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Die lange Nacht von Sofia

2000 Demonstranten blockierten 100 Politiker im bulgarischen Parlament

Von Denis Grigorescu, Bukarest *

Demonstranten in der bulgarischen Hauptstadt Sofia haben mehr als 100 Abgeordnete und Minister über Stunden im Parlament festgehalten und die Polizei zurückgedrängt. Der Parlamentspräsident wirft der Opposition vor, die Blockade inszeniert zu haben.

Die seit gut einem Monat in Bulgarien anhaltenden Proteste sind eskaliert. Die Demonstrationen gegen die Regierung von Ministerpräsident Plamen Orescharski entluden sich Dienstagnacht in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei und einer Blockade des bulgarischen Parlaments. Am Mittwoch blieben die Parlamentarier ihrem Arbeitsplatz daher fern.

Die nächtliche Blockade des Parlaments sei von »unverantwortlichen Politikern« inszeniert worden, erklärte Parlamentspräsident Mihail Mikow am Mittwoch. »Die Abgeordneten sind nicht gewählt worden, um ihre Arbeit unter Gefahr zu verrichten. Daher habe ich sie aufgefordert, zu Hause zu bleiben«, erklärte Mikow und ergänzte, es werde immer schwieriger, Lösungen im Einklang mit der Verfassung zu finden.

Die Oppositions- und ehemalige Regierungspartei Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens (GERB) forderte umgehend den Rücktritt Mikows, da er nicht die Befugnis habe, eine Parlamentssitzung abzusagen. Die konservative GERB, die die größte Fraktion stellt, hatte zuvor wochenlang die Arbeit des Parlaments boykottiert.

Die Proteste in der Nacht zum Mittwoch konnten erst von einer Polizeisondereinheit beendet werden. Minister, Abgeordnete und Journalisten befanden sich im Parlamentsgebäude, als es von rund 2000 Demonstranten umstellt wurde. Zehn Stunden lang konnten sie es nicht verlassen, was schließlich zu den ersten Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Polizei seit Beginn der Proteste vor 40 Tagen führte.

Auslöser war eine Debatte im Parlament über die Aufnahme von zusätzlichen Staatsschulden in Höhe von 500 Millionen Lew (250 Millionen Euro) und eine Ausweitung der Schuldengrenze um eine Milliarde Lew. Tausende Demonstranten skandierten »Mafia« und stellten Rücktrittsforderungen. Schließlich umstellten sie das Gebäude und weigerten sich, rund 100 Personen herauszulassen.

Als die Polizei gegen 22 Uhr in einem Bus Finanz-, Arbeits- und Wirtschaftsminister sowie weitere Personen abtransportieren wollte, versperrten die Demonstranten den Weg und zerschlugen die Scheiben des Busses. Trotz Anwendung von Gewalt durch die Polizei setzten sich die Protestierenden durch. Die Politiker mussten im Gebäude bleiben, die Demonstranten verbarrikadierten die Wege mit Mülleimern, Verkehrsschildern und Pflastersteinen. Erst um fünf Uhr am Mittwochmorgen gelang es den Eingesperrten, das Gebäude zu verlassen.

Die Alternative seien sofortige Neuwahlen, erklärte am Mittwoch der GERB-Chef und ehemalige Ministerpräsident Bojko Borissow im bulgarischen Fernsehen. »Ich bin sicher, dass die Demonstranten nach Hause gehen, wenn wir erst einmal einen Termin für baldige Wahlen haben«, ergänzte Borissow, der erst im Februar unter Protesten aus der Bevölkerung zurückgetreten war.

Ausgelöst wurde die jüngste Protestwelle durch die Ernennung des Medienunternehmers Deljan Peewski zum Leiter der Nationalen Sicherheitsbehörde. Auch nachdem die Entscheidung zurückgenommen worden war, gingen die Demonstrationen weiter und es wurde der Rücktritt der Regierung gefordert.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 25. Juli 2013


Geiselnahme in Sofia

Von Detlef D. Pries **

Die Demokratie kann so nicht funktionieren«, klagte EU-Justizkommissarin Viviane Reding am Dienstag bei einem Besuch in Sofia. Sie hatte die endlosen Vorherrschaftskämpfe der Parteien im Sinn und stellte sich hinter die Protestierenden, die täglich den Rücktritt der gerade erst gebildeten Regierung fordern. Was Frau Reding nicht beabsichtigt hatte: Die Demonstranten umzingelten prompt die Nationalversammlung und machten mehr als 100 Abgeordnete, Minister und Angestellte eine Nacht lang zu ihren Geiseln.

Linksanarchisten oder Verfechter eines rechten Projekts? Darüber streitet man noch. Im Laufe zweier Jahrzehnte haben die Bulgaren allen möglichen Parteien Gelegenheit gegeben, das Land zu »transformieren«: antikommunistischen »Demokraten« und zu Sozialdemokraten gewendeten Kommunisten, dem früheren Zaren Simeon und dessen vormaligem Leibwächter Borissow. Alle gaben vor, nur Bulgariens Wohl und das seiner Bürger im Sinn zu haben. Derweil wuchs die soziale Kluft ungebremst: Während jeder fünfte Bulgare in Armut lebt, bereichern sich andere maßlos. Keine der bisherigen Regierungen hat ernsthaft daran gerührt, und die neue – die in der Tat denkbar schlecht begonnen hat – soll gar nicht erst eine Chance bekommen. Derzeit reibt sich die Rechte die Hände und fordert Neuwahlen. Doch die meisten Bulgaren haben kein Vertrauen mehr in die Parteiendemokratie, zumal keine politische Kraft sichtbar ist, die eine wahrhaft demokratische Wende bewirken könnte.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 25. Juli 2013 (Kommentar)


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