Bulgarien oder Malediven?
In Sofia und anderen Großstädten wird täglich demonstriert – eine Bestandsaufnahme
Von Michael Müller, Sofia *
Seit Mai stehen sich in Bulgariens Volksversammlung Koalition und Opposition 120:120 gegenüber. Aktionsfähig ist die von Sozialisten geführte Regierung nur, weil sie sich von der rassistisch-nationalistischen Ataka-Partei tolerieren lässt. Auch darum geht es bei den täglichen Demonstrationen, vor allem aber um viel tiefergreifende Übel.
»NOlogarchia!« hat sie auf ihr Transparent geschrieben. Das trägt Tatjana Paskowa, wie sie erzählt, seit gut drei Wochen fast jeden Abend durch Sofias Zentrum. Mal zusammen mit 1000, mal mit 30 000 Leuten. Die meisten etwa in dem Alter der 33-jährigen Grafikdesignerin, also zwischen Ende 20 und Mitte 40. Sie sind die Aktivisten der Dauerdemonstration entlang des Boulevard Zar Oswoboditel: Adlerbrücke, Universität, Volksversammlung, Batembergplatz, Amtssitze von Präsident und Ministerpräsident, Unabhängigkeitsplatz. »Die machen ihrer Wut gegen die Oligarchen Luft, die das Land seit 1990 im Griff haben«, sagt Dr. Boris Awramow, Honorarprofessor an der Sofioter Uni. »Und dabei attackieren sie, weil sie besagte Oligarchen nirgendwo packen können, die Regierung, die sie für abhängig verbandelt mit denen halten«, erläutert er.
Ähnlich in anderen großen Städten, in Warna, Plowdiw, Burgas. Mit Trillerpfeifen und Sitzblockaden, mit Eier- und Gurkenwürfen gegen die vermeintlichen Schuldigen, mal Parolen skandierend, mal im Schweigemarsch. In Sofia hält ein junger Mann neben Tatjana Paskowa ein schon arg zerfranstes Pappschild mit der Aufschrift hoch: »Nicht nur Peewski ist ein Fehler, ihr alle seid der Fehler!«
Dieser Deljan Peewski brachte Mitte Juni gewissermaßen das Fass zum Überlaufen. Den hatte ein frisch vereidigtes, sozialistisch geführtes Kabinett der Volksversammlung als Chef der Agentur für nationale Sicherheit vorgeschlagen. Und die zuvor gewählte Volksversammlung, präziser: die Zweier-Regierungskoalition, die weitgehend auf die Schützenhilfe der rechtsextremen, rassistisch-nationalistischen Ataka-Partei (»Angriff«) angewiesen ist, hatte das diskussionslos abgenickt.
Dieser Deljan Peewski ist Fraktionsmitglied der Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS), der zweiten Regierungspartei. Ein feister 32-Jähriger, der es im Mediengeschäft an der Seite seiner Mama längst zum Multimillionär gebracht hat. Der als 24-Jähriger schon einmal als Vizeminister in eine Regierung protegiert worden war und damals sein Amt wegen Korruptionsvorwürfen niederlegen musste. Ein Typ wie dem »Styrschel« entsprungen, dem bulgarischen »Eulenspiegel«-Magazin, wenn es einen der mafiosen Neureichen als »Mutra« (Schnauzengesicht) karikiert. »Regierung und Parlament, die so einen zum Geheimdienstchef machen, haben sich unwiderruflich demaskiert«, sagt Tatjana Paskowa mit Blick auf das Plakat ihres Nebenmannes. »Ja, nicht nur dieser Peewski ist der Fehler, sondern die ganze korrupte politische Bande«, faucht sie.
Herrn Peewski hatten Parlament und Regierung übrigens bereits nach dem zweiten Protesttag wie eine heiße Kartoffel wieder fallen gelassen. Doch sie selbst werden so schnell wohl nicht fallen. Folgt man aktuellen Umfragen, wie der des Institutes Mediana, so meinen zwei Drittel der bulgarischen Wähler, dass die jetzigen Verantwortlichen an des Staates Spitze eine Chance bekommen sollten, und sie lehnen sofortige Neuwahlen ab. Andererseits antworten ebenfalls zwei Drittel, dass sie überhaupt nicht wählen gehen würden, weil zu wählen in diesem Land ohnehin nichts ändere.
»Das zielt zum einen darauf, dass keine der zwölf Regierungen seit 1990 (nie wurde bisher eine wiedergewählt! – d. A.) richtig etwas gepackt hat«, analysiert Dr. Awramow, »und zum anderen zielt es auf die unverändert schlimme sozialökonomische Lage im Land.« Bulgarien rangiert bei fast allen relevanten Kennziffern am EU-Ende. Der Kaufkraftindex liegt bei etwa 40 Prozent des EU-Durchschnitts. Nach der jüngsten Erhebung des bulgarischen Instituts für Marktwirtschaft wuchs in den letzten fünf Jahren nur eine Bevölkerungsschicht: Die größte und ärmste Schicht (45 Prozent der Haushalte) ist wieder um 200 000 Haushalte angewachsen.
Dies alles angesichts einer ganz dünnen, aber fetten Schicht von Leuten, Familien, denen es nach 1990 gelungen war, sich das von ihnen zuvor an führender Stelle häufig selbst verwaltete sozialistische Volks- als Privateigentum unter den Nagel zu reißen. Oder auch solchen, die als Strohmänner und -frauen für viel Schmiergeld einstiges Volkseigentum Österreichern, Deutschen, Russen zur Weiterverwertung zuschanzten: die südliche Schwarzmeerküste und die schönsten Gebirgsgegenden, die staatliche Versicherung, die Grundstoff- und Energiewirtschaft.
Leute mit Lebenswegen wie dem des kurzzeitigen Staatssicherheitschefs gelten in Bulgarien als exemplarisch für solcherart »Transformation«. Und als notorisch gilt ihre Verquickung mit der politischen Kaste, die so gesehen von rechts-nationalistisch bis links-demokratisch eigentlich keine Parteigrenzen kennt. Dass bei solchen Zuständen nie eine Revolte ausbrach, ist nur durch einen die meiste Lebensenergie fressenden, allgegenwärtigen, längst als normal empfundenen Armutsalltag zu erklären, in dem sich die Mehrheit gelähmt fügt.
»Dieser Staat lässt das Volk seit 20 Jahren dahindämmern und schert sich nicht um die daraus sprießende Saat, um Radikalismus, Nationalismus, Rassismus«, meint Gergana Traikowa, Lehrerin in Warna. Es sei geradezu erfrischend, wenn sich derzeit so viele junge Menschen aufraffen, Zivilcourage zu zeigen. »Dass sie dafür von Sozialisten wie von den Nationalisten als volksfeindlich beschimpft werden, liegt in der Logik unserer politischen Klasse.«
Auch in ihrer Stadt gibt es seit Wochen Demonstrationen. »Und auch bei uns sind manche Medien schnell dabei«, sagt die 36-Jährige, »uns als junge, unbeschwerte Leute hinzustellen, die per Smartphone und Tablets bloß ein bisschen Revolution spielen wollen.« Im Grunde genommen gehe sie aber gar nicht für sich, sondern für ihre beiden Kinder auf die Straße. »Ich habe es satt, seit über 20 Jahren in so einem korrupten Staat zu leben. Ich will nicht, dass meine Kinder das in 20 Jahren etwa auch noch müssen.« Wie zur Bestätigung summt sie fröhlich-trotzig diesen Titel der Rockgruppe »Faktor«, der zur bulgarischen Demohymne avanciert und dessen Refrain auf Deutsch sinngemäß lautet: »Da hilft alles nichts mehr, da müssen andere her!« Wie das gehen soll und wohin? »Fragen Sie mich was leichteres«, sagt die junge Lehrerin. »Jetzt ist erst einmal ein klarer, sauberer Schnitt nötig. Endlich.«
In Warna blockierten dieser Tage rund 10 000 Leute die Asparuchbrücke und den Hauptbahnhof. Das richtete sich gegen die beabsichtigte Privatisierung der staatlichen Eisenbahn. »Die neue Regierung ist flink, erste Almosen zu verteilen. Hier ein bisschen mehr Kindergeld, da ein bisschen mehr Rente, da niedrigere Strompreise für den Winter in Aussicht gestellt. Sicher alles nötig, doch dafür darf man nicht das Eigentum des Volkes verschleudern«, sagt Dan Radew, Student an der Hochschule für Ökonomie in Warna.
Töne wie diese aus den Reihen der Demonstranten werden von der Politik und einigen Medien recht gern als Beleg dafür zitiert, dass diese jugendlichen, städtischen Leute eigennützig, ohne Rücksicht auf die eigentlichen Nöte der Mehrheit im Land »auf Krawall« aus seien. Und dass sie sich instrumentalisieren ließen. Etwa von der im Mai abgewählten Regierung des Mitte-Rechts-Populisten Boiko Borissow (und deren ausländischen, besonders deutschen Freunden) gegen die Sozialisten, die nunmehr die stärkste Partei in der Koalitionsregierung stellen. Der 28-jährige Managementstudent Dan Radew weist das von sich. »Borissow gehört für mich in die gleiche Liga wie Peewski. Und Stanischew als Vorsitzender der Sozialisten ist nicht weit davon weg. Dass der sich jetzt sogar mit der nationalistischen Ataka eingelassen hat, halte ich für besonders ekelig«.
1990 lebten neun Millionen Bulgaren im Land, heute sind es nach Geburtenrückgang und Abwanderung von 800 000 der besten Jahrgänge noch 7,5 Millionen. »Wir wollen in Bulgarien bleiben!«, wird bei den Demos skandiert. Der »Styrschel«, um das Satiremagazin noch einmal zu zitieren, stellt in seiner jüngsten Ausgabe diesen Sprechchören eine Riege der neureichen Polit-Oligarchen gegenüber, die den Demonstranten grinsend entgegen hält: »Wir sind lieber auf den Malediven!«
* Aus: neues deutschland, Samstag, 13. Juli 2013
Zeichen stehen auf "Attacke"
Die neuen, feinen Partner der Sozialisten **
Die Bulgarische Kommunistische Partei (BKP) strich Ende 1990 über Nacht den Führungsanspruch aus ihrem Programm sowie aus der Verfassung, benannte sich in Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) um – und regierte weiter. Dank ihres Pragmatismus funktioniert sie seit 20 Jahren als parlamentarisches Stehaufmännchen. Gerade ist sie wieder mal an der Regierung. Um aber regierungsfähig zu sein, muss sie sich parlamentarisch von der »Ataka«-Fraktion helfen lassen.
Ataka (»Angriff«) kann man sich als spezifisch balkanische Mischung aus ungarischer Fidesz und Jobbik sowie deutscher NPD vorstellen: Bulgarien über alles, das vom »kolonialen Joch« befreit werden muss; EU-feindlich, aber auf EU-Geld erpicht; Türken, Roma und Juden verteufelnd, die sich »an Bulgariens Elend mästen«. Ein einstiges Ataka-Wahlkampfplakat zeigte, wie ein Ataka-Ritter einem Drachen Köpfe abschlägt. Ein Kopf gehörte Sergej Stanischew, dem BSP-Chef. Der hat sich nun mit Ataka-Chef Wolen Siderow auf die Tolerierung seiner Regierung eingelassen. »Uns hat das Volk als Korrektiv eingesetzt«, geriert sich Siderow, vor 1990 übrigens auch BKP-Mitglied, der eine 23-köpfige Fraktion, immerhin zehn Prozent der Parlamentssitze, hinter sich hat.
Der Mann ist gewiefter Demagoge und notorischer Rüpel. Mittlerweile lässt er sich aber nicht mehr nur unflätig über seine politischen Gegner und über Journalisten aus. Sondern er fährt für Bulgarien offiziell zu Wirtschaftsgesprächen nach Japan. Ja, er wurde mit BSP-Zustimmung sogar Vorsitzender des parlamentarischen Antikorruptionsausschusses.
Neuwahlen hasst er (momentan) übrigens wie der Teufel das Weihwasser. Denn in einer solch komfortablen Position, in die seine Partei jetzt durch die BSP-Führung geschoben wurde, war er noch nie. Die allerdings den Drachentöter im Ataka-Gewand nicht vergessen sollte.
Vor einem Jahr hat sich Ataka ein neues Wahlprogramm gegeben. Der »Plan Siderow« verspricht dem Volk den Himmel auf Erden. Mit der Realisierung hat man jetzt klein und subtil angefangen. Die Regierung lockerte auf Betreiben von Ataka das noch junge strikte Rauchverbot im Land. Rauch fürs Volk. Man sollte nicht lächeln. In Bulgarien qualmen fast 80 Prozent der über 16-Jährigen gern und viel.
Michael Müller
** Aus: neues deutschland, Samstag, 13. Juli 2013
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