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Neuer Machtkampf an Bulgariens Horizont

Parlamentswahl bestätigte politischen Status quo

Von Tina Schiwatschewa, Sofia *

Die Bulgaren wählten am Sonntag ihre neue Nationalversammlung - zwei Monate vorfristig. Nicht weniger als 38 Parteien und sieben Wahlbündnisse drängten ins Parlament. Aber nur vier davon erhielten mehr als die erforderlichen vier Prozent der Stimmen - bei einer geringen Wahlbeteiligung von etwa 50 Prozent.

Die vier Parteien und Bündnisse, die ihre Mandatsträger in die 42. Nationalversammlung entsenden dürfen, stehen für die arg zerklüftete politische Landschaft Bulgariens. Wieder einmal zeigt sich eine deutliche Links-Rechts-Polarisierung. Die beiden stärksten Kräfte haben den Löwenanteil der Stimmen erhalten: auf der rechten Seite die Partei Bürger für die Europäische Entwicklung Bulgariens (GERB) unter Boiko Borissow, der bis Februar die Regierung führte, auf der linken die Koalition für Bulgarien, deren Flaggschiff die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) ist. Die beiden anderen Parlamentsparteien - die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) und Ataka - reflektieren eine weitere Kluft in der Gesellschaft, nämlich die »ethnische«. Während die DPS die Interessen der türkischen und muslimischen Minderheit zu vertreten beansprucht, ist Ataka eine nationalistische Rechtsaußenpartei.

Am Wahltag und unmittelbar danach sind es jedoch die nackten Zahlen, die interessieren. GERB - stolz auf enge Beziehungen zur bayrischen CSU, die sogar als »Hebamme« der bulgarischen Partei bezeichnet wird - beansprucht 30,71 Prozent der Stimmen für sich. Obwohl Massenproteste Premier Boiko Borissow und seine Regierung im Februar zum Rücktritt veranlasst hatten, erfreut sich GERB offenbar nach wie vor erheblichen Vertrauens in der Gesellschaft.

Die Sozialisten unter Sergej Stanischew, deren Bündnis auf 27,02 Prozent der Stimmen kam, waren bereits 2005 bis 2009 Hauptkraft einer Regierungskoalition, deren Herrschaftszeit der Bevölkerung durch Korruptionsskandale und eine neoliberale Wirtschaftspolitik - unter anderem die Einführung der Einheitssteuer (Flat-Tax) - in unliebsamer Erinnerung geblieben ist.

Die DPS erhielt diesmal 10,59 Prozent der Stimmen, Ataka landete bei 7,38 Prozent. Beide mussten im Vergleich zu den Wahlen 2009 Verluste hinnehmen.

Auch angesichts eines neuerlichen Skandals - einen Tag vor der Abstimmung waren 350 000 leere Wahlzettel in einer privaten Druckerei beschlagnahmt worden - ist niemand recht glücklich mit dem Wahlergebnis. GERB hat anscheinend einen Pyrrhussieg errungen: Mangels absoluter Mehrheit im Parlament wird sich die Borissow-Partei Koalitionspartner suchen müssen, um weiter regieren zu können. Ein Bündnis von GERB und BSP scheint jedoch undenkbar. Und zu den anderen beiden möglichen Partnern, der »Türkenpartei« und den Ultrarechten, unterhält GERB ebenfalls Beziehungen herzlicher Feindschaft. Vertreter der Partei spekulierten deshalb erneut auf eine Minderheitsregierung, wogegen die BSP jedoch bereits heftig protestiert.

Sollte dennoch eine GERB-geführte Regierung zustande kommen, wird sie der CSU-inspirierten Sparpolitik treu bleiben. Obwohl sich seit Jahresbeginn bereits sechs Menschen aus Protest gegen Armut und Hoffnungslosigkeit in Flammen gesetzt haben. Vier davon starben. Iwan Genow, Kovorsitzender der Bulgarischen Linken, schätzte im »nd«-Gespräch ein, dass die Wahlen den politischen Status quo reproduziert haben. Das Ergebnis sei insbesondere verstörend in Bezug auf die Legitimität einer möglichen Koalitionsregierung: Nur die Hälfte der Wahlberechtigten hat sich beteiligt und 25 Prozent derer, die abgestimmt haben, bleiben ohne Vertretung im Parlament. Besorgt angesichts des Mangels an Vertrauen, bekräftigte Genow die Notwendigkeit einer authentischen linken Partei.

Vorerst zeichnet sich ein Machtkampf am politischen Horizont Bulgariens ab. Wie will ein Parlament mit vier einander bekämpfenden Parteien eine Lösung für die akute soziale und ökonomische Krise finden?

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 14. Mai 2013


Augen zu und durch

Wahl in Bulgarien von Manipulationsvorwürfen überschattet. Annullierung unwahrscheinlich. Koalition von Sozialdemokraten und Faschisten?

Von Janeta Mileva **


Ein versuchter Betrug überschattet den Ausgang der Wahlen vom Sonntag in Bulgarien. Am vergangenen Freitag hatte die Staatsanwaltschaft 350000 gefälschte Stimmzettel beschlagnahmt. Verantwortlich für die Manipulation ist offenbar die bisher regierende rechtspopulistische Partei GERB, die ebenso wie die deutsche CDU Mitglied der Europäischen Volkspartei ist. Medienberichten zufolge hatte sie insgesamt 700000 gefälschte Stimmzettel anfertigen lassen. Da nur die Hälfte davon sichergestellt werden konnte, ist unklar, wie viele der restlichen Stimmzettel »untergebracht« werden konnten. 46 Ermittlungsverfahren wegen des Stimmenkaufs wurden eingeleitet. Im Vorfeld hatten laut Umfragen zwölf Prozent der Wahlberechtigten im ärmsten Land der Europäischen Union erklärt, daß sie bereit wären, ihre Stimme zu verkaufen. Trotzdem zeichnet sich ab, daß die anderen europäischen Staaten diese Wahl anerkennen werden. Was nicht sein darf, kann es auch nicht geben: In einem Land der EU werden Wahlen gefälscht und Regierungen über Geld ins Amt gebracht.

Von den mehr als 40 angetretenen Parteien und Koalitionen werden im neuen Parlament nur vier vertreten sein. Die meisten Stimmen erhielt mit 31 Prozent die GERB. Auf die Bulgarische Sozialistischen Partei (BSP), die unter den Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei Europas zum rechten Flügel zählt, entfielen 27 Prozent. Für die Partei der türkischen Minderheit in Bulgarien, DPS, votierten neun Prozent. Als viertstärkste Kraft zieht mit 7,6 Prozent die faschistischen Ataka wieder in das Parlament ein. Die anderen Kräfte, auch solche, die aus den Protesten der vergangenen Monate hervorgegangen waren, sind zumindest offiziell an der Vierprozenthürde gescheitert. Die Bulgarische Linke erreichte offiziell 0,17 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag mit nur knapp über 50 Prozent niedriger als erwartet.

Die vorgezogenen Parlamentswahlen waren notwendig geworden, nachdem die von der GERB geführte Regierung nach mehr als zwei Monate andauernden sozialen Massenprotesten gegen Armut und das korrupte politische System zurückgetreten war. Mit Protesten ist auch der Wahltag zu Ende gegangen: 300 Menschen sammelten sich kurz nach der Schließung der Wahllokale vor dem Kulturpalast in Sofia, wo eine Pressekonferenz mit Vertretern der künftig im Parlament vertretenen Parteien beginnen sollte. Allerdings fehlten dort die meisten von ihnen – lediglich Vertreter der Ataka waren vor Ort. Statt dessen meldeten sich die Protestierenden zu Wort. Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die mit Eiern, Stöcken, Steinen und brennenden Fackeln beworfen wurde, nahmen die Demonstranten am Tisch vor den Medien Platz und forderten die Annullierung der Wahl.

Da keine der Parteien über eine parlamentarische Mehrheit verfügt, kann die Bildung einer neuen Regierung nur durch Koalitionen gelingen. Eine Bündnis von GERB und Ataka scheint unwahrscheinlich und wurde von letzterer bereits ausgeschlossen. Die Partei der türkischen Minderheit erklärte, daß sie sich die GERB nicht als Koalitionspartner vorstellen könne. Auch eine Allianz von GERB und BSP wurde von beiden Seiten für unmöglich erklärt. Am Wahlabend schloß die BSP deshalb ein Zusammengehen mit der DPS und den Ataka-Faschisten nicht aus. Ein Vertreter der Sozialisten begründete dies damit, daß seine Partei so zum »Zentrum zwischen zwei unterschiedlichen Nationalismen« werden könne. Eine weitere Möglichkeit ist die Einsetzung einer von allen Fraktionen unterstützten »Expertenregierung«.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 14. Mai 2013


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