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Rousseff setzt Wahrheitskommission ein

Brasilien arbeitet Verbrechen der Militärdiktatur auf

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

Brasilien hat den Weg für die Aufarbeitung der Diktaturverbrechen frei gemacht. Eine Nationale Wahrheitskommission soll bis 2014 zahlreiche Fälle von Folter und Mord aufklären.

Dilma Rousseff hat es geschafft: 26 Jahre nach Ende des brasilianischen Militärregimes (1964-85) ist die lange geforderte Wahrheitskommission unter Dach und Fach. Die linke Präsidentin unterzeichnete am Freitag zudem das Gesetz über den Zugang zu Information, das die staatlichen Behörden zu Transparenz verpflichtet. »Es ist ein entscheidender Schritt zur Festigung der Demokratie in Brasilien«, sagte Rousseff, die als Studentin in den Untergrund gegangen war und dies mit Folter und fast dreijähriger Haft bezahlt hatte.

Militärs und konservative Politiker wehrten sich jahrzehntelang gegen eine Aufarbeitung der Diktaturverbrechen. Rousseffs Vorgänger Lula da Silva (2003-2010) war diesem Konflikt lange ausgewichen, erst in seinem letzten Amtsjahr brachte er die Wahrheitskommission auf den Weg.

Auch beim Staatsakt hörten die Chefs der Streitkräfte Rousseffs Rede mit versteinerter Miene zu. In letzter Minute hatte Verteidigungsminister Celso Amorim durchgesetzt, dass entgegen der Planung kein Angehöriger der Diktaturopfer reden durfte. Rousseff betonte, es gehe nicht um Rache, sondern um Aufklärung.

Möglich wurde die Wahrheitskommission, weil weiterhin keinerlei Bestrafung der Folterer und Mörder in Uniform vorgesehen ist. Erst 2010 bestätigte der Oberste Gerichtshof das Amnestiegesetz von 1979, mit dem der langsame Übergang zur Demokratie eingeleitet wurde. Genau dieses Gesetz müsse noch widerrufen werden, forderte nun UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay. Verbrechen gegen die Menschlichkeit können nach ihrer Auffassung nicht verjähren.

Während der Herrschaft der Generäle wurden in Brasilien zwischen 400 und 500 Oppositionelle ermordet - in Pinochets Chile waren es über 3000, in Argentinien an die 30 000. Dort wurden bereits 262 Schergen verurteilt. In Brasilien dagegen setzte man bisher auf Entschädigungen für 11 000 Diktaturopfer.

Die Wahrheitskommission, deren Bericht 2014 vorliegen soll, sei ein »wichtiger Schritt«, meint der Menschenrechtler Jair Krischke. »Aber natürlich werden auch wir auf ein Ende der Straflosigkeit drängen.« Er befürchtet allerdings eine mangelhafte Ausstattung der Kommission. Bislang sind nur sieben Kommissare und 14 Assistenten vorgesehen. Für ihren Bericht über den langen Zeitraum von 1946 bis 1988 haben sie nur zwei Jahre. »Die Wahrheitskommission in Südafrika hatte über 400 Helfer«, gibt Krischke zu bedenken.

Mit gemischten Gefühlen reagierten Repressionsopfer und ihre Angehörigen. »Wir wurden überhaupt nicht gehört, Dilma hat uns nicht einmal empfangen«, schimpfte der Kommunist Jarbas Marques, der nach zehnjähriger Haft mit schweren körperlichen Schäden entlassen wurde. »Aber immerhin können wir jetzt manche Schandtat öffentlich machen.«

Auch Atila Roque von Amnesty International hofft auf Fortschritte. »Noch heute agiert die Polizei wie unter der Diktatur, oft unter dem Beifall der Bevölkerung«, sagt er. Aufklärung über die Verbrechen der Vergangenheit könne dem abhelfen, jetzt sei die brasilianische Gesellschaft reif dafür.

Aus: neues deutschland, 22. November 2011


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