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Ramponierte Rangfolge

Brasiliens Wähler folgten nicht den Prognosen / Roussef muss ins Stechen mit Neves

Von Andreas Behn, Rio de Janeiro *

Dilma Rousseff siegte bei der Präsidentschaftswahl in Brasilien, steht aber vor einer schwierigen Stichwahl. Die Ex-Umweltministerin Marina Silva wurde nur Dritte.

Amtsinhaberin Dilma Rousseff hat die Präsidentschaftswahl in Brasilien mit 41,5 Prozent der Stimmen gewonnen. Da sie die absolute Mehrheit verpasste, muss sie sich einer Stichwahl stellen. In drei Wochen wird sie gegen den konservativen Kandidaten Aécio Neves antreten, für den 33,5 Prozent der gut 140 Millionen wahlberechtigten Brasilianer stimmten.

Die Überraschung dieser Präsidentschaftswahl aber bleibt Marina Silva. Vor knapp zwei Monaten war sie plötzlich in aller Munde und lag in Umfragen teils deutlich vor Rousseff. An der Urne bekam sie gerade mal 21,3 Prozent der Stimmen und landete überraschend auf dem dritten Platz. Offenbar ist es ihr nicht gelungen, ihre »neue Politik«, ihren Dritten Weg zwischen der gemäßigt linken Arbeiterpartei PT und der rechten PSDB den Wählern verständlich zu machen.

Also erneut der Zweikampf zwischen PT und PSDB samt ihrer jeweiligen Koalitionen. Zweimal lagen die Konservativen vorne, die letzten drei Regierungsperioden gehörten der PT. Erwartet wird diesmal ein Kopf-an-Kopf-Rennen, bei dem die Wähler von Marina Silva entscheidend sein werden. Die Mehrheit von ihnen dürfte für Neves, für den von beiden propagierten Wandel stimmen. Zahlreiche werden aber Rousseff und ihr soziales Reformprojekt vorziehen. Viele Unzufriedene sind nicht bereit, die erfolgreiche Sozialpolitik der PT gegen das althergebrachte PSDB-Konzept einer liberalen Wirtschaft einzutauschen.

Gespalten ist auch Silvas Partei PSB. Einige Parteiführer plädieren für die Fortsetzung des Anti-PT-Kurses, andere wollen vor der Stichwahl zurück zum langjährigen Koalitionspartner PT. Es ist das schlechteste Wahlergebnis für die PT seit 2002. Trotzdem sprach Rousseff in einer ersten Stellungsnahme von einem »großem Wahlerfolg«. Die Brasilianer »sehen in meiner Politik eine Garantie für Fortschritte«, erklärte die Präsidentin. Zudem versprach sie, im Falle eines Wahlsieges das politische System zu reformieren.

Aécio Neves erklärte, das Wahlergebnis unterstreiche »den breiten Wunsch nach Veränderungen«. Er forderte alle oppositionellen Kräfte auf, »gemeinsam auf einen Regierungswechsel« hinzuarbeiten.

Von den acht weiteren Präsidentschaftskandidaten kam nur einer auf über ein Prozent der Stimmen: Luciana Genro von der linken Partei PSOL. Ihre 1,6 Prozent sind ein Achtungserfolg, der insbesondere ihrem beherzten Auftreten in den Fernsehdebatten geschuldet ist. Sie stellte sich eindeutig gegen die reaktionären Hardliner evangelikaler Parteien, die ihre Kandidaturen vor allem dazu nutzen, gegen das Recht auf Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehen zu wettern. Neu gewählt wurden auch die 27 Landesregierungen, das Nationalparlament und ein Drittel des Senats. Der bevölkerungsreichste Industriestaat São Paulo bleibt in Händen der PSDB, der Gouverneur von Rio de Janeiro wird erst in der Stichwahl zwischen zwei Rousseff-Alliierten entschieden.

Neben PT und PSDB schnitt vor allem die große Zentrumspartei PMDB erneut gut ab. Sie gehört zur Koalition von Rousseff und steht im Ruf, ihren politischen Einfluss meist für finanziell profitable Posten zu nutzen.

Trotz Wahlpflicht im größten Land Lateinamerikas nahmen 19 Prozent der Wahlberechtigten an dem Votum nicht teil. Knapp zehn Prozent enthielten sich der Stimme oder wählten ungültig. Rund 400 000 Polizisten und Soldaten sorgten während des Wahltages für Sicherheit. In mehreren Städten kam es zu Festnahmen wegen illegaler Wahlpropaganda. Die Wahl verlief ohne größere Zwischenfälle.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 7. Oktober 2014


Dilma muss ins Duell

Brasilien: Stichwahl zwischen Rousseff und dem Rechtskandidaten Neves

Von Peter Steiniger **


Nichts Neues unter der Sonne Brasiliens: Zum vierten Mal in Folge stehen sich in einer Stichwahl um die Präsidentschaft der Republik die Kandidaten der Arbeiterpartei (PT) und der konservativen PSDB (Partei der brasilianischen Sozialdemokratie) gegenüber. Der zweite Wahlgang in drei Wochen ist notwendig, da beim Urnengang am Sonntag auf keinen Wahlvorschlag die für einen Sieg in der ersten Runde nötigen mehr als 50 Prozent entfielen. Erwartungsgemäß vorn lag die Amtsinhaberin, Dilma Rousseff von der PT, die 41,6 Prozent der Stimmen erhielt. Die Ausgangsbasis der Favoritin ist längst nicht komfortabel: Bei ihrer ersten Kandidatur vor vier Jahren hatte Dilma – Politiker werden in Brasilien fast nur mit dem Rufnamen gehandelt – im ersten Wahlgang noch fast 47 Prozent erreicht. Im Vergleich zu damals verlor die Präsidentin fast fünf Millionen Stimmen.

Auf den zweiten Platz kam der unternehmerfreundliche PSDB-Mann Aecio Neves. In den Umfragen hatte er über Wochen klar hinter der ehemaligen Umweltministerin Marina Silva gelegen, die für die linksliberale Brasilianische Sozialistische Partei (PSB) antrat. Sie war erst ins Rennen geschickt worden, nachdem der PSB-Bewerber Eduardo Campos am 13. August bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückte. Die Evangelikale Silva, früher selbst PT-Politikerin, dann Grüne, präsentierte sich als »dritte Kraft« jenseits der etablierten Politikerkaste. Auf der Zielgeraden zog nun Neves mit 33,6 Prozent noch weit an Silva, mit 21,3 Prozent abgeschlagene Dritte, vorbei und in die Finalrunde ein. Mit nur acht Prozent Abstand konnte er recht dicht zu Amtsinhaberin Rousseff aufschließen. Seine unerwartet starke Performance zündete ein kleines Freudenfeuer bei den Brasilien-Fonds an den europäischen Börsen, wo auf einen kapitalfreundlicheren Kurs der sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt unter einem Präsidenten Neves spekuliert wird.

Um am 26. Oktober Gold zu erringen, ist der Konservative auf Stimmen aus Silvas Lager angewiesen. Dies wird allerdings kein Selbstläufer. Viele der Protestwähler, die »Marina« im ersten Wahlgang anziehen konnte, wollten der Präsidentin an den elektronischen Wahlurnen lediglich taktisch einen Denkzettel verpassen. Sie gönnen der technokratisch agierenden »großen Chefin«, weniger populär und charismatisch als ihr Vorgänger von der PT »Lula» da Silva, einen Sieg schon im ersten Durchgang nicht. Trotz enormer sozialpolitischer Erfolge sind viele Miseren im Riesenland längst nicht bewältigt und der Konjunkturmotor stockt zudem. Gewalt und Korruption machen weiter das Leben schwer. Mit dem durch die Politik der sozialdemokratischen PT erst ermöglichten Aufstieg aus der Armut ist Millionen Brasilianern, die sich nun der unteren Mittelschicht zurechnen, deutlich bewusster geworden, dass die Mobilitätskrise der Megastädte unerträglich ist, dass Bildung und Gesundheit kaum erschwinglich sind oder weiter auf Dritteweltniveau. Die Unzufriedenheit brach sich in den Massenprotesten im letzten Jahr gegen die Milliardenausgaben für Fußball-WM und Olympiabauten Bahn.

Der Ausgang der Präsidentschaftswahl spiegelt die Zugkraft der politischen Polarisierung zwischen PT und PSDB. In der Endphase des Wahlkampfes wurde Silva von beiden Seiten unter Feuer genommen. Bei den gleichzeitig abgehaltenen Wahlen zum Senat, zum Kongress und der Gouverneure der Bundesstaaten lassen sich linke Hochburgen vor allem im Norden und Nordosten ausmachen. Hier stellen künftig auch die Kommunisten der PCdoB im Bundesstaat Maranhão den Gouverneur. Die PSDB triumphierte in São Paulo. Die bürgerlich-populistische PMDB behauptete landesweit ihre starke Position. Überraschungsfinalist Neves bezeichnete sein Ergebnis als »über allen Erwartungen« und startete noch am Wahlabend eine Charmeoffensive auf die PSB-Wählerschaft und lobpreiste den verstorbenen »lieben Freund« Eduardo Campos. Er stehe für alle, die eine Regierung mit »Anstand und Effizienz« wollten. Den Brasilianern verspricht er Wachstum, das Land soll wieder attraktiver für Investoren werden. Silva bedankte sich mit einem Wink nach rechts: Das Ergebnis zeige, dass die Mehrheit einen grundsätzlichen Wandel wolle. Dilma Rousseff zeigt sich mit Blick auf die Stichwahl optimistisch und dankte Ex-Präsident Lula für seine Unterstützung im Wahlkampf.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 7. Oktober 2014


Kahlschläger

Von Martin Ling ***

Er kam auf der Zielgeraden: Aécio Neves. Wochenlang lag der Präsidentschaftskandidat der rechtssozialdemokratischen PSDB bei den Umfragen bei gut zehn Prozent. Dass er nun mit knapp 34 in die Stichwahl gegen Rousseff am 26. Oktober einzieht, deutete sich allerdings in den vergangenen Tagen als Möglichkeit an.

Neves ist kein unbeschriebenes Blatt und in der TV-Debatte vergangenen Donnerstag gelang es dem amtierenden Senator und ehemaligen Gouverneur von Minas Gerais offensichtlich, vor dem Millionenpublikum zu punkten. Reden kann der Spross einer Politikerfamilie blendend und sein Versprechen umfassender Wirtschaftsreformen im kriselnden Schwellenland konnte der studierte Wirtschaftswissenschaftler auch souverän präsentieren.

Neves ist nicht nur Theoretiker, sondern besitzt Regierungserfahrung auf Bundesstaatsebene. Nachdem er von 1987 bis 2002 vier Perioden als Abgeordneter für die PSDB im Parlament in Brasília saß, amtierte er in Minas Gerais von 2003 bis 2010 als Gouverneur. In dem von Minen und Abbaugebieten unterschiedlicher Erze sowie von Phosphaten geprägten Bundesstaat griff Neves zur neoliberalen Schocktherapie, um den Haushalt halbwegs ins Lot zu bringen: radikale Kürzungen der Ausgaben inklusive der sozialen.

Mit Neves gegen Rousseff kommt es nun zu einer extrem polarisierten Stichwahl: hier der neoliberale Kahlschläger, da die auf Sozialprogramme setzende Ex-Guerillera von der Arbeiterpartei PT. Die nimmt Neves sehr ernst und führt im Internet eine umfangreiche Liste von Gründen an, warum Neves unwählbar sei. Gegen viele davon ist Neves juristisch in der Vergangenheit vorgegangen, nicht entkräften konnte er, dass er seine damalige Freundin und heutige Frau in aller Öffentlichkeit geschlagen hat.

Das Präsidentenamt hat der Familie Neves bisher kein Glück gebracht. Sein Großvater Tancredo Neves wurde 1985 als erster demokratisch gewählter Präsident nach der Militärdiktatur auserkoren. Er verstarb noch vor seinem Amtsantritt unter dubiosen Umständen.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 7. Oktober 2014 (Kommentar)


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