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Angst mobilisiert Brasilianer

Vor der Stichwahl versammeln sich auch linke Kritiker wieder hinter Dilma Rousseff

Von Andreas Behn, Rio de Janeiro *

In der Stichwahl in Brasilien am Sonntag trifft Amtsinhaberin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) auf den Liebling der Unternehmer, Aécio Neves. Rousseff liegt wohl vorne, aber es wird knapp.

Jaqueline macht Wahlkampf. Ein Aufkleber der Arbeiterpartei prangt auf ihrem T-Shirt, oft hat sie Flugblätter dabei, in Facebook diskutiert sie mit entfernten Bekannten über Politik. »So was habe ich noch nie gemacht. Ich komme mir vor wie meine Mutter, die davon erzählt, wie sie und ihre Freunde jahrelang Wahlkampf für Lula gemacht haben«, erzählt die 26-jährige Kommunikationswissenschaftlerin. Sie sei kein Fan der PT, und an der Regierung von Dilma Rousseff habe sie unzählige Kritikpunkte. »Aber mir ist die Vorstellung unerträglich, dass die Rechte mit ihrem neoliberalen Diskurs wieder an die Macht kommt«, sagt sie.

So wie Jaqueline geht es derzeit vielen Aktivisten und Vertretern sozialer Bewegungen. Sie stellen ihre Kritik an der PT-Regierung hintan, um zu verhindern, dass sie nach zwölf Jahren recht erfolgreicher Regierungsarbeit abgewählt wird. Die Angst erklärt sich nicht nur aus den Umfragen, in denen Rousseff und Herausforderer Aécio Neves von der PSDB fast gleichauf liegen. Erst zu Beginn der Woche konnte sich Rousseff einen kleinen Vorsprung erarbeiten, vielleicht wegen der Zehntausenden, die plötzlich wieder für die PT auf die Straße gehen.

Neves und seiner konservativen Parteienkoalition ist es gelungen, eine Art Wendeklima in Brasilien zu etablieren. Wichtigster Partner dabei sind die durchweg rechten privaten Massenmedien, die seit Monaten eine dramatische Wirtschaftskrise herbeischreiben. Zudem wird die PT als inkompetent, korrupt und selbstverliebt dargestellt, als eine Partei, die das Wohlergehen des Landes gefährdet. Hinzu kam der Medienhype um die ehemalige Umweltministerin Marina Silva, die dem tödlich verunglückten Eduardo Campos als Kandidatin der PSB folgte.

Zeitweise lag Silva in Umfragen sogar vor der Amtsinhaberin. Doch im ersten Wahlgang Anfang Oktober reichte es nur für einen guten dritten Platz mit 21 Prozent Stimmenanteil. Rousseff erreichte 41,5 und acht Prozent mehr als Neves, der damit in die Stichwahl am Sonntag einzog.

Silva, die sich stets als Option eines dritten Weges präsentierte, wendete sich vergangene Woche endgültig nach rechts. Nach kaum glaubhaften Versprechungen von Neves, er werde eine Agrarreform vorantreiben, den Umweltschutz fördern und sogar die Indígenas vor den Landbaronen schützen, sagte sie ihm und seiner Partei ihre volle Unterstützung zu. Für viele, die in ihr trotz des neoliberalen Wirtschaftsprogramms eine halbwegs linke Option gesehen haben, war diese deutliche Parteinahme nicht nachzuvollziehen. Für Luiz Inácio »Lula« da Silva hat es diesen dritten Weg nie gegeben. »Zur Wahl stehen zwei entgegengesetzte Modelle: Der Sozialstaat Brasilien oder das Zurück zu einem neoliberalen Brasilien«, so der immer noch sehr populäre Ex-Präsident.

Dementsprechend verteidigt Rousseff im Wahlkampf die Sozialleistungen sowie den starken Staat, der regulierend in die Wirtschaft eingreift. Neves beteuert, die Sozialprogramme nicht anzutasten. Er plädiert aber für eine liberale Ökonomie mit weniger Staat und mehr Unternehmerverantwortung. Die zunehmend heftige Konfrontation der beiden Widersacher hat indes dazu geführt, dass die Wahlkampagnen inhaltlich immer mehr verflachten. Die Fernsehdebatten sind von persönlichen Angriffen geprägt, oft unter der Gürtellinie. Zudem versucht Neves den jüngsten Korruptionsskandal beim staatlichen Ölriesen Petrobras zu nutzen und Rousseff in die Schuhe zu schieben. Rousseff kontert mit versteckten Hinweisen darauf, dass Neves – der gerne von Null-Toleranz und Ordnung spricht – Drogenprobleme habe. Selten war eine Wahl in Brasilien so spannend, selten so konfrontativ. Wer auch gewinnen mag, es wird für den Sieger nicht einfach sein zu regieren. Die Spaltung in das schon immer bessergestellte und das jetzt nachholende Brasilien ist deutlicher als zuvor und die gegenseitigen Vorbehalte sind größer geworden.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 25. Oktober 2014


Enges Rennen

Spannende Stichwahl um die Präsidentschaft in Brasilien. Dilma Rousseff in Umfragen knapp vorn

Von Peter Steiniger **


Die Brasilianer müssen sich entscheiden. In der Stichwahl um das mächtigste Amt ihres Landes stehen sich am Sonntag Staatschefin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT und ihr konservativer Herausforderer Aécio Neves (PSDB) gegenüber. Seit zwölf Jahren bereits hat die sozialdemokratisch orientierte PT (Partido dos Trabalhadores) im Palácio do Planalto in der Hauptstadt Brasília das Sagen. In der ersten Wahlrunde vor drei Wochen hatte Dilma Rousseff 41,6 Prozent der Stimmen erhalten und die notwendige absolute Mehrheit noch verpasst. Vier Jahre zuvor hatte die Politikerin in Wahlgang eins noch fünf Millionen Stimmen mehr verbucht.

Die rechte Opposition wittert Morgenluft. Dabei galt Aécio Neves über weite Strecken des Wahlkampfes bereits als abgeschrieben. Erst im Schlussspurt gelang es ihm, die in Umfragen und Medien favorisierte ehemalige Umweltministerin Marina Silva, die für die linksliberale Brasilianische Sozialistische Partei (PSB) antrat, hinter sich zu lassen. Nur acht Prozent trennten ihn von Rousseff. Neves, Ex-Gouverneur des wichtigen Bundesstaates Minas Gerais, ist der dritte Kandidat der PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira), der in ein solches Stechen gegen die PT geht. Der Enkel von Tancredo Neves, dem ersten gewählten Präsidenten nach der Militärdiktatur, der aber noch vor Amtsantritt verstarb, setzt auch auf die Stimmen der Unzufriedenen. Und das nicht ohne Erfolg. Trotz enormer sozialpolitischer Erfolge der PT-Regierungen sind viele strukturelle Probleme ungelöst, sind Brasiliens Megastädte nahe am Kollaps. Der Konjunkturmotor stockt, Die Milliardenausgaben für die zurückliegende Fußball-WM und für Olympia in Rio de Janeiro 2016 führten zu Massenprotesten.

Viele Menschen kreiden der PT einen Verlust an Glaubwürdigkeit, Korruptionsfälle und die Teilnahme an den etablierten schmutzigen politischen Geschäften an. Neves möchte den Staat stärker aus der Wirtschaft heraushalten, verspricht Wachstum und Investitionen sowie die Beibehaltung von Sozialprogrammen. Sowohl Rousseff als auch Neves sprechen sich für eine Politikreform aus, da der Kongress mit derzeit 28 dort vertretenen Parteien das Land nahezu unregierbar mache. Marina Silva, früher selbst hochrangige PT-Politikerin, dann Grüne, die sich als »dritte Kraft« präsentierte, rief ihre 22 Millionen Wähler aus dem ersten Wahlgang dazu auf, nun für Neves und den »Wandel« zu stimmen. Nicht wenige, die der PT nur einen Denkzettel verpassen wollten, rieben sich die Augen.

Präsidentin Rousseff verbreitet wenig Glanz, doch gilt sie als integre Technokratin und versteht es zu kämpfen. Als junge Frau war sie aktiv im Widerstand gegen die Diktatur. Silva stehe »dem Wirtschaftsprogramm von Aécio näher als dem Sozialprogramm meiner Regierung«, kommentierte sie den Schulterschluss der evangelikalen früheren Umweltaktivistin mit dem Mann des großen Geldes.

Der Ausgang der Wahl im größten Land Südamerikas wird überall in der Region mit Spannung verfolgt. Seit 1998 kamen in den lateinamerikanischen Ländern immer mehr Links- und Mitte-Links-Regierungen ins Amt: von Nicaragua und El Salvador über Venezuela, Bolivien und Ecuador bis hin zu Uruguay, Argentinien und Chile. Auch wenn sich der Grad der Umgestaltung sehr unterscheidet, eint sie die Neuausrichtung auf sozialreformerische und antikolonialistische Positionen. Sie sehen sich einer Gegenoffensive nationaler rechter Kreise, oft mit US-Unterstützung, ausgesetzt. Eine Wende des brasilianischen Riesen nach rechts würde das Kräfteverhältnis deutlich verschieben.

In den letzten Umfragen vor der Wahl konnte sich die Amtsinhaberin knapp vor ihren Kontrahenten setzen.

** Aus: junge Welt, Samstag, 25. Oktober 2014


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