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Durch den Tunnel an die Macht

In Bulgarien nimmt ein starker Mann aus Sofia zielstrebig Kurs auf die große Politik

Von Michael Müller, Sofia *

Alljährlich rücken in Bulgarien alle Menschen über alle sozialen Klüfte hinweg für zwei, drei Wochen ganz eng zusammen. Gefühlsmäßig und optisch. Vom 1. März an tragen Jung und Alt die Martenizi an Mantel, Jacke oder Mütze, zwei rotweiße Püppchen, pisho und penda. Beide verschwinden aus dem Stadt- und Landbild wieder, wenn der Frühling richtig beginnt.

»Ein Gruß an Baba Marta (Mütterchen März) ist das, und Hoffnung darauf, dass sie aus dem Jahr was Gutes macht«, sagt Krassimira Petrowa (36), die ihre Marteniza vor ihrer Joggingrunde gerade in einen Strauch am Borissow Gradina hängt. Doch auch die jüngere Geschichte dieses größten Sofioter Parks erinnert daran, dass sich manche Baba-Marta-Hoffnung als trügerisch erweisen kann. Zu »kommunistischen Zeiten«, wie man heute in Bulgarien die Ära nennt, die damals offiziell Volksdemokratie hieß, war das der Park der Freiheit. Nun heißt er nach Zar Boris. Wer schon hatte sich das einst gewünscht?

Armenhaus der Europäischen Union

Das jährliche Frühlingssehnen geht also gerade zu Ende. Das große menschliche Sehnen indes bleibt. Seit 1990 ist Bulgarien wieder eines der ärmsten Länder Europas. Auch in der EU, der es seit 2007 angehört, steht es in vielen sozialen und ökonomischen Basiswerten an letzter Stelle. Trotz trügerischer relativer Wachstumszahlen der letzten zwei Jahre.

Der absolute Kaufkraftstandard liegt, wie das Wirtschaftsblatt »Klassa« schrieb, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt bei nur einem Drittel des EU-Durchschnitts. Das hieße vergleichsweise, man müsste sein Leben in Deutschland mit einem Drittel der bisherigen Monatseinkünfte meistern. Ob als Angestellter oder Rentner, als Arbeiter oder Arbeitsloser.

Tschawdar Slawow (53) muss sich sein Brot in Sofia direkt an der Straße verdienen. Bei Wind und Wetter bieten er und seine Kollegen am Bordstein des Boulevards Makedonia ihre bloße Arbeitskraft für Umzüge oder sonstige Transporte an. Ihr Kennzeichen ist der über die Schulter geworfene Tragegurt. Der Preis wird jeweils verhandelt. »Das ist eine schwere Arbeit. Aber du bist froh, wenn du überhaupt einen Auftrag schnappst«, sagt Slawow. Bei 350 Lewa (etwa 180 Euro) wäre ein Monat ein sehr guter. Oft ist es weniger. Seit sechs Jahren bringe er seine Familie so durch. Manchmal auch mit Hunger, erzählt er. »Damals 'bei Shiwkow' (dem Partei- und Staatschef vor 1990) war ich ja auch nicht reich«, sagt der gelernte Installateur, »aber wie ein Hund hier an der Straße musste ich nicht stehen.« Die Hand, die er zum Abschied reicht, ist knochenhart, mit Fingern, deren Nägel alle mal zerquetscht waren.

Nur zehn Minuten Fußweg sind es von hier zum Boulevard Witoscha, der Sofioter Flanier- und Einkaufsmeile. Die Fingernägel von Biljana Nikolowa (26) sind lang und dunkelgrau lackiert. Sie verkauft in einer Boutique exquisites Lederzeug. Handtaschen um die 800 Lewa, Gürtel um die 300. Im Laden ist es zwar sehr warm, dennoch scheinen das ärmellose, tief ausgeschnittene Top und die hot pants zu kniehohen Stilettostiefeln etwas deplatziert. »Mein Chef will das so. Schließlich sind meist die Männer die bezahlenden Kunden, auch wenn sie in Begleitung kommen«, erläutert sie die Geschäftsphilosophie. Zu der gehört in diesem Areal auch, dass die Tageskasse allabendlich von dunkel gekleideten jungen Männern, die dunkel glänzende Geländewagen mit dunkelgetönten Scheiben fahren, abgeholt wird.

Auf den letzten Modeschrei stößt man in Sofia übrigens oft, auf Bettler oder Zigeuner kaum. Für Letzteres sorgt auf ganz konventionelle Art Boiko Borissow (49), der seit 2005 Bürgermeister ist und der zu »kommunistischen Zeiten« Sicherheitsoffizier im Innenministerium war. Eine Karriere, die er, bis er in die Politik ging, nach 1990 nahtlos fortsetzen konnte.

Borissows unbestreitbares Verdienst ist es, das ausufernde Sofia lebensfähig zu halten und nicht in Müll und Schlaglöchern versinken zu lassen. Die Stadt zählt inzwischen über zwei Millionen Einwohner (von insgesamt 7,5 Millionen im ganzen Land), und der Bürgermeister verfügt nur über ein operatives Jahresbudget von rund einer Milliarde Lewa (um die 500 Millionen Euro). Berlin hat bei 3,5 Millionen Einwohnern vergleichsweise einen Etat von 20 Milliarden Euro.

Mit seinem Image des Machers schmückt Borissow zunehmend auch seine resolut rechtspopulistische Partei GERB, der er vorsitzt. Und er lässt überdies keine Medienchance aus, sich mit Blick auf die Wahlen in diesem Sommer sogar als der neue starke Mann Bulgariens zu empfehlen.

Zwei »Todfeinde« in einem Boot

Dieser personifizierten hauptstädtischen Macht des Faktischen kann sich inzwischen auch die sozialistische BSP nicht mehr verschließen. Sie ist die stärkste Kraft in der derzeitigen Dreierkoalition mit der »Königspartei« (der Nationalen Bewegung Simeon II.) und der »Türkenpartei« DPS (Bewegung für Rechte und Freiheit). Jüngst folgte Premier Sergej Stanischew sogar Borissows Einladung zur Eröffnung einer neuen U-Bahn-Linie. Es war überhaupt das erste öffentliche Zusammentreffen der politischen Gegner. Zwar traten beide in Jeans und Lederjacke auf, nicht mit Schlips und Kragen. Aber für Borissow war es bereits wie eine Tunnelfahrt zur Macht.

Die Medien nahmen das geradezu aufatmend zur Kenntnis. Selbst Zeitungen, die jahrelang die »Todfeindschaft« der Parteien beschworen, nennen die beiden in Schlagzeilen nur noch beim Vornamen: »Sergej und Boiko schon in einem Boot« (Trud), »Sergej und Boiko erstmals eine halbe Stunden zusammen« (24 Tschassa).

Borissow ist ein universitär sicherheitsdienstlich geschulter und promovierter Pragmatiker. Doch er hat auch unbedachte Momente. Was er beispielsweise politisch dümmlich von Rentnern und sozial Schwachen hält (»blöd, nostalgisch, kein gutes Wahlmaterial«) verriet er jüngst bei einem Forum mit Auslandsbulgaren im fernen Chicago, was die linke Tageszeitung »Duma« dokumentierte. Doch obwohl er sich auch gern als ewiger Antikommunist und »schärfster Feind der Sozialisten« geriert, sehen Beobachter bereits ein künftiges Regierungsbündnis heraufziehen. Expremier Dimityr Popow hielt das beispielsweise in einem Interview des liberalen »Standart« für geradezu erforderlich, wenn es »im Namen des Staatswohls und des Volkswohls« geschieht.

Natürlich stößt der Sofioter Bürgermeister, ob seiner Statur und Karatevergangenheit ein bisschen so etwas wie ein balkanesischer Schwarzenegger, auch auf Vorbehalte. Ein weiterer starker Mann, der rechtsradikale Wolen Siderow, lässt Boiko Borissow allerdings geradezu als liberalen Hoffnungsträger erscheinen. Siderows Partei ATAKA kämpft vor allem mit nationalistischem Gedöns und militantem Türkenhass.

Politische Zeichen der Zeit?

Die Wirkung dieser Parolen sollte man nicht unterschätzen. Siderow kam 2006 bis in die Präsidentschaftsstichwahl. Zwar unterlag er Amtsinhaber Georgi Parwanow klar, erhielt aber immerhin 27 Prozent der Stimmen. »Wir sind die einzige politische Kraft im Land, die den Sozialisten, der größten türkischen Mafia, die Stirn bietet«, versprach er jüngst erst wieder unter Dauer-Hurrarufen tausender Anhänger in Sofia. Ein Riesenplakat zeigte, wie er als Drachentöter den Chefs der Regierungskoalition die Köpfe abschlägt. Viele seiner Mitläufer trugen das Zeichen der einstigen Monarchofaschisten an Mütze und Jacke.

Solche politischen Zeichen in der Öffentlichkeit sind nirgendwo nur den Sympathien einer Minderheit geschuldet, sondern stets auch der Ignoranz einer schweigenden Mehrheit. Selbst bei den zahlreichen mit Hakenkreuzen beschmierten Sofioter Wänden weiß man deshalb nicht genau, woran man ist. Eines prangt seit Monaten am Eingang zur Redaktion der Armeezeitung »Bulgarska Armija«. Ein etwa 50-Jähriger im Majorsrang, der das Haus verlässt, ignoriert erst die entsprechende Reporterfrage, macht dann aber kehrt und fragt: »Koi ste i ot kyde?« (Wer sind Sie und woher) -- »Journalist aus Deutschland.« -- »Dann kümmern Sie sich besser um Ihre Nazis. Wir haben hier andere Sorgen als beschmierte Wände.«

* Aus: Neues Deutschland, 31. März 2009


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