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Wider die Hegemonie

Brasilien: Staudammpläne am Rio Xingú werden trotz zahlreicher Verfahren weiter fortgesetzt. Nun auch mögliche Klage wegen Ethnozids im Raum

Von Mario Osava, IPS *

Ein Ethnozidvorwurf im Zusammenhang mit dem im brasilianischen Amazonas-Regenwald entstehenden Wasserkraftwerk »Belo Monte« hat den Blick auf eine Reihe grundsätzlicher Aspekte der Streitigkeiten und Konflikte gelenkt, die von Megastaudammplänen und –projekten ausgelöst werden. Wie Thaís Santi, Staatsanwältin von Altania, erklärte, wird man in den nächsten Wochen rechtliche Schritte gegen die Belo-Monte-Betreiberfirma Norte Energía einleiten. Das Unternehmen wird beschuldigt, dem Widerstand indigener Wasserkraftwerkgegner mit Initiativen begegnet zu sein, die eine Klage wegen Ethnozids rechtfertigten.

»Das wird auf jeden Fall ein innovativer Rechtstreit werden«, kommentierte der Guaraní Wilson Matos da Silva, ein im westbrasilianischen Dourados praktizierender Anwalt, das anstehende Verfahren. Wie er erklärte, gibt es in seinem Land bislang Ethnozid nicht als Straftatbestand. Unter dem Begriff versteht man die Vernichtung einer Sprache, Religion oder Kultur, ohne dabei die Sprecher, Gläubigen oder Kulturträger – im Gegensatz zum Völkermord (Genozid) – physisch zu vernichten. Der Vorwurf des Ethnozids wird bereits seit einiger Zeit von Anthropologen und Juristen auf internationalen Foren diskutiert. Der neue Vorstoß in Brasilien sei in dieser Hinsicht eine lobenswerte Initiative, betonte Matos da Silva.

Bisher ist es der Staatsanwaltschaft trotz 22 laufender Gerichtsverfahren nicht gelungen, die Einstellung der Bauarbeiten für das Kraftwerk am Rio Xingú, das 11.233 Megawatt Strom generieren soll, zu erreichen. Wohl aber konnte die Betreiberfirma zur Einhaltung einiger Umweltauflagen genötigt werden. So musste sie der indigenen Gemeinde Juruna nach Protesten gegen die durch die Bauarbeiten entstandene Lärmbelästigung ein Stück Land als Pufferzone dazukaufen.

Dem Sozioökologischen Institut (ISA) zufolge, das im Xingú-Becken aktiv ist, blieben viele der 40 Auflagen, die im Vorfeld der Ausschreibung im Jahre 2010 festgelegt worden waren, bisher unerfüllt. Ebensowenig habe sich die Betreiberfirma an die 31 Bedingungen gehalten, die indigene Rechte beträfen. Dazu gehöre die Verpflichtung, den Schutz indigener Territorien zu gewährleisten. Wie sich aber herausgestellt habe, hätten die Bauarbeiten am Staudamm zu einer Zunahme des illegalen Holzeinschlags und der Wilderei durch Außenstehende geführt.

Norte Energía hingegen wendet ein, 68 Millionen US-Dollar in Maßnahmen investiert zu haben, von denen 3.000 Menschen in 34 Dörfern und elf indigenen Territorien im Einzugsgebiet des Staudamms profitieren. So seien bis April dieses Jahres 711 neue Wohneinheiten, 578 Motorboote, 42 Landfahrzeuge, 98 Stromgeneratoren und 2,1 Millionen Liter Treibstoffe und Schmiermittel bereitgestellt worden.

»Die indigenen Gemeinden sind unzufrieden, weil das Projekt nur teilweise umgesetzt wurde. Von den 34 versprochenen Basisgesundheitszentren ist bisher keines in Betrieb«, sagte Francisco Brasil de Moraes, stellvertretender Koordinator der staatlichen Behörde, die für den Schutz der indigenen Völker zuständig ist (Fundação Nacional do Índio, FUNAI). Die versprochene Finanzierung von Projekten zur Ernährungs- und Einkommenssicherung sei ebenso ausgeblieben wie die zugesagte technische Hilfe für Kleinbauern.

Doch das, was Norte Energía den Vorwurf des Ethnozids eingebracht hat, bezieht sich auf Maßnahmen, die noch vor dem verzögerten Start aller laufender Projekte durchgeführt wurden und mit dem sogenannten Basisumweltplan – Indigene Komponente (Plan Básico Ambiental – Componente Indígena) zusammenhängen. 24 Monate lang, bis September 2012, hatte das Konsortium einen sogenannten Nothilfeplan umgesetzt, der die 34 Dörfer mit angeblich lebenswichtigen Gütern im Wert von 9.600 US-Dollar (etwa 8.700 Euro) pro Monat und Dorf versorgte. Die Folge war laut ISA ein erhöhter Konsum weiterverarbeiteter Nahrungsmittel und Getränke wie Limonaden, der die Mangelernährung von Kindern verstärkte und die Gesundheit und Ernährungssicherheit der indigenen Gemeinschaften unterminierte, weil diese ihre landwirtschaftlichen Aktivitäten, Fischerei und Jagd infolge des Programms vernachlässigten. Zudem wurden Dorfgemeinschaften gespalten und die Autorität lokaler Führer geschwächt, ist aus dem Büro der Staatsanwaltschaft zu hören.

Doch aus einer Stellungnahme von Norte Energía geht hervor, dass der sogenannte Notfallplan eine Idee von FUNAI gewesen sei, die auch die monatlichen Beträge festgelegt habe. »Die Gelder wurden in die Ethnoentwicklung inklusive den Kauf von landwirtschaftlichen Gerätschaften, den Bau von Bootsanlegern und die Verbesserung der Zubringerstraßen zu den Dörfern über eine Gesamtlänge von 470 Kilometern investiert«, heißt es. Das Unternehmen habe zudem 23 neue FUNAI-Arbeitsstellen finanziert.

* Aus: junge Welt, Freitag, 24. Juli 2015


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