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"Noch weit von einer Revolution entfernt"

Brasilien: Proteste gegen Fahrpreiserhöhung haben sich laut Aktivisten zum Volksaufstand entwickelt. Ein Gespräch mit Vincente und Lorena Castillo *


Vincente und Lorena Castillo (Federação Anarquista Gaúcha) sind zwei der zentralen Organisatoren der Proteste in Porto Alegre, wo sie vom 10. Juli an für eine Woche die Stadtversammlung besetzt hielten.


Ihr Protest hat eine beachtliche Größe erreicht. Wie kam es dazu?

Vincente Castillo: Zur Zeit kann das etwas diffus wirken. Schon vor mehr als einem Jahr gründeten wir die Allianz für den Kampf für öffentlichen Nahverkehr. Wir begannen hier vor sieben Monaten gegen die Erhöhung der Buspreise zu mobilisieren. Da gab es plötzlich viel mehr Unterstützung für unsere Aktionen. Während letztes Jahr maximal 300 bis 400 Leute zu unseren Demos kamen, waren es dieses Jahr plötzlich 1000, 2000, dann 5000, 10000 und schließlich 50000 allein hier in Porto Alegre.

Warum gerade jetzt?

Lorena Castillo: Das ist schwer zu sagen. Auch in anderen Teilen der Welt kann man ja Proteste dieser Art sehen. Unsere haben aber auch mit der speziellen brasilianischen Kultur und Geschichte zu tun. Dabei denke ich an die Tradition der Putsche und der sehr elitären Form von Demokratie, von der viele sich nicht repräsentiert fühlen.

Vincente Castillo: Ich glaube, die Bevölkerung ist einfach nur der politischen Entwicklung müde. Dafür ist auch die Fußballweltmeisterschaft verantwortlich, die hier in Brasilien 2014 abgehalten werden soll. Dafür werden Straßen verbreitert, was dazu führt, daß viele Familien umziehen müssen und Naturschutzgebiete zerstört werden. Ein anderer wichtiger Faktor ist, daß das Internet immer weitere Teile der Bevölkerung erreicht, was solche Mobilisierungen vereinfacht.

Kann man sagen daß es sich dabei um eine Revolution handelt?

Lorena Castillo: Es ist eine Art Volksaufstand. Es ist ein interessanter Prozeß, den es so in den letzten 30 bis 40 Jahren nicht gab, aber es ist noch weit von einer Revolution entfernt. Es geht jetzt erst mal darum, Leute an der Basis zu organisieren.

Wie koordinieren Sie sich dabei?

Vincente Castillo: Hier in Porto Alegre haben wir den Vorteil, daß wir die Allianz für den Kampf für öffentlichen Nahverkehr schon gegründet hatten. Da sind so gut wie alle außerparlamentarischen linken Gruppen vertreten. In den anderen anderen Städten wurden die Proteste größtenteils über das Internet organisiert. Da hat sich bisher nicht die gleiche Form von Zusammenhalt entwickelt. Es gab mehrere interne Auseinandersetzungen – auch Teile der Rechten versuchten, die Proteste für ihre Zwecke zu nutzen. Sie schlugen nationalistische Parolen wie »Für ein starkes Brasilien« oder verschwommene wie »Gegen die Korruption« vor, als ob Korruption nicht einfach Bestandteil des Systems sei.

Ihre Proteste haben schon erste Ziele erreicht. Sie haben aber den Themenkatalog erweitert.

Vincente Castillo: Der Buspreis wurde von drei auf 2,80 Reais gesenkt. Auf nationaler Ebene wird jetzt ein Gratisticket für Studenten und Arbeitslose diskutiert. Es ist natürlich, daß wir weitere Forderungen stellen. Darunter fällt auch das Recht auf ein besseres Gesundheits- und Ausbildungssystem.

Nach Medienberichten sind die Demonstranten gegen politische Parteien. Wie wollen Sie dann die Machtfrage stellen?

Lorena Castillo: Es ist falsch, daß wir gegen Parteien an sich sind. Wir glauben nur nicht an das repräsentative System. Es geht mir auch nicht darum, die Macht zu ergreifen. Die Arbeiter und Studenten, die an diesen Demonstrationen teilnehmen, sehen die Bewegung nicht unbedingt in Relation zu historischen linken Bewegungen, die die Macht in einem parlamentarischem System ergriffen haben. Wir brauchen sozialistische, libertäre Projekte, aber es gibt kein Rezept dafür.

Kritiker sagen, Ihre Proteste gegen eine moderat-linke Regierung und Ihre Ablehnung von Parteien könnten zu einem Militärputsch oder zur anderweitigen Installation einer faschistischen Regierung führen. Haben Sie davor keine Angst?

Vincente Castillo: Nein. Die großen Unternehmer, die bestimmen, ob es einen Militärputsch gibt oder nicht, verdienen auch so schon gut und haben keinen Grund dazu. Dann gibt es die extreme Rechte, die einen Militärputsch haben will, weil sie meinen, ihre Nation ist dabei, sich aufzulösen. Aber die sind nicht klug genug und auch nicht gut genug organisiert, um so etwas durchzuführen.

Interview: Johannes Wilm

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 25. Juli 2013


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