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Polizei übernimmt Favela

Brasilien: Dauerhafte Kontrolle des Gebietes in Rio soll sichergestellt werden

Von Andreas Knobloch *

Rio de Janeiros große Tageszeitung O Globo spricht von einer »neuen Ära« in Brasilien. In den frühen Morgenstunden am Sonntag drangen rund 3000 Polizisten und Marinesoldaten mit Panzerfahrzeugen und anderem schweren Gerät in die Favela Rocinha vor. Unterstützt wurden sie von Hubschraubern. Martialisch erscheinende Eliteeinheiten in schwarzen Uniformen patrouillierten in den Straßen, auf Dächern wurden Scharfschützen postiert.

Ein Kriegsszenario. Auch die benachbarten kleinen Favelas Vidigal und Chácara do Céu wurden besetzt. Nach zwei Stunden war die »Choque de Paz« (Friedensschlag) genannte Operation beendet. Die Polizei hatte die Kontrolle über Rocinha übernommen, ohne daß ein einziger Schuß abgefeuert wurde. Es gab lediglich vier Festnahmen. Zudem wurden größere Menge Drogen, Waffen, Munition und Bargeld sichergestellt. In den nächsten Tagen werden feste Posten der »Befriedungspolizei«, sogenannte Unidades de Policía Pacificadora (UPP), stationiert werden, wie man sie aus anderen Favelas kennt. Sie sollen die dauerhafte Kontrolle des Gebietes sicherstellen.

Die Operation in Rocinha wurde seit zwei Wochen vorbereitet. Im Vorfeld gab es 38 Festnahmen, darunter ein Militärpolizist und drei zivile Polizisten. Zudem sind mehrere Bandenführer verhaftet worden, als sie mit Hilfe korrupter Polizisten versuchten, aus Rocinha zu fliehen. Acht Verdächtige wurden bei Schußwechseln getötet. Am Mittwoch war der Polizei die Festnahme von Antônio Francisco Bomfim Lopes, alias »Nem« gelungen, als er versuchte, im Kofferraum eines Autos zu fliehen. Der 35jährige kontrollierte mutmaßlich den Drogenhandel in Rocinha. Bei seiner Vernehmung gab Nem an, rund eine Million Reais (rund 420000 Euro) im Monat mit Drogenhandel verdient zu haben. Die Hälfte der Summe sei als Bestechung an Polizisten geflossen. Namen nannte er nicht.

Die »Befriedung« der innerstädtischen Favelas ist Teil des Sicherheitskonzepts für die Fußball-WM 2014 und Olympia 2016. Mit der Einnahme von Rocinha und Vidigal wurde praktisch der »Sicherheitsring« um das Zentrum und den Süden Rio de Janeiros geschlossen.

Rios Bürgermeister, Sergio Cabral, äußerte sich zufrieden mit der Operation. Weniger euphorisch gaben sich die Bewohner von Rocinha. Gegenüber verschiedenen Zeitungen äußerten sie sich eher abwartend. Große Veränderungen werde es wohl nicht geben. Auch habe man unter der Ägide von Nem so schlecht nicht gelebt. Und was von der Polizei zu erwarten sei, faßte ein Bewohner gegenüber der Tageszeitung Folha de S. Paulo zusammen: »Der Drogenhandel wird zurückkehren, wenn sich die Aufregung gelegt hat. Nem war nur ein Repräsentant, der eigentliche Chef ist immer noch da. Meinen Sie, ein Polizist gibt sich damit zufrieden, 1000 Reais im Monat zu verdienen? Nach einiger Zeit sind alle korrupt.«

* Aus: junge Welt, 15. November 2011


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