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Brasiliens Landlose jetzt für Lula

Herausforderer Alckmin liegt vor der Stichwahl um die Präsidentschaft hoffnungslos zurück

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

Bei der Stichwahl in Brasilien am Sonntag ist dem Amtsinhaber Lula der Sieg nicht mehr zu nehmen – auch, weil die Linke und die sozialen Bewegungen fast geschlossen hinter ihm stehen.

Luiz Inácio »Lula« da Silva steht vor einem glänzenden Wahlsieg. Letzten Umfragen zufolge liegt er gut 20 Prozentpunkte vor seinem rechtsliberalen Herausforderer Geraldo Alckmin. Im Zweikampf mit dem trockenen Technokraten konnte sich der Präsident als »Mann des Volkes« profilieren – und als erfolgreicher Staatschef. 53 Prozent aller Brasilianer finden die Arbeit seiner Regierung »optimal« oder »gut«, hat das Meinungsforschungsinstitut Datafolha soeben ermittelt – ein Rekordwert.

In drei Fernsehdebatten parierte Lula, der gestern 61 Jahre alt wurde, die Angriffe seines Rivalen zunehmend souverän. Keiner seiner Vorgänger habe sich im Kampf gegen die Korruption so engagiert wie er, behauptet der Staatschef. Und obwohl er in der Wirtschafts- und Sozialpolitik kaum neue Akzente gesetzt hatte, gelang es ihm jetzt, Alckmin in die Defensive zu drängen. Der Parteifreund des früheren Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) wolle die letzten lukrativen Staatsbetriebe privatisieren, warnte Lula immer wieder. Mit dieser polarisierenden Rhetorik dürfte er Millionen enttäuschter Wähler zurückgewinnen.

Bei näherem Hinsehen sind die Gemeinsamkeiten bei den Wahlprogrammen der Rivalen jedoch beträchtlich. Umso vehementer hat die Linke in den letzten Wochen die Unterschiede hervorgehoben. »Ein Sieg Alckmins wäre ein Sieg der bürgerlichen Klasse, die mit den Interessen des internationalen Kapitals verbunden ist und das neoliberale Projekt in Brasilien festigen möchte«, warnte etwa João Pedro Stedile, der Chefkoordinator und ideologische Kopf der Landlosenbewegung MST. »Brasilien würde wieder stärker in den Einflussbereich der USA-Regierung gerückt.« Zwei Wochen lang machten gut 100 Landlose in Canoas, einer Industriestadt nördlich von Porto Alegre, Wahlkampf für Lula. Motiviert sind sie allerdings eher durch den linken Gouverneurskandidaten Olívio Dutra, der als Landesvater des Bundesstaates Rio Grande do Sul zwischen 1999 und 2002 immerhin 4800 Familien angesiedelt hat. Der 65-jährige Schnauzbart, ein Weggefährte Lulas seit den späten siebziger Jahren, gilt als integre, gradlinige Integrationsfigur – ganz anders als jene Lula-Vertrauten, die sich in den letzten Jahren in diverse Korruptionsskandale verstrickt haben.

Die Landlosen kreiden Lula jedoch vor allem an, dass er ihre hoch gesteckten Erwartungen auf eine Agrarreform enttäuscht hat. Statt der 470 000 Familien, die während seiner ersten Amtszeit ein eigenes Stück Land bekommen sollten, waren es in ganz Brasilien bislang nur 150 000 Familien.

João Carlos Amaral, der jetzt die Wahlkampfhilfe in Canoas koordiniert, hat vor vier Wochen erstmals nicht für Lula, sondern für die Sozialistin Heloísa Helena gestimmt, die 2003 auf Betreiben von Lulas Mehrheitsströmung aus der Arbeiterpartei (PT) ausgeschlossen wurde. Für den 39-Jährigen ist der Präsident schlicht das »kleinere Übel«. »Doch im Unterschied zu den letzten Monaten ist jetzt die Klassenfrage deutlich geworden«, sagt er. »Alckmin ist der Kandidat der Reichen.«

Die Offensive des rechtsliberalen Bürgerblocks, der praktisch von der gesamten Presse massiv unterstützt wurde, ist ins Leere gegangen. Nach einem regelrechten Triumphzug durch eine Straße in Canoas kann es sich der siegessichere Präsident leisten, fast seine ganze Rede der Lage in Rio Grande do Sul zu widmen, wo eine Parteifreundin Alckmins gegen Olívio Dutra in Front liegt. »Wir haben gezeigt, dass wir mit Liebe und Respekt für das Volk sorgen können«, ruft Lula zum Schluss, »für Schwarze, Weiße, Japaner, Indianer, Frauen, Männer, Kinder und Rentner«. Die Inflation sei im Griff, für Lebensmittel müssten die Menschen weniger Geld ausgeben als früher. »Nun müssen wir mehr Einkommen verteilen und mehr in die Bildung investieren.« João Carlos Amaral lächelt zufrieden. An der Wiederwahl des Präsidenten sei nicht mehr zu rütteln, meint er: »Unter Lula können wir besser an unserem eigenen Projekt arbeiten – er verzichtet wenigstens auf Repression. Echte Reformen, die über Almosen hinausgehen, gibt es aber nur, wenn wir weiterhin von unten Druck machen.«

* Aus: Neues Deutschland, 28. Oktober 2006


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