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Noch brennt etwas Licht

Bulgarien: Überlässt neuer starker Mann den Kurs nur dem Wind?

Von Michael Müller, Sofia *

Bulgarien hat seit Montag eine neue Regierung - was eigentlich nichts so Besonderes ist. Immerhin wechselten die Ministerpräsidenten seit Februar 1990 durchschnittlich alle 20 Monate. Dabei hat es nie ein Kabinett geschafft, wiedergewählt zu werden. Allerdings gab es auch noch keinen Regierungschef, der, wie der neueste, statt auf Programm so sehr auf Populismus setzte.

Es ist sengend heiß in Sofia. Die, die wie immer arbeiten müssen, schalten in südosteuropäischer Manier auf den entspannten Potschiwka-, sprich: Erholungsgang zurück. Die, die es sich leisten können, fahren wie üblich ans Meer oder in die Berge. Und nun kommt das wirklich Ungewöhnliche des Sofioter Sommers 2009: Etliche von jenen, die es sich sonst gut leisten konnten, harren tatsächlich in der Stadt aus.

Neue Macht macht keinen Urlaub

Noch um 22 Uhr brennt am Nesawissimo-Platz beim Ministerpräsidenten Licht über mehrere Etagen. Ebenso ein paar Querstraßen weiter, wo das Innenressort beheimatet ist, auch auf der anderen Seite des Stadtzentrums im Verteidigungsministerium. Am Narodno-Sybranie-Platz herrscht im Parlamentsgebäude reges Kommen und Gehen. Lytschesar Iwanow (42), Vizepräsident der Volksversammlung, gegenüber ND: »Unsere Minister müssen ihre Kabinette organisieren, unsere Abgeordneten umgehend an Gesetzesinitiativen gehen. Urlaub ist nicht.«

Wenn Dr. Iwanow »wir« sagt, dann steht das für GERB. Das ist die erst zwei Jahre alte, irgendwo mitte-rechts stehende, ideologielose Sammlungspartei Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens. Sie hatte bei den bulgarischen Parlamentswahlen am 5. Juli knapp 40 Prozent der Wählerstimmen und damit 116 von 240 Parlamentssitzen erhalten - agiert allerdings dieser Tage so, als hätte sie 200 Prozent erzielt. Und droht schon mit Neuwahlen, wenn die paar rechten Kleinen im Parlament, die sie zur Tolerierung ihrer Einparteienregierung braucht, aufmucken sollten.

Dafür steht ihr Frontmann Boiko Borissow (50), bisher Bürgermeister von Sofia und nunmehr als elfter bulgarischer Ministerpräsident seit 1990 vereidigt. Wie er die jüngsten Wahlen gewonnen hat? »Ganz einfach«, sagt Aleksandyr Karakatschanow (47), Vorsitzender der Grünen Partei /Bulgarische Grüne, gegenüber ND. »Er hat den Wählern einfach alles versprochen, was sie sich seit Jahren wünschen. Man sollte es nicht glauben, aber das hat geklappt.«

Am Montag dieser Woche (27. Juli) drehte Borissow an der Gebetsmühle auch bei seiner Regierungserklärung weiter: höhere Einkommen, wachsende Wirtschaftskraft, Kampf gegen Korruption, soziale Sicherheit, moderne europäische Bildung für alle ... Kein konkretes Wort. Es gilt einfach weiter die GERB-Wahlkampfdevise: »Wir beweisen, dass (es) Bulgarien kann!« Selbst der konservative »Standard« mutmaßt: »Da sind Leute am Steuer, die den Kurs dem Wind überlassen.«

»Momentan sind erst mal nur die Ämter zu ungewohnter Jahres- und Tageszeit irgendwie in Betrieb«, kommentiert Gawril Bogdanow die »Im-Kreml-brennt- noch-Licht«-Aktion der neuen Regierungspartei. »Ich denke nicht, dass da außer Aktionismus viel dahinter steckt«, fügt der seit drei Jahren arbeitslose Textilingenieur hinzu, den wir zwischen zwei seiner vielen täglichen Schachpartien im Park vor dem Iwan-Wasow-Theater treffen. »GERB hat gewonnen, weil die Bulgaren in ihrer Verzweiflung jeder neuen Fahne hinterherrennen.« Der Frage, ob denn er die Partei nicht gewählt habe, weicht der Mittfünfziger aus. »Die Sozialisten hatten doch völlig abgewirtschaftet«, verweist er auf die Wahlverlierer, die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP).

»Geändert haben sich Personen und Parteien. Hoffentlich bleibt es vorerst dabei und wird nicht schlimmer«, meint Boris Borissow (26), Basisaktivist der bulgarischen Sozialisten. Mit letzterer Bemerkung zielt er auf eine Gefahr, die heute in Bulgarien mancher hinter dem bloßen hemdsärmeligen »Hoppla-jetzt-kommen-wir«-Auftritt von GERB heraufziehen sieht: mehr Dirigismus, mehr Indoktrination, gar ein Angriff auf die Verfassung, um die parlamentarische in eine Präsidialdemokratie umzuwandeln - natürlich mit Boiko Borissow an der Spitze.

Linker Sozialistenflügel wittert Morgenluft

Sein Namensvetter Boris Borissow, der junge Doktorand an der Sofioter Uni, gehört dem linken BSP-Flügel an, und er lässt wenig Gutes am bisherigen von seiner Partei gestellten Premier Sergej Stanischew. »Das war eine rechts-sozialdemokratische, vom Volk völlig abgehobene Politik, die in den letzten Jahren gemacht worden ist«, sagt er. »Angefangen vom Engagement im Irakkrieg auf Seiten der USA bis zur Unfähigkeit oder Unwilligkeit, wirksam gegen Korruption vorzugehen.«

Natürlich wittert der linke Flügel der BSP nun Morgenluft nach dem eklatanten Fall der Partei von vormals 31 auf nur noch ganze 17,7 Prozent. Er fordert, dass für den bevorstehenden Parteitag neue Delegierte gewählt werden. Als eine realistische Spitzenpersonalie wird das BSP-Vorstandsmitglied Tatjana Dontschewa gehandelt. In der Tageszeitung »Trud« geht die 52-Jährige selbstbewusst in die Offensive. »Ich bin seit Jahren eine Alternative. Egal, ob das jemand wahr haben will oder auch befürchtet.« Allerdings ist nicht anzunehmen, dass die alte sozialistische Führung widerstandslos aufgibt. Laut der der BSP nahe stehenden »Duma« will vor allem auch die mittlere Führungsebene an Stanischew und Co. festhalten.

Die neuen bulgarischen Mächtigen von der GERB betrachten das interne Gerangel bei den ehemals Regierenden mit mitleidigem Lächeln - und gießen ihrerseits Öl ins Feuer, indem sie eine genaue Untersuchung der sozialistischen Regierungsgeschäfte in den letzten sechs Monaten ankündigen. Die aktuelle Verurteilung von Fidel Beew, Ex-Parlamentsabgeordneter der Bewegung für Bürgerrechte und Freiheiten (DPS), dem einstigen Koalitionspartner der Sozialisten, zu dreieinhalb Jahren Haft wegen diverser Betrügereien passt der neue Regierung ins Konzept. GERB schob dieser Tage sogar eine Debatte darüber an, ob eine Immunität von Parlamentsabgeordneten angesichts der stringenten EU-Maßgaben für den bulgarischen Anti-Korruptionskampf überhaupt noch zeitgemäß sei.

Diskutiert wird indes mit gleicher Heftigkeit die Frage, warum im Parlamentsrestaurant die Kjufte (eine Art Frikadelle) nur 35 Stotinki (etwa 50 Cent) kostet und man draußen sogar am Straßenkiosk schon mehr als das Doppelte zu berappen hat. Das mag kleinlich erscheinen. Doch im ärmsten Land der EU, bei einem Monatsdurchschnittsverdienst von umgerechnet knapp 300 Euro, kann das die Leute schon auf die Palme bringen.

»Gott hat mir in der schwersten Zeit Bulgariens die Mehrheit beschert«, stellt sich der neue Premier im Interview mit der Zeitung »24 Tschad« ein Selbstzeugnis besonderer Art aus. Das klingt sogar für einen zum militanten Antikommunisten gewandelten ehemaligen Innenministeriums-Karrieristen im Dienste der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) ziemlich abgedreht. Doch man sollte Boiko Borissow und seine GERB-Partei nicht unterschätzen. Da gibt es einige hilfreiche Hintermänner und -frauen. Zu denen gehört weit vorn die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Borissow ist erklärter Fan von ihr. Seine erste Auslandsreise nach der Wahl führte ihn nach Deutschland. Am Rande des kürzlichen CSU-Parteitages soll ihm Frau Merkel weitere Unterstützung zugesichert haben.

Die gibt es bereits jahrelang durch zwei den Unionsparteien nahe stehenden Stiftungen. Politologen wie Gergana Jowkowa von der Uni Plowdiw meinen, dass Borissow und GERB von CSU und CDU gezielt aufgebaut worden seien. Vor Ort in Bulgarien sowie im europäischen Schulungszentrum Villa La Collina im italienischen Cadennabia am Comer See. Wobei es momentan außenpolitisch etwas heikel ist, mit GERB richtig Staat zu machen, da deren Einparteienregierung im Parlament auch auf die Tolerierung durch die nationalistische, Türken hassende Ataka-Partei angewiesen ist.

Frauen in Funktionen, feiner Zwirn statt Jeans

Doch GERB ist bei allem Populismus durchaus innovativ - und stimmt manchen zumindest punktuell weiter hoffnungsvoll. So baut der Grünen-Vorsitzende Alexandyr Karakatschanow weiter darauf, dass die Verschleuderung staatlichen Waldeigentums an private Spekulanten gestoppt wird. Tatjana Kmetowa vom Zentrum für Frauenforschung und -politik verweist gegenüber ND darauf, dass es nun - und zwar erstmalig für Bulgarien nach 1990 - nicht nur eine Parlamentspräsidentin gibt, sondern auch vier Ministerinnen (Äußeres, Recht, Bildung, Umwelt). Und Geografielehrer Georgi Popow, der an einem Sofioter Gymnasium auch Sport gibt, freut sich, dass, wie vom passionierten Karatekämpfer Boiko Borissow im Wahlkampf versprochen, das neue Sport-Ministerium eingerichtet wurde. Natürlich wird sich auch der Premier künftig etwas weniger prollig und ruppig geben. Statt mit Lederjacke und Jeans wie zu seiner Bürgermeisterzeit, taucht er schon jetzt - wohl vor allem als Verbeugung vor der EU-Szenerie - nur noch in dunklem Zwirn auf.

Derzeit brennt also nicht nur in den Behörden in Sofia zu ungewohnter Jahres- und Tageszeit Licht. Es flackert auch noch Hoffnung. Dahingehend sind die Bulgaren zu bedauern wie zu bewundern: Wenn es mit Boiko Borissow nicht klappen sollte, wählen sie sich eben demnächst wieder einen Neuen. Parlamentarische Demokratie als bulgarisches Roulett.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Juli 2009


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