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Erdöl statt Fisch

Nach Unfällen und der alltäglichen Verschmutzung des Meeres ist die Küste vor Rio de Janeiro ein unwirtlicher Ort

Von Norbert Suchanek/Rio de Janeiro *

Blaues Meer, das unter gleißender Sonne glitzert. Bunte Fischerboote aus Holz schaukeln sanft auf den Wellen. Dutzende Silberreiher haben die Boote als Rastplatz besetzt. Am Horizont ahnt man Berge und die Skyline Rio de Janeiros. Es gibt wohl kaum einen besseren Ort in der Metropole als hier im Schatten der Seemandelbäume am Praia das Pedrinhas, um frisch gefangene, mit Maniok panierte und frittierte Sardinen plus Cachaça aus Minas zu genießen und den Rest der Welt zumindest für ein paar Stunden sich selbst zu überlassen.

Doch die Idylle trügt. Seit mehr als drei Wochen sterben die Fische in Massen in Rio de Janeiros Bucht von Guanabara. Hitze und Sauerstoffmangel, so die Vorabdiagnose der Umweltbehörde. Doch die ungewöhnlich trockene Hitzewelle, die bis Anfang November anhielt, ist nicht das eigentliche Problem. Bereits seit Jahren kämpfen Fischer und Sardinen der 380 Quadratkilometer großen Bucht von Guanabara ums sprichwörtliche Überleben.

Praia das Pedrinhas von São Gonçalo ist eine der letzten Fischergemeinden Rio de Janeiros, die auch die Ölkatastrophe vom 18. Januar 2000 mehr oder weniger überlebte. Eine der Pipelines des brasilianischen Erdölkonzerns Petrobras, die Rios Raffinerie von Duque de Caxias versorgt, war geplatzt. 1,3 Millionen Liter Öl flossen in die Bucht sowie in die Mangroven und bildeten einen Ölteppich von 40 Quadratkilometern. Die Behörden verhängten ein Fischfangverbot von 45 Tagen.

Nicht vorbereitet

Petrobras und die Behörden schienen nicht ausreichend auf den Ernstfall vorbereitet. Anstatt das Öl von der Wasseroberfläche abzuschöpfen, haben sie alle möglichen Chemikalien ins Wasser gekippt, um das Öl zu binden, kritisierte Alexandre Anderson, Guanabara-Fischer und Chef der 2003 gegründeten Fischervereinigung »Homens do Mar« (Männer des Meeres). Die Chemikalien, so Anderson, hätten die Katastrophe nur noch verschlimmert. Das Rohöl sank zwar ab und verschwand von der Wasseroberfläche und damit aus den Schlagzeilen, doch blieb es mit den Chemikalien im Sediment der Bucht und in den Mangroven, wo es die Laichgründe langfristig verseucht und geschädigt habe. Petrobras sah und sieht das allerdings anders: Laut von ihr bezahlten wissenschaftlichen Studien sind die Folgen der Ölverschmutzung bereits in rund 30 Tagen beseitigt worden, mit geringem Schaden für die Fischerei. Anderson, der sechs Mordanschläge überlebt hat, hält dagegen. Die Garnelenbestände seien stark zurückgegangen und 28 Fischarten gänzlich verschwunden. »Vor dem Jahr 2000 konnten wir 400 Kilogramm Fisch an derselben Stelle fangen, wo heute nur noch 20 Kilogramm in die Netze gehen.«

Viele Fischerfamilien klagten gegen den Milliarden Euro schweren Erdölkonzern um angemessenen Schadensersatz. Doch die Gerichtsmühlen mahlen in Brasilien manchmal langsam. Jahr um Jahr demonstrierten die Vereinigungen der Fischergemeinden Guanabaras vergeblich gegen Petrobras. Statt Entschädigung wurden ihre Fanggründe immer mehr eingegrenzt, während sich die Erdölindustrie und ihr Pipelinenetz in der Bucht ausbreiteten. Lediglich 12 Prozent von einst rund 80 Prozent der Baia Guanabara seien heute den traditionellen Fischergemeinden zur Nutzung verblieben, beklagt Mário Cézar Goudard, Präsident der Vereinigung der Fischer von Praia das Pedrinhas.

Von den schätzungsweise 22.000 bis 23.000 Familien, die vor dem Ölunfall vom Fischfang in der Baía de Guanabara lebten, habe der Großteil inzwischen aufgegeben, so Anderson von der »Homens do Mar«. Heute seien es nur noch etwa sechs- bis neuntausend Guanabara-Fischerfamilien. Nicht nur der Fischrückgang, auch die zunehmenden Infrastrukturprojekte der Erdölindustrie erschwerten das wirtschaftliche und physische Überleben der Fischer. Wer die Petrobras-Projekte kritisiert, lebe gefährlich. Homens do Mar hat bereits zwei führende Mitglieder durch Mord verloren.

Vergangenen Mai nun, nach 14 Jahren Rechtsstreit, entschied das Gericht in erster Instanz und gab einstimmig Petrobras recht. Die Ölkatastrophe habe die Fischerei lediglich für 45 Tage beeinträchtigt. Den 12.000 klagenden Fischern stehe damit auch nur etwas mehr als jeweils ein Monatslohn als Entschädigung zu: 750 Reais oder umgerechnet rund 300 Euro. Inakzeptabel für »Homens do Mar« und die Vereinigung der Fischer von Rio de Janeiro.

Schleichende Verschmutzung

Die Erdölkatastrophe 2000 und ein noch größerer Ölunfall drei Jahre zuvor, der aber medial kaum wahrgenommen wurde, sind allerdings nicht allein für die Verschmutzung und Verseuchung der Bucht zwischen Rio und Niteroí und den Niedergang der traditionellen Fischerei verantwortlich. Seit Jahrzehnten fließt ein Großteil der Fäkalien und Abwässer von Menschen und Fabriken Rio de Janeiros ungeklärt in die Baia da Guanabara. Hinzu kommt eine schleichende Erdölverschmutzung durch Raffinerien, Tanker, Ölplattformen und Hafenanlagen. Laut Rios Abwasserbehörde CEDAE gelangten so täglich etwa sieben Tonnen Erdöl in das Wasser der Bucht, was umgerechnet rund einer Erdölkatastrophe – wie der von 2000 – pro Jahr entspricht. Laut einer Studie der Katholischen Universität von Rio de Janeiro (PUC-RJ) aus dem Jahr 2011 seien mehr als 50 Prozent der Fische in der Bucht von Guanabara in den Fanggründen von Mauá, Magé, Itaipu und São Gonçalo so stark mit Schwermetallen belastet, dass sie eigentlich nicht mehr für den menschlichen Verzehr geeignet seien.

Bereits 1992 während der ersten UN-Umwelt- und Entwicklungskonferenz in Rio de Janeiro, der legendären »Rio92«, stank die Bucht unerträglich zum Himmel. Ein Milliarden US-Dollar schweres Rettungsprogramm mit Weltbankkrediten wurde aufgelegt. Doch seit 1994 erstickt das Projekt oder besser gesagt die »Idee« der Säuberung der Bucht von Guanabara an Korruption, Ignoranz und schlichter Inkompetenz. Symbol dieses umweltpolitischen und ingenieurtechnischen Desasters ist die Kläranlage von São Gonçalo (ETE), nur einen Steinwurf vom Praia das Pedrinhas entfernt.

Eingeweiht im Jahr 1998, hat die Estação de Tratamento de Esgoto (ETE) São Gonçalo bis heute keinen einzigen Liter Abwasser geklärt. Möglicherweise 2015 werde sie nun aber wirklich in Funktion treten, so die Aussage der zuständigen Abwasserbehörde CEDAE. Bis dahin fließen die Abwässer von São Gonçalo wie auch der Fischergemeinde und der Fischkioske von Praia das Pedrinhas in natura vor dem Strand in die Bucht der wunderbarsten Stadt der Welt.

* Aus: junge Welt, Montag, 29. Dezember 2014


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