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Enttäuschung über Präsident Ignácio "Lula" da Silva hält sich in Grenzen

Die Wiederwahl des einstigen Hoffnungsträgers Brasiliens dürfte feststehen. Am 1. Oktober wird außerdem ein neues Parlament gewählt

Am 1. Oktober finden in Brasilien Wahlen statt. Unter anderem steht die Wiederwahl des Präsidenten Lula an - niemand zweifelt daran, dass er das Rennen machen wird.
Im Folgenden dokumentieren wir drei Beiträge, die auf der "Schwerpunkt"-Seite der Tageszetung "junge Welt" am 29. zwei Tage vor der Wahl erschienen sind.



Kaum eine andere Wahl

Am Sonntag stimmt Brasilien über ein neues Parlament ab – und über den Präsidenten

Von Timo Berger *


In Brasilien sind am Sonntag 125 Millionen Bürger gesetzlich verpflichtet, ihre Stimmen abzugeben. Gewählt wird neben Regionalparlamenten und Gouverneuren auch das nationale Parlament in Brasilia und der Präsident. Für die führende Funktion in dem Staat am Amazonas gibt es einen eindeutigen Favoriten: Es ist der seit 2002 regierende ehemalige Hoffnungsträger der Linken.

Kaum jemand zweifelt ernsthaft daran, daß Luiz Inácio »Lula« da Silva die meisten Stimmen auf sich vereinen wird. Nur, ob es schon im ersten Wahlgang zur notwendigen absoluten Mehrheit reicht, ist seit Veröffentlichung der jüngsten Umfragen, die ihn bei 47 Prozent sahen, unklar. Wenn nicht, dann müßte der Kandidat der Partei der Arbeiter (PT) gegen den Zweitplazierten am 29. Oktober in die Stichwahl. Der Abstand zu seinem größten Widersacher, dem Sozialdemokraten Geraldo Alckmin (PSDB), hat sich in den vergangenen Tagen um vier Punkte auf 14 Prozent verringert.

Schuld am gesunkenen Zuspruch für Lula ist ein neuerlicher Skandal. Vergangene Woche verhaftete die Polizei Mitglieder der Regierungspartei PT, die ein geheimes Dossier über Korruptionsfälle im gegnerischen Lager aufkaufen und dies an die Presse lancieren wollten (siehe Spalte rechts). Während die rechte Opposition im Wahlkampfendspurt versucht, den Vorgang politisch auszuschlachten, gibt sich Lula weiter siegesgewiß: »Diese Wahlen gewinnen wir am Sonntag.« Das gegnerische Lager, eine Allianz aus den in Brasilien nach rechts ausgescherten Sozialdemokraten der PSDB, der rechtsliberalen PFL und der PPS, einer Abspaltung der PSDB, hat weder personell noch programmatisch viel zu bieten und orientiert zumindest innenpolitisch auf ein Weitermachen in Lula Fußspuren.

Die einzige linke Gegenkandidatin ist die Ex-PT-Senatorin Heloísa Helena, die 2005 aus der PT ausgeschlossen wurde, weil sie die Reform der Sozialversicherung nicht mittragen wollte. Helena liegt in Umfragen bei neun Prozent der Stimmen.

Der Erfolg der Regierung mißt sich an zwei Indikatoren: Zum einen hat es Lula innerhalb von vier Jahren geschafft, die sozialen Bewegungen, mit deren Unterstützung er einst angetreten war, weitgehend einzubinden – indem er einige ihrer führenden Köpfe in sein Kabinett holte, andere mit einer Hinhaltetaktik bei ihrer Basis diskreditierte. Zum anderen findet Lula heutzutage bis weit in die Unternehmerschaft und beim städtischen Bürgertum Zuspruch, weil er die Inflation unter Kontrolle gebracht und für ein leichtes Wirtschaftswachstum gesorgt hat. Auch entstanden neue Arbeitsplätze.

Gleichzeitig hat der Sozialist allerdings an der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Vorgängerregierungen festgehalten. Trotz gelegentlicher rhetorischer Ausbrüche klammerte sich Lula stärker noch als sein Vorgänger Henrique Fernando Cardoso (PSDB) an die Vorgaben des Internationalen Währungsfonds. Um das Vertrauen der Finanzorganisation und der Märkte zu gewinnen, vereinbarte Lula noch vor seinem Amtsantritt 2002, jährlich einen Überschuß im Staatshaushalt zu erwirtschaften. 2005 fiel dieser sogar mit 4,84 Prozent höher aus als das angestrebte Ziel von 4,25 Prozent.

In Folge dessen blieb wenig Spielraum für soziale Projekte. Das im Wahlkampf groß angekündigte »Null-Hunger-Programm« erwies sich als zweischneidig. 45 Millionen armer Menschen erhielten zwar monatlich umgerechnet 250 Millionen Euro und Lula sicherte sich durch die Transferleistungen Sympathien – und auch Stimmen – unter den Ärmsten der Armen. Doch an der grundsätzlichen sozialen Schieflage Brasilien änderte sich nichts. Im Gegenteil entstanden neue Abhängigkeiten, und immer noch leben 18 Prozent der Bevölkerung am Rande oder unter dem Existenzminimum. Während andere Länder Lateinamerikas die Ursachen dieser Strukturprobleme angehen, indem sie beispielsweise Analphabetisierungs- und Ausbildungsprogramme starten, verschärften sich im größten Land des südamerikanischen Kontinents die sozialen Gegensätze weiter.

Indes hat Lula da Silva trotz seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik den Plänen der USA für eine panamerikanische Freihandelszone eine Abfuhr erteilt. Ihm gehe es darum, was gut sei für Lateinamerika, erklärte er. Welche Rolle diesbezüglich dem zukünftigen Verhältnis zu Bolivien, mit dem es derzeit heftigen Streit um die Energiepolitik gibt, zu Venezuela und zu Kuba – den drei Hoffnungsträgern nicht nur der Region – zukommen wird, muß abgewartet werden.

* Aus: junge Welt, 29. September 2006


»Eine Kerze für Gott, eine für den Teufel«

Warum die Armen trotz alledem den brasilianischen Präsidenten wiederwählen. Ein Gespräch mit Rose Marie Muraro

Die Schriftstellerin Rose Marie Muraro gilt als die bekannteste Feministin Brasiliens. Sie gehörte zu den Gründerinnen der brasilianischen Frauenbewegung. *

Die vielen Korruptionsfälle, die heimlichen Monatsgehälter für Abgeordnete und zuletzt der Kauf des Geheimdossiers über den Oppositionspolitiker Serra haben die Regierung des Präsidenten in die Krise gestürzt. Die linken Intellektuellen, die Präsident Ignácio »Lula« da Silva immer unterstützt haben, haben lange dazu geschwiegen.

Ich habe während der ganzen Zeit nicht geschwiegen. Andere schon, denn sie waren von Lula enttäuscht. Aber ich werde ihn wieder wählen. Meine Enttäuschung richtet sich eher gegen seine Wirtschaftspolitik. Ich wähle ihn, obwohl ich eigentlich genug von ihm habe. Aber ich kann nicht für Geraldo Alckmim (PSDB) stimmen. Der ist ein extremer Rechter.

Sie sind also nur von der Wirtschaftspolitik Lulas enttäuscht?

Ich hatte mir Hoffnungen gemacht. Ich dachte Lula würde das neoliberale Modell ablösen, aber das hat er nicht getan. Dennoch erkenne ich an, daß das Programm für arme Familien zu einem Wirtschaftswachstum von zehn Prozent im Nordosten Brasiliens geführt hat. Deom Hélder Câmara (der verstorbene Erzbischof von Olinda) hat mich aber gelehrt, daß man, wenn man Essen gibt, gleichzeitig die Strukturen reformieren muß. Die Armen sagen dennoch: »Lula tut etwas für mich« und »Wenigstens haben die Leute heute etwas zu essen«.

Dann haben also die Untersuchungen recht, die sagen, daß Lula von den Armen gewählt wird?

Die Armen werden von ihrer Geburt an enteignet. Lula weiß das. Er floh selbst vor Hunger aus Garanhuns. In einer meiner Untersuchungen habe ich dargestellt, wie die Töchter von Landarbeitern mit der Erfahrung aufwachsen, daß ihre Bedürfnisse nie befriedigt werden, ihr Hunger nie gestillt wird. Sie sehen ihre Mütter, die als Frauen bereits die Unterdrückung durch ihren Mann und ihre Eltern erfahren. Diese Töchter werden passiv, sie warten auf die Hilfe Gottes, ihre Erlösung. Wenn sie immer gut sind als Arme, wird ihnen gesagt, dann kommen sie in den Himmel. Gleichzeitig erfahren sie die Unterdrückung durch den Großgrundbesitzer, den Machismo, die Staatsmacht.

Die Armen verbinden Lula also nicht mit Korruptionsskandalen?

Korruptionsskandale entsprechen der Logik der Mittelklasse, die Armen denken nicht so. Wir leben mit einer Doppelmoral. Die Armen werden immer von den Herrschenden ausgeraubt, weil die Armen ehrlich sein müssen und die anderen nicht. Der Fall des Geheimdossiers (s. Spalte) ist entlarvend. Man stellt keine Nachforschungen über die Verwicklungen Serras an, sondern nur über die der Partei der Arbeiter (PT). Die Medien haben ihre Scheinwerfer allein auf Lulas Partei gerichtet.

Heißt das, daß sich alle ohne Unterschiede unethisch verhalten?

Ich sage, moralisch innerhalb eines unmoralischen Systems zu sein, bedeutet, das Unmoralische zu legitimieren. Das Volk kriegt immer zu hören, daß es ehrlich sein soll, obwohl es enteignet wurde. Heute denkt es: Ich werde jemanden wählen, der etwas für mich tut, der mir Essen gibt. Das, was das Volk tut, ist ethisch, denn es verteidigt sein Leben. Wer den Armen Essen gibt, wird meine Stimme erhalten. Der Heilige Thomas von Aquin hat bereits gesagt, wenn du Hunger hast, hast du das Recht zu stehlen. Kein Präsident vor Lula hat die Armen so begünstigt wie er.

Das rechtfertigt also die Bestechungsgelder und die Korruption?

Für die Bestechungsgelder ist die PFL (Koalitionspartner der PT) verantwortlich. Roberto Jefferson (Exabgeordneter der PT, der die Bestechungen publik machte) hat gesagt, daß die PT sich nicht bereichert habe. Andere Regierungen haben unterschiedslos gestohlen. Die heimlichen Monatsgehälter bedeuten wenig im Vergleich zu den Milliarden aus den Privatisierungen unter dem vorherigen Präsidenten, Fernando Henrique Cardoso. Das war die korrupteste Regierung.

Also hätte die Regierung gar nicht anders handeln sollen?

Doch. Ich wäre ins Fernsehen gegangen und hätte gesagt: Ich muß diese Gesetze zur Abstimmung vorlegen, sie sind gut für die Bevölkerung, aber der Kongreß will sie nicht annehmen. Aber wie soll man regieren, wenn im Parlament die Partei der Großgrundbesitzer, der Bauunternehmer, der pharmazeutischen Industrie, der Banken und der Industrieunternehmen sitzt? Was Lula hätte tun sollen, ist, die Wirtschaftspolitik zu ändern, die diese Elite begünstigt. Aber er hat eine Kerze für Gott und eine für den Teufel angezündet.

Interview: Moisés Mendez (für die brasilianische Zeitung Zero Hora, Porto Alegre)

Übersetzung: Timo Berger

* Aus: junge Welt, 29. September 2006


Schlammschlacht

Das geheime Dossier *

Der brasilianische Wahlkampf gleicht einer Schlammschlacht. Kriminelle Methoden gehören dazu. Vergangene Woche flog auf, daß Mitglieder der Regierungspartei PT versucht hatten, ein geheimes Dossier zu kaufen, in dem Beweise für die Verwicklung hochrangiger politischer Gegner in eine Korruptionsaffäre enthalten sein sollen. Das betrifft vor allem den Sozialdemokraten José Serra. Dieser soll während seiner Zeit als Gesundheitsminister (1998–2002) Mitglied der sogenannten »Krankenwagenmafia« gewesen sein. Ambulanzfahrzeuge wurden in Brasilien jahrelang zu überhöhten Preisen an Gemeinden verkauft. Mehr als 80 Parlamentarier profitierten von diesem illegalen System, über den der Raub öffentlicher Gelder organisiert wurde.

Serra tritt nun bei den ebenfalls am Sonntag stattfindenden Wahlen in den Bundesstaaten für den Gouverneursposten in São Paulo an. Der Kandidat der PT, Aloizio Mercadante, lag bisher Umfragen zufolge in dem wirtschaftlich wichtigsten Bundesstaat weit abgeschlagen hinter Serra. Die großen meinungsprägenden Medien Brasiliens unterstellen deshalb inzwischen, daß die PT von São Paulo hinter der Kaufaktion steckt. Das Dossier sollte von einem Unternehmer erstanden werden, der selbst als Hauptakteur der »Krankenwagenmafia« gilt. Doch bevor es zum Deal kam, verhaftete die Polizei am 15. September zwei PT-Mitglieder, die Geldscheine im Wert von umgerechnet 790 000 Dollar bei sich trugen.

Auch wenn Lula seine Parteigenossen scharf kritisierte – »mit Banditen macht man keine Geschäfte« – schadet ihm der Skandal enorm. Zudem studiert zur Zeit das oberste Wahlgericht den Fall. Unklar ist vor allem, woher die hohe Geldsumme für den Kauf stammt. Sollte richterlich festgestellt werden, daß der Präsident auch nur von dem Vorgang wußte, könnte seine zu erwartenden Wiederwahl sogar im nachhinein angefochten werden. Eine Entscheidung, so der Vorsitzende des Wahlgerichts am Wochenende, fällt nicht vor Ende des Jahres.

* Aus: junge Welt, 29. September 2006


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