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Mehr Gewalt in Rio

Fußball-WM und Olympia lassen Kriminalität boomen. Trotz massiver Militär- und Polizeieinsätze steigen Überfall- und Mordrate in der Metropole

Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro *

Die Fußball-WM steht vor der Tür, und Brasilien möchte der Welt schöne Bilder bieten. Da passen steigende Kriminalitätsraten in den Metropolen nicht ins Konzept. Sérgio Cabral Filho, Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, setzt deshalb – wie schon seit Beginn seiner Amtszeit 2006 – auf ein hartes Vorgehen: Elitetruppen von Militär und Polizei besetzen und kontrollieren Stadtviertel mit armer Bevölkerung (Favelas). Zum Einsatz kommen Panzerfahrzeuge und Hubschrauber. Amtlich heißt das »Befriedung«. Doch davon kann keine Rede sein.

So stürmten am 30. März 1500 Militärpolizisten und reguläre Polizeikräfte den Complexo da Maré, ein Konglomerat von mehreren, einst aus dem Mangrovengürtel der Millionenmetropole emporgewachsenen Favelas, zwischen Flughafen Galeão und Stadtzentrum. Insgesamt 2050 Fallschirmjäger, 450 Marineinfanteristen und 200 Militärpolizisten sollen nun im Maré-Komplex mit seinen 130000 Einwohnern bis nach der WM für Sicherheit sorgen. Doch den Militärgroßeinsätzen zum Trotz nimmt die Verbrechensrate in Brasiliens WM- und Olympiastadt kräftig zu.

Egal ob Stadtzentrum, Copacabana, Ipanema, Lapa oder Tijuca: Im Vorfeld der WM 2014 werden in Rios Stadtvierteln die Straßen von Tag zu Tag unsicherer. Allein im vergangenen Januar registrierte die Polizei im Bundesstaat 7814 Straßenraubüberfälle, 53,1 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Das geht aus der aktuellen Statistik des Instituts für öffentliche Sicherheit (Instituto de Segurança Pública, ISP) hervor. Eine Dreimonatsübersicht bestätigt den gravierenden Anstieg: Von November 2013 bis Januar 2014 wurden auf Rio de Janeiros Straßen 20869 Personen ausgeraubt – im gleichen Zeitraum waren es ein Jahr zuvor »nur« 14213 Überfälle. Doch nicht nur auf den Straßen grassiert das Verbrechen. Bewaffnete Raubüberfälle nahmen auf Geschäfte und Hotels ebenso zu. Vergangenen Januar wurden 776 Läden und Herbergen überfallen – eine Zunahme um 58,7 Prozent.

Selbst das bekannte Künstlerviertel Santa Teresa ist betroffen. Just als Polizei und Streitkräfte die Favelas von Maré erstürmten, erwischte es wieder eine der Pensionen des einst beschaulichen Stadtteils im Zentrum Rios. Gegen acht Uhr abends überfielen drei Bewaffnete die frisch renovierte Herberge. Sie stahlen die Kasse und beraubten die Gäste. Der Geschäftsführer war geschockt: »Vier Jahre Arbeit an einem Abend vernichtet. Die Polizei kam viel zu spät. Und unsere Gäste werden mit Sicherheit nicht mehr wiederkommen.«

Obwohl es von mehr als einem Dutzend Favelas umgeben ist, galt Santa Teresa lange Zeit als sicheres Viertel, lebendig und beschaulich zugleich und gern besucht von Touristen. Mit der Ankündigung, daß Rio de Janeiro WM- und 2016 Olympiastadt wird, war Schluß mit der Beschaulichkeit. Miet- und Bodenpreise explodierten. Viele alteingesessene Bewohner des Viertels konnten den Immobilienspekulanten und der Mietinflation nichts entgegensetzen und mußten wegziehen. Im Gegenzug schossen Hotels und andere Herbergen wie Pilze aus dem Boden. Massentourismus, exorbitante Preiserhöhungen und Bevölkerungsverdrängung bereiteten auch steigender Kriminalität den Boden. Bereits im vergangenen März rief die Vereinigung der Bewohner Santa Teresas (AMAST) zu Demonstrationen gegen die drastische Zunahme von Raubüberfällen und Einbrüchen auf.

Nicht nur die Überfallrate steigt. Zwischen November 2013 und Januar 2014 wurden laut offiziellen Zahlen 1345 Personen in Rio de Janeiro ermordet, 20,4 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Das macht 448 Morde pro Monat oder 14 am Tag. Zum Vergleich: New York City verzeichnete im vergangenen Jahr weniger als einen Mord pro Tag. Selbst Nordamerikas »Hauptstadt des Verbrechens«, Chicago, wird mit »nur« 34 Mordopfern pro Monat von Rio de Janeiro deutlich überholt. Dabei sind in der Statistik der Metropole die Personen, die alltäglich von Polizei und Militär erschossen werden, gar nicht mitgerechnet. Die Sicherheitskräfte in Rio de Janeiro töteten im Januar 49 Personen, etwa 70 Prozent mehr als im Januar 2013. Allein während der »Befriedung« des Complexo da Maré wurden der offiziellen Bilanz des Ministeriums für Sicherheit zufolge vom 30. März bis zum 4. April 16 »Verdächtige« erschossen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 16. April 2014


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