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"Krankenhäuser mit FIFA-Standard"

Brasiliens Demonstranten fordern Investitionen in das Gesundheitssystem statt in den Bau von Stadien

Von Andreas Behn, Rio de Janeiro *

Seit zehn Tagen gehen in Brasilien ungezählte Menschen auf die Straße, um gegen soziale Ungleichheit, Korruption und die hohen Ausgaben für Sport-Großereignisse zu protestieren. Am Donnerstag war Rio de Janeiro das Zentrum der Proteste.

Das Maracanã, der legendäre Fußballtempel in Rio de Janeiro, blieb diesmal von Protesten verschont. Unbehelligt rang Spanien Tahiti sportlich mit zehn zu null nieder, während im Zentrum die Läden bereits um 15 Uhr die Läden herunter ließen. Nicht zu Unrecht. Wenig später sammelten sich 300 000 Menschen an der Candelaria-Kirche und brachen zu einem eindrucksvollen Demonstrationszug auf. Die Polizei, die sich zuletzt zurückgehalten hatte, nachdem ein brutaler Einsatz in São Paulo vor einer Woche die Protestwelle erst richtig ins Rollen gebracht hatte, setzte auf Konfrontation. Vor dem Rathaus griff sie den friedlichen Zug mit Tränengas und Gummigeschossen an, der Auftakt zu Auseinandersetzungen, die sich bis spät in die Nacht hineinzogen. Es war der bisher größte Protesttag für bessere öffentliche Dienstleistungen in Brasilien.

In über 100 Städten gingen am Donnerstagabend über eine Million Menschen auf die Straße. An mehreren Orten kam es zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Hunderte Menschen wurden verletzt, viele wurden festgenommen. Ein Mann starb während der Proteste in der Stadt Ribeirão Preto, als ein Fahrer sein Auto in die Demonstration lenkte. Aufgrund der gespannten Lage im Land verschob Präsidentin Dilma Rousseff eine Reise nach Japan. In der Hauptstadt Brasília verhinderten massive Polizeikräfte einen Sturm auf das Außenministerium. Zehntausende belagerten stundenlang das Regierungsviertel. In vielen Städten wurden Autos angezündet und Fensterscheiben eingeschmissen. Die Polizei ging mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor.

Der Protest richtet sich gegen Korruption in der Politik und Verschwendung von Steuergeldern. Kritisiert werden auch die milliardenschweren Ausgaben für die Fußball-WM im kommenden Jahr und die Olympischen Spiele 2016. Die Menschen verstehen nicht, warum es nach Jahren boomender Wirtschaft so wenig Geld für das Gesundheitssystem gibt, warum die staatliche Universitäten oft überfüllt und baufällig sind. Alle fragen sich in Brasilien, wie so plötzlich eine so große Protestwelle entstehen konnte. »Brasilien ist aufgewacht« skandieren die Demonstranten. Auf selbst gemalten Pappschildern tragen sie ihre Forderungen vor. »Wir wollen Krankenhäuser mit FIFA-Standard« oder »Korrupte Politiker, euer Mandat ist begrenzt, das unsere nicht.« Es ist in erster Linie eine urbane Protestbewegung. Getragen wird sie vor allem von Studenten und jungen Leuten aus der Mittelschicht. Viele von ihnen waren bis vor wenigen Wochen noch nicht politisch aktiv.

In den Städten, insbesondere in den beiden Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro, ist der Kontrast zwischen schneller wirtschaftlicher Entwicklung und veralteten Stadtplanungskonzepten besonders deutlich. Die Zahl der Autos ist in zehn Jahren sechsmal so schnell gestiegen wie die Bevölkerung. Da die Städte auf individuellen Verkehr ausgerichtet sind, kommt es täglich zu kilometerlangen Staus. Es wurde versäumt, in öffentlichen Nahverkehr zu investieren, Konzepte für eine gerechte, lebenswerte Stadt gibt es nicht. So wird der Alltag zu einem Problem, für alle. Und das Vertrauen in die Politiker schwindet. Auch die Investitionen für die Fußball-WM und die Olympischen Spiele wurden kaum für eine bessere Nutzung des öffentlichen Raumes genutzt. »Die neuen Verkehrswege verbinden nur die reichen Touristenviertel mit den Spielstädten oder dem Flughafen«, kritisierte der Urbanistikprofessor Orlando dos Santos Junior. Schon mit weit weniger Geld hätte Rio de Janeiro einen vernünftigen öffentlichen Nahverkehr aufbauen können, so Dos Santos Junior. Aus Sicht der Demonstranten sind die Ausgaben für die Sportveranstaltung eine Fehlinvestition, die an den Bedürfnissen vorbeigeht. So nutzen sie den Confed-Cup, der zur Zeit in Brasilien zur Vorbereitung auf die WM stattfindet, als Bühne, um ihren Protest deutlich zu machen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 22. Juni 2013


Brasilien steht kopf

Proteste auf neuem Höhepunkt. Erfolg bei Fahrpreisen, Kampf für soziale Rechte geht weiter. Wieder Polizeigewalt

Von Peter Steiniger **


Der Proteststurm hat noch einmal an Stärke zugelegt: Hunderttausende waren am Donnerstag in Rio de Janeiro und São Paulo auf der Straße, mehr als eine Million Teilnehmer insgesamt wurden bei neuen Demonstrationen für ein gerechteres Brasilien in etwa hundert Städten im ganzen Land gezählt. An etlichen Orten kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Polizeikräften mit zum Teil bürgerkriegsähnlichen Zuständen und zahlreichen Verletzten. In Ribeirão Preto im Bundesstaat São Paulo wurde ein 18jähriger getötet, als ihn ein Autofahrer an einer von Demonstranten errichten Barrikade mit seinem Wagen erfasste. Präsidentin Dilma Rousseff (Arbeiterpartei – PT) verschob eine Auslandsreise, um sich am Freitag mit ihrem Kabinett in einer Krisensitzung zu beraten.

Schon unmittelbar vor den größten politischen Manifestationen in Brasilien seit zwei Jahrzehnten hatte die Bewegung einen konkreten Erfolg errungen: Die Erhöhungen der Fahrpreise im Nahverkehr, Auslöser der Auflehnung, wurden eilig wieder rückgängig gemacht oder die Tarife sogar gesenkt. Von São Paulo aus hatten sich die Proteste nach schweren Polizeiübergriffen rasant fortgepflanzt und zu einem wahrlichen Volksaufstand ausgeweitet. Die Bewegung für den Nulltarif (Movimento Passe Livre – MPL) und weitere soziale Basisgruppen geben sich mit dem Teilsieg nicht zufrieden. Auch aus den Linksparteien, darunter der PT gab es Aufrufe, sich sichtbar an den Demonstrationen zu beteiligen. Neben die Fahrpreis-Forderung traten rasch weitere Themen. Brasilianer sind vielleicht fußballverrückt, aber nicht blöd: Angeprangert werden Milliardenausgaben und Fehlinvestitionen im Zusammenhang mit der kommenden Fußball-WM und Olympia 2016. Für breite Unzufriedenheit sorgen Klientelismus und Korruption in Wirtschaft und Politik, bis in die PT hinein, sowie die Misere bei Gesundheit und Bildung.

In der Hauptstadt Brasília waren am Donnerstag die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt worden. An der Ost- West-Achse Eixo Monumental errichtete die Polizei Absperrungen, um die Demonstranten vom Congresso Nacional, dem Parlamentsgebäude, diesmal fernzuhalten. Etwa 30 000 Menschen beteiligten sich am Protestzug durchs Regierungsviertel. Am Palácio do Itamaraty, Sitz des Außenministeriums, eskalierte die Situation, Feuer brannten, die Polizei schoß mit Gummischrot und Tränengas. Besonders brutal war das Vorgehen der Krawalleinheiten in Rio de Janeiro, wo sich am Rande der größten Manifestation des Tages schwere Straßenschlachten am Amtssitz von Bürgermeister Eduardo Paes abspielten. Erneut ist auch von Polizeiprovokateuren die Rede. In São Paulo durften viele Angestellte im Geschäftsviertel um die Marschstrecke Avenida Paulista früher nach Hause gehen. Hier blieb es weitgehend friedlich. In den Mittelpunkt der Proteste rückt mehr und mehr eine umstrittene Verfassungsänderung. Kritiker sehen in der Vorlage »PEC 37«, welche die Zuständigkeit für die Untersuchung von Verdachtsfällen bei Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Bestechung im großen Stil den zentralen staatlichen Behörden aus der Hand nehmen möchte, einen Vorschub für Straflosigkeit bei solchen Verbrechen. Impunidade, não! – Nein zur Straflosigkeit! ist eine der neuen populären Losungen. Die nächste Etappe hat begonnen.

** Aus: junge Welt, Samstag, 22. Juni 2013


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