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"Kein Wunder, daß die Bulgaren eine solche Wut haben"

Viele wollen von Parteien und Politikern nichts mehr wissen. Gespräch mit Margarita Mileva *


Margarita Mileva ist Vorsitzende der Partei »Die Bulgarische Linke« und Vorstandsmitglied der ­Europäischen Linkspartei.

Bulgarien ist schon jetzt der ärmste Staat in der EU, die Lebensverhältnisse der Menschen verschlechtern sich immer weiter. Am 12. Mai wird nun ein neues Parlament gewählt. Sehen Sie die Chance zu einer politischen Wende?

Da bin ich nicht sehr optimistisch. Wahrscheinlich wird keine Partei alleine eine Regierung bilden können, es dürfte also auf eine Koalition hinauslaufen. Wer sich da mit wem zusammentun könnte, ist schwer zu sagen, jedenfalls schließe ich keine Variante aus. Auch nicht die, daß die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) wieder in die Regierung kommt.

Die Nachfolgerin der früheren Kommunistischen Partei also …

Sie hatte sich 1989 umbenannt. Von 2004 bis 2009 war sie an der Regierung beteiligt, gemeinsam mit der Partei der türkischen Minderheit – das sind Liberale wie in Deutschland die FDP. Die BSP hat sogar vier Jahre lang mit den Monarchisten koaliert, das ist die Partei des sogenannten ehemaligen bulgarischen Zaren. Und für das Referendum, das am 26. Januar zur Atomenergie stattfand, hat sie gemeinsam mit einer faschistischen Partei Unterschriften gesammelt.

Seit der Privatisierung der Energieversorgung sind die Strompreise drastisch gestiegen, die Proteste dagegen nahmen schließlich ein solches Ausmaß an, daß Ministerpräsident Boiko Borissow am 21. Februar zurücktrat. Der Volkszorn richtete sich aber nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen das Parlament – also gegen Politiker schlechthin. Wie ist es dazu gekommen?

Nach der jüngsten Statistik leben 49 Prozent der Bulgaren in Armut. Die Proteste richteten sich anfangs gegen die hohen Strompreise, weiteten sich dann jedoch gegen das politische und wirtschaftliche System aus.

Das Mißtrauen gegen Politiker läßt sich wohl dadurch erklären, daß die Korruption in Bulgarien weit verbreitet ist. Keine Regierung, die nach 1989 an die Macht kam, hat etwas für das Land getan, alle haben nur für ihre eigenen Zwecke gearbeitet. Die Lage der Bevölkerung hat sich verschlechtert statt verbessert, fast alles wurde privatisiert, das Gesundheitssystem wurde ebenso vernichtet wie die Wirtschaft. Vor allem in den vergangenen vier Jahren wurden viele Krankenhäuser dichtgemacht und immer mehr Menschen von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Das Bildungssystem ist ebenso zusammengebrochen wie die wissenschaftliche Forschung, immer weniger Kinder aus armen Familien können zur Schule gehen oder gar ein Studium aufnehmen. Das trifft vor allem die Minderheiten, besonders die Roma, die völlig an den Rand der Gesellschaft gedrückt wurden.

Es ist also kein Wunder, daß meine Landsleute eine solche Wut auf Parteien, Regierung und Politiker haben.

Ihre Partei »Die Bulgarische Linke« hat sich von der BSP im Jahre 2008 abgespalten. Richtet sich die Wut auch auf sie?

Auch wenn diese Wut primär auf alle Parteien zielt, die an der Macht waren – indirekt werden natürlich auch wir davon erfaßt. Bei den Massenprotesten ist es z.B. untersagt, Parteifahnen oder Parteiabzeichen zu tragen, meine Genossinnen und Genossen können also nur als Privatpersonen teilnehmen. Die Organisatoren der Proteste wollten bisher nichts mit Parteien zu tun haben.

Allerdings deutet sich seit drei, vier Tagen eine leichte Änderung an: Die Protestbewegung hat sich gespalten, es haben sich zwei Strömungen gebildet, eine dritte steht vor der Gründung. Es ist die Rede davon, in Gesprächen mit Politikern zu sondieren, in welcher Form Aktivisten auf Parteilisten kandidieren können. Diese Überlegungen sind aber nicht unumstritten, und es ändert auch nichts an der Tatsache, daß Parteien bei den Protesten abgemeldet sind.

Das Durchschnittseinkommen beträgt laut EU-Statistik 130 Euro im Monat. Mittlerweile haben sich sechs Menschen aus Verzweiflung zu verbrennen versucht. Wie schaffen es die Menschen zu überleben?

Viele schaffen es nicht. Die Durchschnittsrente beträgt 74 Euro, laut Statistik haben 40 Prozent der Kinder nicht genug zu essen. Manch einer, der ohnehin schon bitter arm ist, steht vor dem Abgrund, wenn er plötzlich eine Stromrechnung über 100 oder mehr Euro bekommt.

Es gibt aber nicht nur diese Häufung von Selbstverbrennungen, auch die Zahl von Selbsttötungen auf andere Weise hat zugenommen. Es ist auch schon mehrfach vorgekommen, daß ein Vater seine ganze Familie und zum Schluß sich selbst erschossen hat.

Interview: Peter Wolter

* Aus: junge Welt, Montag, 25. März 2013


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