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Die bleiernen Jahre - und die Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung

Zum 50. Jahrestag des Militärputsches in Brasilien *


Am 31. März jährt sich der 50. Jahrestag des Militärputsches gegen Brasiliens linken Präsidenten João Goulart. 1970 nutzte die Militärdiktatur den Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft, um von der innenpolitisch schwierigen Lage im Land abzulenken. Das käme 2014 auch der jetzigen Präsidentin Dilma Rousseff zupass. Während der Diktatur war sie im Widerstand und Folteropfer.
Dieses Datum war Anlass für das "neue deutschland", auf einer Themenseite über die schwierige Geschichte der Aufarbeitung der brasilianischen Diktatur zu informieren. Wir dokumentieren im Folgenden die beiträge und eine Chronik.


Aufarbeitung scheitert an Hardlinern

Brasilianische Gesellschaft ist in der Bewertung der Diktatur gespalten

Von Andreas Behn, Rio de Janeiro *


Lange bevor in Argentinien und Uruguay die Militärs in den 70er Jahren putschten, wurde 1964 in Brasilien die linksgerichtete Regierung von João Goulart durch die Armee gestürzt.

Es ist unwahrscheinlich, dass Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff am 31. März das Wort ergreift. Einzige konkrete Maßnahme zu diesem historischen Tag war bisher die Anweisung an das Militär, jegliche Feierlichkeiten zu unterlassen. Zum 50. Mal jährt sich der Staatsstreich von 1964, der 21 Jahre einer brutalen Diktatur einleitete. Wie so oft in ihrer vierjährigen Amtszeit vermeidet Rousseff klare Worte. Sie will es sich mit niemandem verscherzen, zumal sie im Oktober für eine zweite Amtszeit kandidieren wird.

Rousseff war einst selbst Widerstandskämpferin, die Militärs verhafteten und folterten sie. Immerhin schuf sie 2012 eine Wahrheitskommission, die bis Ende dieses Jahres die Verbrechen von damals recherchieren soll. Ein wichtiger Schritt, der schon viele schmerzhafte Details zutage brachte – allerdings ohne juristische Konsequenzen, da ein Amnestiegesetz aus dem Jahr 1979 alle Verbrechen des Staates aber auch der Guerillakämpfer im Widerstand vor Strafverfolgung schützt. Eine Aufarbeitung der bleiernen Zeit findet kaum statt, die brasilianische Gesellschaft ist in der Bewertung der Diktatur gespalten.

Organisationen von Angehörigen der Opfer, soziale Bewegungen und Teile linker Parteien fordern eine Bestrafung der Täter. Das Wissen um die Geschichte müsse durch Gedenkstätten wach gehalten werden, vor allem sei eine Reform der militarisierten Sicherheitskräfte notwendig. Das Bewusstsein von Straffreiheit und korrupte Strukturen bei der Polizei seien die Ursache für brutale Einsätze insbesondere in Armenviertel, bei denen in den Großstädten fast täglich Menschen erschossen werden.

»Die brasilianische Polizei ist extrem gewalttätig. Hätte es nach der Rückkehr zur Demokratie 1985 eine Reform der Polizeiarbeit gegeben, gäbe es heute viel weniger Gewalttaten in unserem Land«, erklärte Ana Bursztyn Miranda von der Betroffenenorganisation Coletivo Memória, Verdade e Justiça (Kollektive Erinnerung, Wahrheit und Erinnerung).

Große Teile des Militärs, aber auch viele Mitglieder rechter Parteien, Unternehmensvertreter und einige Kirchenleute bezeichnen den Sturz der gewählten Regierung des linken Präsidenten João Goulart und die Einsetzung eines autoritären Regimes nach wie vor als richtig und notwendig. Sie lehnen die Formulierung »Putsch« ab und argumentieren, dass der Machtwechsel Brasilien vor einem Sturz ins Chaos bewahrt habe. »Das brasilianische Volk hat (damals) die Streitkräfte an die Macht gebracht, um die Ordnung und die Demokratie zu verteidigen«, sagte vergangene Woche der Abgeordnete Jair Bolsinaro und setzte durch, dass er 15 Minuten Rederecht während der Feierstunde im Parlament am 1. April haben wird.

»Noch bis vor wenigen Jahren wurde der Jahrestag in den Kasernen als Revolution gefeiert«, beklagt die 65-jährige ehemalige Widerstandskämpferin Miranda. »Nachbarländer wie Argentinien oder Chile sind viel weiter. Dort gibt es bereits Gedenkstätten, und die Täter von einst werden juristisch verfolgt.« Sie macht das jahrzehntelange Schweigen für fehlende Aufarbeitung und das falsche Geschichtsbild in vielen Köpfen dafür verantwortlich. »Ich wünsche mir, dass meine frühere Zellengenossin Dilma Rousseff Position bezieht und deutliche Worte spricht. Das würde vielleicht einen Ruck in der Gesellschaft auslösen.« Ana Miranda wird auch bei den »Nie Wieder – Gedenktagen« zu hören sein, die im April in Berlin und Köln stattfinden werden.

Das lange Schweigen hat zur Folge, dass sehr viele in Brasilien das Thema Diktatur kaum interessiert. »Lieber keine alten Wunden aufreißen«, so der Tenor. Rechtsradikale Positionen werden zwar zunehmend an den Rand gedrängt und auch die größtenteils rechte Presse kommt nicht mehr umhin, von einem Putsch und massiven Menschenrechtsverletzungen zu sprechen. Zugleich haben es die Aktivisten schwer, ihrer Forderung nach Aufarbeitung und Strafverfolgung Gehör zu verschaffen. Zahlreiche Gruppen organisieren rund um den Jahrestag Seminare und Demonstrationen. Doch der Zulauf ist gering. Oft sind es nur einige Hundert Antifas, die demonstrieren und sich mit rechten Agitierern Handgreiflichkeiten liefern.

Mehrere Generäle regierten während der 21 Jahre das Land mit harter Hand. Die Verfolgung Oppositioneller setzte sich auch im Ausland fort, da die Diktaturen mehrerer südamerikanischer Staaten im Rahmen der geheimen »Operation Condor« auch grenzübergreifend Jagd auf Regimekritiker machten.

* Aus: neues deutschland, Montag, 31. März 2014


»Übereinstimmung der Werte« trotz bleierner Jahre

Die Wirtschaftsbeziehungen der BRD zur brasilianischen Militärdiktatur waren durch Menschenrechtsverletzungen nicht zu trüben

Von Christian Russau **


In der 21-jährigen Diktatur Brasiliens wurden Bürgerrechte außer Kraft gesetzt und Menschen verhaftet, gefoltert oder ermordet. Die wirtschaftlichen Beziehungen zur BRD belastete das nicht.

In Brasilien herrschte seit 1964 die Militärdiktatur, besonders schlimm wurde es ab 1968, als der Präsident, Marschall Artur da Costa e Silva, den berüchtigten Institutionellen Akt Nr. 5 erließ. Dieses in Brasilien als AI-5 bekannte Dekret gab ihm die Befugnis, die Arbeit des Parlaments zu unterbinden, Politiker ihres Amtes zu entheben und die Repression noch weiter zu verschärfen.

Neuesten Untersuchungen zufolge wurden während der brasilianischen Militärdiktatur von den Repressionsorganen 475 Menschen ermordet oder sind seither verschwunden, 24 560 Personen wurden verfolgt. Die dem Justizministerium unterstellte Amnestiekommission zur Anerkennung politischer Verfolgung zur Zeit der Militärdiktatur zählte 2008 über 70 000 Anträge auf staatliche Anerkennung der politischen Verfolgung und entsprechende Entschädigungszahlungen. In Anlehnung an den Spielfilm »Die bleierne Zeit« (1981) der deutschen Regisseurin Margarethe von Trotta wird in Brasilien der Zeitraum vom Erlass des AI-5 bis zum Amtsende des Präsidenten General Emílio Garrastazu Médici am 15. März 1974 die »Bleiernen Jahre« genannt.

Seit 1968 wuchs die brasilianische Wirtschaft um satte zehn Prozent pro Jahr. Das Land erlebte mitten in den bleiernen Jahren sein Wirtschaftswunder. Daran wollte die Bundesrepublik Deutschland – und die deutschen Konzerne – natürlich teilhaben. 1975 unterzeichneten in Bonn die Bundesrepubliken der föderativen Staaten Brasiliens und Deutschlands einen Atomvertrag, der die Lieferung von bis zu acht Atomkraftwerken, einer Wiederaufbereitungs- sowie einer Urananreicherungsanlage vorsah. Das größte deutsche Exportgeschäft aller Zeiten!

Bonn – vor 35 Jahren: Der brasilianische Präsident, General Geisel, stattet der deutschen Bundesregierung einen offiziellen Besuch ab. Bundeskanzler Helmut Schmidt lobte in seiner Tischrede die »Konvergenz der Ziele« und die »Übereinstimmung der Werte« der deutschen und der brasilianischen Bundesregierung – in Bonn regierte man »sozialliberal«, in Brasília militärisch. Während im spätgotischen Saal des Gürzenich in der Kölner Altstadt anlässlich des Geisel-Besuchs ein Staatsbankett gegeben wurde, prügelte die deutsche Polizei Atomkritiker und brasilianische Oppositionnelle der Militärdiktatur nieder. Auf einem Polizeirevier wurden Festgenommene mit Fäkalien beschmiert. Brasilianische Journalisten, die diesem Schauspiel als Augenzeugen beiwohnten, erlebten gewöhnliche Szenen aus dem brasilianischen Alltag: in Köln.

Und die in Brasilien tätigen deutschen Konzerne? Anfang der 1990er Jahre publizierte die Tageszeitung »Jornal do Brasil« aus Akten der Geheimpolizei Deops, nach denen Volkswagen do Brasil in den 1970er Jahren Diktaturspitzel in die Gewerkschaftsversammlungen seiner Arbeiter einschleuste und Informationen über seine Angestellten an die Geheimpolizei der Diktatur weiterreichte. Volkswagen do Brasil soll noch in diesem Jahr vor der Nationalen Wahrheitskommission in Brasília zu der VW-Verstrickung in die Militärdiktatur in Brasilien aussagen.

Profit für die Konzerne und goldene Uhren wie die von Kanzler Willy Brandt für Junta-General Artur da Costa e Silva – statt Menschenrechte und Umwelt. Waren Brandt, Schmidt & Co. die Gefolterten und Malträtierten damals in den 1970er Jahren allenfalls egal, bestenfalls bedauernswerte Kollateralschäden, so waren dergleichen deutsche Wirtschaftsinteressen nie. São Paulo ist noch heute die größte deutsche Industriekonzentration weltweit außerhalb des Ruhrgebiets. Für deutsche Konzerne rollte da schon immer der Cruzeiro oder Cruzado oder Real – und die deutsche Politik gab eifrig Schützenhilfe.

** Aus: neues deutschland, Montag, 31. März 2014


Chronik der Diktatur in Brasilien

13. März 1964: Der amtierende Präsident Brasiliens, João Goulart, erlässt drei Dekrete, während er vor 150 000 Menschen in Rio de Janeiro auf dem Platz vor dem Bahnhof der Central do Brasil spricht: Ein Dekret zur Agrarreform: »Wie kann man das authentische Eigentumsrecht garantieren, während von den 15 Millionen Menschen, die das Land bearbeiten, nur zweieinhalb Millionen Eigentümer sind?«, ein Dekret zur Nationalisierung der Erdölraffinerien sowie ein Dekret zur Mietpreisbindung im Lande.

26. März 1964: Der US-amerikanische Botschafter in Brasilien, Lincoln Gordon, sendet ein Telegramm nach Washington, in dem logistische Unterstützung für den Fall vorschlägt, dass in Brasilien die antikommunistischen Kräfte einen Bürgerkrieg anzetteln sollten.

31. März 1964: Das Militär putscht. Unter dem Kommando des Generals Olympio Mourão Filho marschieren Truppen von der Stadt Juiz de Fora im Bundesstaat Minas Gerais nach Rio de Janeiro, wo der Präsident sich zu dem Zeitpunkt aufhielt.

1. April 1964: Der Präsident João Goulart fliegt nach Brasília. Um Blutvergießen zu vermeiden, geht Goulart ins Exil nach Uruguay. Die Militärs nennen ihren Militärputsch »Revolution«. Die Repression beginnt.

11. April 1964: Der Nationalkongress ernennt Marschall Humberto de Alencar Castello Branco zum Präsidenten.

27. Oktober 1965: Der Institutionelle Akt Nr. 2 löst alle bisherigen Parteien auf. Von nun an gibt es nur noch die herrschende Arena-Partei der Generäle und die Einheitsoppositionspartei MDB.

15. März 1967: Marschall Artur da Costa e Silva wird Präsident.

26. Juni 1968: Der studentische »Marsch der Hunderttausend« in Rio de Janeiro protestiert gegen die Diktatur. Mehr und mehr Personen gehen ins Exil.

13. Dezember 1968: Das Regime erlässt den Institutionellen Akt Nr. 5. (AI-5). Die Repression wird verschärft. Die sogenannte »bleierne Zeit« beginnt.

30. Oktober 1969: General Emílio Garrastazu Médici wird Präsident. Die Repression erreicht ihren Höhepunkt. Der Widerstand in Stadt- und Landguerillaaktionen wird von den Militärs massiv bekämpft. Dennoch gelingt es einzelnen Gruppen mehrmals, ausländische Botschafter zu entführen, um gegen diese politische Gefangene frei zu bekommen. Die ausgetauschten Gefangenen gehen in Länder wie Chile oder Algerien.

21. Juni 1970: Brasilien gewinnt in Mexiko die Fußballweltmeisterschaft. Das Regime nutzt den Triumph, um von der innenpolitisch schwierigen Lage im Land abzulenken.

15. März 1974: General Ernesto Beckmann Geisel wird zum Präsidenten ernannt. Geisel leitet den sogenannten »langsamen, graduellen und sicheren Übergang« ein.

15. März 1979: General João Baptista de Oliveira Figueiredo wird Präsident.

28. August 1979: Das Amnestiegesetz wird verabschiedet. Es amnestierte alle Taten, die in dem im Gesetzestext festgelegten Zeitraum zwischen dem 2. September 1961 und dem 15. August 1979 begangen wurden.

15. Januar 1985: Der der Opposition nahestehende Politiker und Anwalt Tancredo de Almeida Neves wird durch ein Wahlmännergremium zum ersten zivilen Präsidenten gewählt, verstirbt aber vor Amtsantritt. 15. März 1985: Statt Neves tritt dessen Vize José Sarney den Posten des Präsidenten Brasiliens an. cru




Militärarchive öffnen

Brasilien: Diktaturverbrechen sollen ans Licht ***

Brasiliens Militär will eine Öffnung seiner Archive für die Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen während der Militärdiktatur (1964-1985) akzeptieren.

São Paulo. Brasiliens Verteidigungsminister Celso Amorim teilte in einem Brief an die Mitglieder der Nationalen Wahrheitskommission die Archivöffnung mit, wie die Tageszeitung »Estado de São Paulo« berichtete. Die Wahrheitskommission und Opferverbände drängen das Militär schon lange, geheim gehaltene Dokumente zur Aufarbeitung von Mord und Folter zur Verfügung zu stellen.

Die sieben Mitglieder der 2012 eingesetzten Wahrheitskommission sollen alle Menschenrechtsverbrechen von 1946 bis 1988 untersuchen. Am 31. März jährte sich der Jahrestag des Militärputsches zum 50. Mal. In ganz Brasilien finden Gedenkveranstaltungen statt.

Die Archive der Streitkräfte sind als geheim eingestuft und für Zivilisten nicht zugänglich. Der Wahrheitskommission wurden bislang nur interne Untersuchungsberichte der Streitkräfte über einen Zeitraum von 1980 bis 1990 vorgelegt, die aber unvollständig waren und keine Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen enthielten. An den internen Untersuchungen beteiligten sich auch nur Teile des Militärs aus den Bundesstaaten Rio de Janeiro, São Paulo, Pernambuco und Minas Gerais. Militäreinheiten aus dem Bundesstaat Pará nahmen nicht teil. Ihnen wird vorgeworfen, 41 Guerillakämpfer der Bewegung Araguaia Anfang der 70er Jahre hingerichtet zu haben. Leichen wurden niemals gefunden.

Der Koordinator der Wahrheitskommission, Pedro Dallari, betonte, dass ein Zugang zu den Archiven für die Arbeit der Kommission entscheidend sei.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 3. April 2014


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