In der Zentrale der Medienguerilla
Die "Mídia Ninjas" berichten von den WM-Protesten – mit gemischten Gefühlen. Ein Besuch
Von Jirka Grahl, Rio de Janeiro *
Viel Platz braucht Brasiliens Revolution nicht. Drei winzige Schlafzimmer, eine Wohnküche und ein Bad. Hauptsache das Breitbandinternet funktioniert. Im ersten Stock eines Eckhauses an der Avenida Pasteur in Rio de Janeiros gutbürgerlichem Stadtteil Botafogo lebt und arbeitet die örtliche Gruppe der Mídia Ninja, jener Medienguerilla, die seit 2013 die aufregendsten Bilder der brasilianischen Proteste in alle Welt verbreitet.
Wenn die internationale Presse an der Tür von Appartement 203 klingelt, öffnet meist Felipe Altenfelder. Felipe ist 29, stammt aus einer Kleinstadt nahe São Paulo, und spricht ein Englisch voll hochfahrender Vokabeln, mit singendem portugiesischen Akzent. »Guardian«, »Liberation«, viele waren schon da, morgen will die »BBC« vorbeikommen. Felipe ist längst eines der Gesichter dieses Medienkollektivs, das eigentlich niemanden in den Vordergrund rücken will.
»Komm rein, Mann!«, sagt er und führt den Besuch in die Wohnküche. Ein großer Esstisch, viele Stühle, ein Sofa, ein Riesenfernseher. Am Tisch sitzen vier junge Leute und tippen etwas in ihre Laptops ein, auf dem Sofa sitzt einer und schaut sich die Liveübertragung aus dem Parlament an. Nebenan unterhalten sich drei junge Frauen auf Spanisch vor einem iMac. Eine Tür weiter schläft gerade jemand. »So voll ist es hier sonst nicht«, sagt Felipe. »Aber wegen der Copa haben wir so viel zu tun. Und alle wollen mitmachen. Die drei Mädchen zum Beispiel stammen aus Peru, Argentinien und Uruguay. Sonst sind wir nur zu fünft hier.«.
An der Wand des Ninja-Headquarters hängt ein selbstgebastelter Spielplan der WM: Alle 64 Spiele, dahinter das Resultat. Ist das ein Einsatzplan für die Demos, oder eine Information, wer grad wo im Turnier steht? Felipe lacht: »Beides: Am Anfang der WM waren es ja so viele Spiele, dass wir den Überblick behalten mussten. Aber natürlich wollen wir auch wissen, wer wie gespielt hat. Wir sind Brasilianer, Mann.«
In ihrem Selbstbild sind die Mídia Ninja keine politische Gruppierung, sondern eher eine Gegenöffentlichkeit gegen Brasiliens stramm rechtsgerichte Medien, die fast komplett in der Hand der sieben einflussreichsten Familien sind. Sie sind keine Umstürzler, sondern Hüter der Demokratie. Mehr als 2000 Ninjas in 200 Städten fotografieren oder filmen bei Demos, Streiks oder sozialen Protesten. Sie twittern und berichten auf Facebook. Oft gleich live als Stream im Internet.
Ihren großen Moment hatte Mídia Ninja 2013, als eine Million Menschen auf den Straßen für Verbesserungen in Bildung, Nahverkehr und Gesundheitssystem demonstrierten. »Die Leute kamen von den Demos nach Hause, und was sahen sie im Fernsehen? Aufnahmen der Massen aus dem Helikopter, dazu die Stimme eines Moderators aus einem Hunderte Kilometer entfernten Studio, der ihnen sagte, dort unten seien nur Verrückte und Vandalen unterwegs«, sagt Felipe. »Aber jetzt lass uns mal einen Kaffee trinken gehen!«
Felipe führt uns hinaus in die benachbarte Boteco, bestellt zwei Café com leite. Auch gut, mal raus zu kommmen! Er wählt einen Platz mit gutem Blick auf den Fernseher, der unter der Decke hängt. Gerade läuft das Achtelfinale der Belgier gegen die USA. Immer wieder sieht er zu dem Monitor auf, während er zu erklären versucht, wer die »Mídia Ninja« sind und was sie wollen. Und was nicht.
Den Boden für die »Ninjas« habe die Musik bereitet, sagt Felipe, wie für so vieles in Brasilien. Und die Regierung der Arbeiterpartei PT: »Als Lula 2003 Präsident wurde, war er der erste gewollte Machthaber seit 500 Jahren! Er machte Gilberto Gil, den legendären Sänger, zu seinem Kultusminister«, schwärmt der Rio-Ninja, der damals als unabhängiger Musikproduzent arbeitete. »Gil war ein Genie: Er förderte Breitbandinternet und Open-Source-Technologien. Dank Web war unser riesiges Land erstmals in der Lage, sich zu verbinden. Statt teurer Ferngespräche chatteten wir im Internet. Wir transferierten Wissen: Wo gibts gute Bands, wo Auftrittsmöglichkeiten, wo preiswertes Equipment?«
Die Kulturkonzerne sahen hilflos zu, wie eine Independentszene entstand, die 150 Festivals im Jahr organisierte und 30 000 Künstler durchs Land schickte. 2012 hatte die Gruppe auch das Wissen, eigene Nachrichten produzieren zu können. Fotografen, Journalisten – alle waren bereits versammelt. Die Ninjas leben meist gemeinsam in Wohnungen oder Häusern, die Spenden von internationalen Stiftungen dienen allen zur Versorgung, nicht zum Konsum.
Ihre erste Reportage produzierten die Ninja-Vorläufer vom Weltsozialforum in Tunis 2012. »Unser Kickstart«, sagt Felipe, »plötzlich war die Welt in Bewegung: arabischer Frühling, Spanien, Griechenland, Occupy.« Seit 2013 sind die Brasilianer auf den Straßen und die Ninjas berichten davon. »Ungeschnitten, ohne Zensur!« sagt Felipe. Dann springt er auf und jubelt: Tor für Belgien.
Zum Abschied, Belgien hat die USA mit 2:1 besiegt, verrät Felipe Altenfelder noch etwas Überraschendes: »Die Ninjas halten sich ja gerade mit Demoaufrufen zu den Anti-Copa-Protesten in Rio zurück.« Warum? Nun, er wolle keinesfalls illoyal sein, aber die Idee mancher Aktivisten, ein Spiel ganz und gar zu verhindern, gehe seiner Meinung nach am Wille der Brasilianer komplett vorbei. »Wir müssen für etwas kämpfen, nicht dagegen. Die WM ist nur unsere Plattform, nicht das, was wir bekämpfen. Selbst wenn die FIFA Scheiße ist.«
* Aus: neues deutschland, Donnerstag 3. Juli 2014
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