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Vom Regen in die Traufe

Nach verheerenden Erdrutschen droht Bewohnern der Favelas von Rio de Janeiro Umsiedlung. Viele wollen jedoch bleiben

Von Norbert Suchanek *

Versagen der Kanalisation, Überschwemmung durch Regen- und Abwasser, damit einhergehender Verkehrskollaps, Stromausfall, in Schlammfluten versinkende Armensiedlungen, sogenannte Favelas: Seit Jahrzehnten herrscht in Rio de Janeiro während der regenreichen Monate zwischen Dezember und April Chaos. Diesmal ist die angekündigte Katastrophe noch größer. Die ergiebigsten Niederschläge seit 1966 lösten mehr als hundert Erdrutsche aus, die Dutzende von Häusern mit sich rissen. 251 Menschen starben, so die vorläufige Opferstatistik.

Allein in der etwa 9000 Bewohner zählenden Favela »Morro dos Prazeres« im zentralen Stadtteil Santa Teresa kamen 34 Menschen ums Leben. Weitere 46 Personen wurden bislang in der abgerutschten Favela »Morro do Bumba« in Rios Schwesterstadt Niterói tot geborgen. Der Katastrophenschutz schätzt, daß dort noch über 50 Bewohner unter den Schlamm- und Müllmassen begraben liegen. »Anders als bei Erdbebenkatastrophen wie in Haiti, wo man noch nach 15 Tagen Menschen lebend finden kann, ist es bei den Erdrutschen wie hier sehr schwer, Überlebende zu bergen«, erklärte ein Sprecher der Feuerwehr dazu.

Favelas sind nicht einfach nur »Slums« oder »Elendsviertel«. Zwar leben in den Siedlungen Menschen, die über wenig Einkommen verfügen. Dennoch haben viele »Favelados« einen bezahlten Job. Die Häuser sind in der Regel aus Ziegeln und Zement gebaut, meist mit den in Brasilien üblichen Dächern aus Asbestplatten, haben Strom und Wasseranschluß, Telefon, Fernsehen, Gefrierschrank. Kaum eine Favela, in der es keinen Fußballplatz sowie Kneipen, Geschäfte oder Kindergärten gibt. In einigen findet man sogar Pensionen speziell für Touristen. Was die Favelas in der Regel gemein haben, ist, daß sie in vielen Fällen illegal auf öffentlichem Grund entstanden sind - nicht selten sind diese Gebiete überschwemmungs- oder erosionsgefährdete Hangflächen. Fast täglich entstehen neue.

Gerade jene wilden Siedlungen an den einst mit Regenwald bestandenen Hängen und auf den »Morros« (Hügeln) sind tickende Zeitbomben. Ein paar Regentropfen zu viel, ein Haus mehr, und schon kommt der Berg ins Rutschen. Dies galt besonders für die noch junge Favela Morro do Bumba, die während der vergangenen Jahre auf einem mit Erde abgedeckten Müllberg- unter den Augen und mit Kenntnis der Behörden - wucherte.

Viele Bewohner wissen um das tödliche Risiko. Doch zum einen gilt das Prinzip Hoffnung. Zum anderen sind die meisten Betroffenen ohne Alternative, wollen sie in der Metropolenregion mit mehr als elf Millionen Einwohnern bleiben, den Job behalten und nicht wie Tausende andere auf der Straße leben.

Nun haben Landes- und Stadtregierung angekündigt, die Menschen aus den »Risikogebieten« schnellstmöglich in sichere Unterkünfte zu bringen. Zunächst sollen mehr als 200 Familien des Morro do Céu in Niterói umgesiedelt werden, wenn nötig durch Enteignung. Am Morro dos Prazeres ließ die Stadtverwaltung bereits 250 Häuser wegen akuter Gefahr räumen.

Die Behörden haben aber weit mehr vor. Im gesamten Stadtgebiet droht Favela-Bewohnern in 158 als gefährdet definierten Vierteln jetzt die Zwangsräumung. »Mehr als 4000 Familien, die auf Risikoflächen wohnen, werden sofort umgesiedelt«, zitieren Rio de Janeiros Medien Bürgermeister Eduardo Paes. Als erstes sollen die Bewohner des Morro dos Prazeres ihre Favela komplett aufgeben. Auch dort hatte eine Schlammlawine Anfang des Monats Todesopfer gekostet. Laut Zivilschutz seien dort 1395 Häuser zu demontieren, insgesamt will die Stadtregierung 4350 Gebäude in den Risikozonen abreißen lassen. Bürgermeister Paes: »Falls es Widerstand gibt, kommt die Polizei.«

Paes und Gouverneur Sérgio Cabral versprachen allerdings, alle Familien mit Würde und wenn möglich in Unterkünfte der näheren Umgebung umzusiedeln. So sollen etwa 1500 Familien des Morro dos Prazeres und der Favela Fogueteiro eine neue Heimstatt auf dem Gelände des erst vergangenen März gesprengten benachbarten Gefängniskomplexes Frei Caneca bekommen. 2300 Wohneinheiten sind geplant und der sofortige Start der Bauarbeiten.

Dennoch haben viele Bewohner bereits angekündigt, ihre Häuser nicht aufzugeben. »Wo sollen wir die nächsten zwei Jahre wohnen, bis die Häuser auf dem ehemaligen Gefängnisgelände fertig sind?« fragt Eliza Rosa Brandão, Präsidentin der Vereinigung der Bewohner des Morro dos Prazeres. »Unsere Gemeinde hier hat eine lange Geschichte, und die Familien wollen von hier nicht weg.« Der Erdrutsch sei zudem nicht durch den Regen, sondern eher aufgrund der Untätigkeit der Behörden geschehen. Schon lange zuvor hätten die Bewohner des Morro vergeblich die Stadt um Sicherungsmaßnahmen gebeten.

Auch der Historiker und Anthropologe Marcos Alvito von Rios Universität Fluminense (UFF) sieht den Aktionismus von Stadt- und Landesregierung kritisch. Die Verbringung von Tausenden von Bewohnern aus »Risikogebieten« sei möglicherweise nur Vorwand für die Beseitigung von Favelas, die anderen Projekten im Wege stünden. »Die Stadtregierung sagt, sie werde alle Bewohner des Morro dos Prazeres entfernen. Wieviel Zeit wird wohl vergehen, bis die Fläche wieder besiedelt ist?«

Der Professor befürchtet das Interesse von Immobilienspekulanten. Der Morro dos Prazeres beispielsweise liegt im bei Touristen immer beliebteren Stadtteil Santa Teresa, das dank seiner historischen Straßenbahn neben der Copacabana und dem Corcovado eines der Aushängeschilder Rios ist.

* Der Autor lebt und arbeitet im Stadteil Santa Teresa von Rio de Janeiro.

Aus: junge Welt, 19. April 2010



Rio will Bewohner von Favelas umsiedeln

Unwetterfolgen sollen sich nicht wiederholen

Von Andreas Knobloch **


Die Bewohner der Favelas in Rio de Janeiro sollen durch Umsiedlungen künftig besser vor Unwettern geschützt werden, die jüngst über 200 Menschenleben gefordert haben.

Die Umsiedlung von Favelabewohnern in Rio de Janeiro hat inzwischen einen rechtlichen Rahmen. Gouverneur Sérgio Cabral setzte ein Dekret in Kraft, durch das ein Programm »Morar Seguro« (Sicher Wohnen) ins Leben gerufen wurde. Die Risikozonen werden demnach in drei Kategorien eingeteilt. Wer in einem Gebiet der höchsten Gefährdungsstufe lebt, ist aufgefordert, sein Haus sofort zu verlassen. Im Falle einer Weigerung wird die Polizei zur Räumung eingesetzt. Eine Milliarde Reales (417 Millionen Euro) stellt die Regierung des Bundesstaates für den Bau neuer Wohnungen zur Verfügung. Bis die zur Verfügung stehen, übernimmt der Staat anfallende Mietkosten.

Nach Angaben der Feuerwehr starben im Großraum Rio durch Erdrutsche, die von den heftigsten Regenfällen seit mehr als vier Jahrzehnten ausgelöst wurden, insgesamt 229 Menschen. Die Stadtverwaltung schätzt, dass allein der Wiederaufbau zerstörter Gebäude und der Infrastruktur zwischen 200 und 250 Millionen Reales (80 bis 100 Millionen Euro) kosten wird. Der geplante Neubau von Wohnhäusern ist in dieser Summe noch nicht enthalten.

Schon vor dem Dekret hatte die Stadtverwaltung begonnen, die Bewohner von acht Favelas zu evakuieren und einsturzgefährdete Häuser zu zerstören. Insgesamt waren zunächst 3600 Familien von den Umsiedlungen betroffen. Einige erhalten Wohnungen auf dem früheren Gefängnisgelände von Frei Caneca im Zentrum der Stadt.

Zu den Umsiedlungen gibt es nach Expertenmeinung keine Alternative, allerdings bedürfe es weiterer Maßnahmen, damit die Betroffenen nicht wieder in Gebiete zurückkehren, wo »wilde« Bautätigkeit ihr Leben gefährdet. Einige Favelas sind zum Teil auf ehemaligen Müllkippen errichtet.

»Das grundlegende Problem dieses Programms ist sein Notplan-Charakter; es bräuchte ein nachhaltigeres Programm«, glaubt der Geograf Prof. Jailson de Souza, Koordinator der Nichtregierungsorganisation Observatório das Favelas. Er befürwortet örtliche Evakuierungen, lehnt aber die Umsiedlung ganzer Favelas ab. Eines der größten Probleme könnte sein, dass die Bewohner nach Verlassen ihrer alten Wohngegenden weder Arbeit noch Kindergärten oder Schulen fänden. »In der Vergangenheit ist genau das geschehen: Die Bewohner sind umgezogen, haben aber später ihre neuen Häuser verkauft und lebten danach in viel schlechteren Verhältnissen als zuvor«, gab Souza zu bedenken. Ähnlich äußert sich der Stadtplaner Pablo Benetti: Vor allem der öffentliche Transport sei wichtig, zumal sich viele Favelabewohner Fahrkarten nicht leisten können.

Nach Schätzungen der Stadtverwaltung sind in Rio de Janeiro rund 10 000 Häuser in geologisch riskanten Gebieten errichtet. Bis 2012 sollen sie beseitigt sein - um eine ähnliche Tragödie in Zukunft zu verhindern, aber auch als Teil der Umgestaltung der Stadt im Hinblick auf Olympische Spiele und Fußballweltmeisterschaft.

** Aus: Neues Deutschland, 20. April 2010


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