad im Südwesten nahe der Grenzen zu Griechenland, Mazedonien und Serbien (siehe Karte). Konkreter Anlaß für die Proteste, die zunächst friedlich verliefen und in kürzester Zeit das ganze Land erfaßten, waren die hohen Rechnungen für Strom und Heizung in den Monaten Dezember 2012 und Januar 2013. Diese Rechnungen betrugen umgerechnet oft über 100 Euro – viel Geld, zumal der monatliche Durchschnittslohn bei etwa 400 Euro liegt.

Bulgarien ist das ärmste Land der EU. Die neoliberale Kürzungspolitik der letzten Regierungen führte zur Verelendung großer Teile der Bevölkerung. Seit dem Antritt der allein amtierenden rechtspopulistischen Partei GERB im Jahr 2009 wurden Gehälter im öffentlichen Dienst und die Renten eingefroren, zugleich stieg die Inflation auf 11,8 Prozent. Der gesetzliche Mindestlohn beträgt 310 Lew (159 Euro pro Monat), die Mindestrente liegt bei 145 Lew (74 Euro), das Gehalt in der Elternzeit beträgt 240 Lew (123 Euro), das Kindergeld macht etwa 35 Lew (18 Euro) aus. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gehört zu den niedrigsten in der EU. Das Wirtschaftswachstum für das Jahr 2012 betrug 0,5 Prozent (2011: 1,6; 2010: 0,4 Prozent). Nach Angaben des Europäischen Statistikamtes Eurostat waren im Jahr 2010 in Bulgarien 42 Prozent alle Bürger armutsgefährdet. Diese Zahl hat sich seitdem dramatisch erhöht. 52 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren sind nach Berechnungen des Instituts von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. In Haushalten mit niedrigem Bildungsgrad lag diese Quote in Bulgarien sogar bei 71 Prozent.

Zwar ist das Land kein Mitglied der Euro-Zone, und die Regierung betonte, daß sie nicht plane, die europäische Währung in den nächsten Jahren einzuführen. Aber der Lew ist an ihr gebunden. Wegen seiner rigorosen Haushalts- und Finanzpolitik kann Bulgarien als Musterland in der EU gelten: Nicht nur das aktuelle Haushaltsdefizit ist niedrig (0,5 Prozent des BIP), sondern ebenfalls die Staatsverschuldung mit 19,5 Prozent des BIP. Zudem hat die Republik auch den EU-Fiskalvertrag unterzeichnet. Damit verfolgte die Regierung einen EU-konformen Austeritätskurs, für die sie in Brüssel viel gelobt wurde. Diese Politik grenzte immer größere Teile der bulgarischen Gesellschaft aus. Obwohl sich die soziale Lage vieler stetig verschlechterte, gab es in der Vergangenheit keine wahrnehmbaren Proteste. Trotzdem war in vielen Teilen der Gesellschaft ein wachsender Zorn auf die Politiker zu spüren, aber auch Resignation, die sich in massenhafter Auswanderung ausdrückt. Das hat sich nun mit den Protesten gegen die hohen Strompreise geändert.

Geschäfte der Energiemonopole

Am 10. Februar gegen 1.30 Uhr wurden zwei Dienstautos des privaten österreichischen Energiekonzerns EVN in Plowdiw unmittelbar vor dem Unternehmensgebäude in Brand gesetzt. An diesem Tag starteten landesweite Proteste – in Plowdiw, in der Hauptstadt Sofia und auch in Warna, Burgas, Ruse, Weliko Tarnowo, Schumen, Blagoewgrad, Sandanski, Silistra, Jambol, Goze Deltschew, Belene, Montana, Dobritsch und Kardschali gingen Tausende Menschen auf die Straße. Viele verbrannten ihre Strom- oder Heizungsrechnungen vor den Gebäuden der jeweiligen Energievertriebsgesellschaften.

Die Menge forderte die Verstaatlichung der Energieproduktion und des -vertriebs; Annullierung der Verträge mit privaten Unternehmen in diesem Sektor und Haftbarmachung der Personen, die staatlicherseits diese Verträge unterzeichnet haben; Nutzung der im AKW Kosloduj produzierte Energie lediglich auf dem heimischen Markt und nur für den Bedarf der bulgarischen Bevölkerung zwecks bezahlbarer Strompreise; Annullierung der Schulden der Bulgarischen Nationalen Elektrizitätsgesellschaft, die aufgrund des für sie unvorteilhaften Verkaufs von Leistungen an die privaten Energieanbieter entstanden sind; Einführung von individuellen Verträgen mit den Lieferanten von Fernwärme mit dem Recht für Verbraucher, den Vertrag mit einer einmonatigen Frist zu kündigen.

In Bulgarien – wie auch in anderen Ländern des ehemaligen »Ostblocks« – wird der Energiesektor von drei international agierenden Unternehmen beherrscht: den tschechischen Betrieben CEZ und Energo-Pro sowie der österreichischen EVN AG, an der die baden-württembergische EnBW AG zu einem Drittel beteiligt ist. Energo-Pro übernahm im September 2012 die Anteile des deutschen Unternehmens E.on, das im Rahmen der Privatisierung der bulgarischen Energieversorgung 67 Prozent der Aktien erworben hatte und den Kauf der restlichen 33 Prozent anstrebte. E.ons Rückzug aus dem bulgarischen Energiesektor wurde in den Medien damit erklärt, daß die erwarteten Gewinne nicht realisiert wurden, obwohl mit der Liberalisierung des Vertriebs jegliche Möglichkeiten für eine staatliche Regulierung der Preise für Strom und Heizung abgeschafft worden waren. Die Entgelte werden von den jeweiligen privaten Anbietern festgelegt. Private Dienstleister werden für das Erstellen der Abrechnungen beauftragt. Die wiederum nehmen dafür nicht nur den realen Strom- bzw. Wärmeverbrauch zur Grundlage. Sondern sie lassen auch die Verluste, die beim Energietransport entstehen, von den Endkunden bezahlen. So kam es Ende 2012 zu den extrem hohen Rechnungen für Strom und Heizung.

Rücktritt der Regierung

Am 17. Februar breiteten sich die Proteste auf mehr als 35 Städte aus, die Zahl der Teilnehmer stieg auf über 100000 – von sieben Millionen Einwohnern. An vielen Orten leisteten die Demonstranten zivilen Ungehorsam: Sie blockierten Autobahnen, wichtige Verkehrsknotenpunkte und Landstraßen, bewarfen die Gendarmerie und ihre Autos sowie die Gebäude von privaten Elektrizitätsanbietern, das Wirtschaftsministerium und das Parlament mit Flaschen, Eiern, Kartoffeln und Tomaten.

Mit dem Anwachsen der Proteste kamen immer öfter allgemeinpolitische Forderungen auf. Die Demonstranten richteten ihre Kritik etwa gegen die zunehmende Arbeitslosigkeit. In Bulgarien sind nach Gewerkschaftsangaben etwa 18 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung ohne Beschäftigung. Dabei darf nicht übersehen werden, daß seit 1989 mehr als 1,5 Millionen Menschen als Arbeitsmigranten das Land verlassen haben.

Ein zweites Thema, das auf den Demonstrationen immer mehr eine Rolle spielte, war die alltägliche Korruption innerhalb der politischen Klasse des Landes und in der Wirtschaft. Der Ärger richtete sich besonders gegen die mafiosen Strukturen innerhalb der politischen und ökonomischen Eliten. Drittens wurde – nach langen Jahren des Schweigens – auch die Privatisierungs­praxis nach 1989 von vielen Demonstranten aufgegriffen, bei der sich eine kleine politische Gruppe Vorteile verschafft hatte. Besonders die von Bestechlichkeit begleitete Privatisierungspraxis bei den Energieunternehmen wurde auf Plakaten und in Losungen thematisiert.

Weitere Punkte waren der Widerstand gegen die rigorosen Kürzungen im Sozialbereich und der dramatisch sinkende Lebensstandard. Auch die Zerstörung des Gesundheitssystems durch großflächige Privatisierung wurde kritisiert. Insgesamt entwickelte sich so eine Stimmung gegen die seit 1989 regierenden Parteien im Parlament und gegen die GERB-Regierung von Ministerpräsident und Parteivorsitzendem Bojko Borissow.

Borissow versuchte die Proteste durch das Versprechen abzuschwächen, die Lizenz für den tschechischen Stromanbieter CEZ zurückzunehmen und die Strompreise ab dem 1. März um acht Prozent zu senken – doch ohne Wirkung. In dieser Situation trat auf sein Verlangen am 18. Februar Finanzminister Simeon Djankow zurück. Der Ministerpräsident hoffte, die Proteste damit zu beruhigen oder gar zu beenden. Sie eskalierten jedoch wegen massiver Polizeigewalt. Am 19. Februar kam es zu ersten Zusammenstößen an der Adler-Brücke in Sofia zwischen Kundgebungsteilnehmern und der Polizei. 25 Personen, darunter auch ältere Menschen, mußten mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden, neun davon mit schweren.

Die Demonstrationen richteten sich in der Folge auch gegen die Macht der Banken, gegen den eingeschränkten Zugang zur Bildung, gegen die Zerstörung der Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Wissenschaft und gegen die Privatisierung der bulgarischen Bahn. Gefordert wurden zudem die Einberufung eines Runden Tisches unter der Schirmherrschaft des Staatspräsidenten Rosen Plewneliew und die Einsetzung einer unabhängigen und überparteilichen Regierung für das Land unter Beteiligung der Protestierenden. Forderungen nach Änderung der Verfassung, die nur die Interessen der Reichen formuliere, wurden ebenfalls laut, in Plowdiw, der zweitgrößten Stadt Bulgariens, wurde sie sogar symbolisch verbrannt.

Am 20. Februar sah sich Borissow gezwungen, aufgrund der blutigen Zusammenstöße in Sofia den Rücktritt der gesamten Regierung zu erklären. Dieser Schritt war von ihm strategisch erwogen und populistisch. Wie die Zeitung Le Monde diplomatique am 21. Februar ironisch schrieb, »konnte niemand ahnen, daß der Anblick von Blut für Bojko Borissow so unerträglich ist. Er, der ehemalige Leibwächter des kommunistischen Staatsoberhauptes Todor Schiwkow, der ehemalige Feuerwehroffizier und Polizeigeneral sowie der gut trainierte Karatekämpfer, dem langjährige Verbindungen zu kriminellen Strukturen nachgesagt werden: Er begründete den geschlossenen Regierungsrücktritt damit, daß er ›kein Blut an der Adler-Brücke‹ in Sofia sehen könne.« Von diesem Schachzug dürfte Borissow sich versprochen haben, im Hinblick auf die im Juli anstehenden Parlamentswahlen die sinkenden Umfragewerte der Regierung auffangen zu können. Am 21. Februar stimmte die Nationalversammlung dem Rücktritt der Regierung zu. Der Termin für die vorgezogenen Neuwahlen wurden auf den 12. Mai gelegt.

Das Interimskabinett

Nach dem Rücktritt des Kabinetts setzten sich die Massenproteste in Bulgarien fort. Am 24. Februar demonstrierten über 70000 Menschen landesweit. Und in zahlreicheneuropäischen Städten (Wien, London, Athen, Berlin, Dublin, Kopenhagen, Madrid, Frankfurt am Main, Barcelona u.a.) wurden solidarische Aktionen von den emigrierten bulgarischen Staatsangehörigen durchgeführt. Zu einer neuen, emotional aufgeladenen Welle der Massenproteste kam es, nachdem sich Menschen in unterschiedlichen Städten aus Verzweiflung in der Öffentlichkeit selbst anzündeten. Von diesen sechs sind mittlerweile vier gestorben. Laut Presseberichten ist die Zahl der Suizide in den letzten Monaten alarmierend gestiegen – allein in Sofia haben sich über 130 Menschen das Leben genommen. Psychologen weisen darauf hin, daß dies überdeutlich zeigt, wie dringend die Menschen eine Perspektive brauchen. Die Bevölkerung reagierte auf die vielen Todesopfer: Am 16. März sind Tausende unter dem Motto »Ein Volk gegen die Oligarchie, die Selbstverbrennungen stoppen« auf die Straße gegangen.

Drei Wochen nach Borissows Rücktritt und nachdem keine neue Regierung von den im Parlament vertretenen Parteien gebildet werden konnte, hat ein vom Präsidenten zusammengesetztes Übergangskabinett am 12. März die Arbeit aufgenommen. Der neue Ministerpräsident Marin Rajkow war bisher Botschafter in Frankreich und gilt als einer der engsten Vertrauten von Borissow. Auch die weiteren Regierungsmitglieder kommen mehrheitlich aus der GERB; drei von ihnen waren sogar stellvertretende Minister. Das Interimskabinett, das aufgrund der Auflösung des Parlaments keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt und lediglich dem Präsidenten verantwortlich ist, soll bis zur Bildung der neuen regulären Regierung im Amt bleiben.

Laut Medienberichten ließ das Innenministerium in den letzten Wochen der Proteste deren Organisatoren überwachen. Telefonabhörung, Korrespondenzüberwachung sowie externe Beobachtung. Die Bekanntgabe dieser Kontroll- und Einschüchterungsmaßnahmen fand allerdings kaum Resonanz in der Öffentlichkeit. Die bürgerlichen Freiheitsrechte sind in einem Land wie Bulgarien, in dem der größte Teil der Bevölkerung von Armut betroffen ist, zweitrangig.

Protestbewegung – ohne Parteien

Hinter den Protesten standen keine organisierten Kräfte, es gab auch keine offiziellen Sprecher der demonstrierenden Menschen. Die Mobilisierung lief überwiegend über das Internet – durch informelle und virtuelle Gemeinschaften. Die jüngeren Menschen verständigten sich über unterschiedliche soziale Netzwerke. Die Älteren informierten sich zum Teil über ihre Familien und Bekannten in den Städten und Dörfern und verabredeten sich, um gemeinsam zu protestieren. Weitere Demonstrationen wurden direkt während der aktuellen Kundgebungen verabredet und die Teilnehmer über die am nächsten Tag stattfindende Aktion informiert.

Beteiligt haben sich Menschen aus allen Altersgruppen: Schülerinnen und Schüler, die mit ihren Eltern auf die Straße gingen, junge Leute mit ihren kleinen Kindern, Arbeitslose, abhängig Beschäftigte sowie Rentnerinnen und Rentner – all jene Bevölkerungsgruppen, die zu den Verlierern der Übergangszeit nach 1989 und der gegenwärtigen Krise zählen. Nach einiger Zeit kamen Studierende hinzu. Erst später schlossen sich den Protesten auch kleinere, parteipolitisch gebundene Gruppen an. Vertreter der Roma-Minderheit protestierten ebenfalls, allerdings führten sie – insbesondere wegen der vorhandenen stark nationalistischen Tendenzen der Massenproteste – eigene Aktionen durch. Sie forderten vor allem Arbeitsplätze und Lebensmittel für ihre Familien.

Die Bewegung distanzierte sich von jeglichen politischen Parteien. Die meisten Abstimmungen seit Mitte der 90er Jahren waren Protestwahlen, die konkreten politischen Inhalte blieben im Hintergrund – Hauptsache, die gerade Regierenden abstrafen. Unter denen breitete sich Korruption aus. Zudem verbündeten sich Teile der politischen Elite mit der organisierten Kriminalität.

Die Protestbewegung antwortete darauf mit eigenen Formen: In kurzer Zeit entstanden landesweit 35 Initiativkomitees, die die Demonstrationen untereinander koordinierten. In ihnen haben sich bisher unbekannte Akteure zu Wort gemeldet. Sie hatten den Anspruch, an der Übergangsregierung beteiligt zu werden. Sie haben jedoch, außer ihrem Protest gegen die aktuellen gesellschaftlichen Zustände in Bulgarien, keinerlei eigene gesellschaftspolitischen Forderungen erkennen lassen. Inzwischen haben sich drei landesweite Strömungen herausgebildet: die Bewegung für Bürgerkontrolle, die Bewegung »Befreiung« und die Bewegung »Bulgarischer Frühling«. Sie hoffen, ins Parlament zu kommen. Konkrete politische Programme haben sie nicht, sie greifen lediglich die Forderungen der Proteste auf, neue Gesichter in die Politik zu bringen, einzelne Gesetze zu ändern, die Monopole aus dem Energiemarkt zu vertreiben, ein nationales Referendum für Abberufung von Vertretern des Staates zu organisieren und das Einkommen der Bevölkerung zu erhöhen.

Ein besonders großes Problem bei den Protesten ist die Intervention der extremen Rechten – der Parteien Ataka, Bulgarischer Nationaler Bund und Interne Mazedonische Revolutionäre Organisation. Sie versuchten, die Proteste, die ohnehin chauvinistisch aufgeladen waren, für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren und vor allem ein starkes »Nationalgefühl« daraus abzuleiten. Dies birgt die große Gefahr von einem deutlichen Rechtsruck bei den Wahlen zum Parlament, da die Menschen tief enttäuscht von den bisher regierenden Parteien (GERB, Bulgarische Sozialistische Partei und der Mehrzahl der konservativen Parteien) sind. Aus diesem Grund ist zu erwarten, daß viele auch diesmal ihre Stimme nicht für konkrete politische Inhalte abgeben, sondern sie nutzen, um ihrem Zorn Luft zu machen. Das kann zu mehr Mandaten für die rechten Parteien im nächsten Parlament führen.

Der Wahlkampf

Bei den vorgezogenen Wahlen treten 35 politische Parteien und sieben Parteienkoalitionen an. Die Protestbewegungen, die dies nach dem bulgarischen Wahlgesetz nicht selbst dürfen, greifen auf Listen von kleinen, unbekannten Parteien zurück. Ob sie die sozialen Probleme fortschrittlich, konservativ oder gar reaktionär lösen wollen, ist völlig offen.

Der Wahlkampf wird von den beiden stärksten politischen Parteien dominiert: von der rechtspopulistischen GERB und der Bulgarische Sozialistischen Partei (BSP), die aus der ehemaligen KP hervorgegangen ist und heute rechtssozialdemokratisch agiert. Die Auseinandersetzung findet hauptsächlich im Fernsehen und im Rundfunk statt. Dabei sind die Auftritte in staatlichen wie in privaten Sendern sehr teuer. Das erschwert kleineren Parteien den Wahlkampf außerordentlich, zumal laut einer Umfrage 66 Prozent der Stimmberechtigten ihn nur über Radio und TV verfolgen.

Die Massenproteste haben den Wahlkampf thematisch beeinflußt. Zentral für alle politischen Parteien sind soziale Forderungen: vorneweg Bekämpfung der Armut, der hohen Arbeitslosigkeit, Verbesserung des Lohnniveaus, der Gesundheitsversorgung und der Bildung.

Seit Ende März überschattet den Wahlkampf ein Abhörskandal. Nach Ermittlungen der bulgarischen Staatsanwaltschaft wird der Exinnenminister und Vertraute Borissows, Zwetan Zwetanow, verdächtigt, die unrechtmäßige Abhörung von hochrangigen Politikern, Richtern und Staatsanwälten sowie von bekannten Geschäftsleuten persönlich angeordnet zu haben. Für die in den Skandal verwickelte GERB werden deshalb aber keine Stimmenverluste erwartet. Laut aktuellen Umfragen hat sie einen Vorsprung vor der BSP. Allerdings werden auch Neuwahlen im Herbst wegen fehlender parlamentarischer Mehrheit nicht völlig ausgeschlossen.

Die Partei Bulgarische Linke, die seit 2009 besteht und seit 2010 Mitglied in der Europäischen Linkspartei ist, versucht im Wahlkampf, den kapitalismuskritischen und vor allem privatisierungskritischen Forderungen aus den Protestbewegungen eine Stimme zu geben. Sie tritt insbesondere für die Vergesellschaftung bzw. Rekommunalisierung der Einrichtungen öffentlicher Daseinsvorsorge, eine gerechte Steuerpolitik, für die Überwindung der Arbeitslosigkeit und Vollbeschäftigung, für eine kostenlose Gesundheitsversorgung und gebührenfreie Bildung, für menschenwürdige Renten ein und gegen jegliche Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung. Als eine kleine Partei verfügt sie jedoch nicht über ausreichend organisatorische und finanzielle Kapazitäten, um flächendeckend aufzutreten. Insbesondere bleiben ihr die Medien verschlossen. Daher setzt sie vor allem auf Straßenwahlkampf, Flyer und Broschüren mit den programmatischen und Schwerpunkten sowie Internetkampagnen.

*Janeta Mileva arbeitet als Referentin für Europapolitik bei der Linksfraktion im Bundestag. Sie ist Mitglied im Vorstand des Helle Panke e.V.

Aus: junge Welt, Samstag, 11. Mai 2013



Zurück zur Bulgarien-Seite

Zurück zur Homepage