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"Es muß noch viel getan werden"

Regierungswechsel in Brasilien. Der Präsident zieht nach acht Jahren Bilanz. Ein Gespräch mit Luiz Inácio "Lula" da Silva *


Luiz Inácio »Lula« da Silva (65) beendet am 1. Januar seine zweite Amtszeit als Präsident Brasiliens.

Herr Präsident, was war der Höhepunkt der vergangenen acht Jahre?

Es ist doch so, wenn Sie der Elite eines Landes angehören und ein Land regieren, können Sie danebenliegen oder nicht, es interessiert niemanden. Sie beenden ihre Amtszeit, ziehen für sechs Monate nach Harvard zurück und gehen danach an die Pariser Sorbonne-Universität – Sie können machen, was Sie wollen. Niemanden interessiert es, niemand fordert die Erklärung für irgendwelche Versprechen ein. Nach Monaten kommen Sie zurück, und Sie können sich zur Ruhe setzen.

Bei mir ist das anders. Ich kam aus der Fabrik, aus einfachen Verhältnissen, bevor ich schließlich Präsidentschaftskandidat geworden bin und auch noch gewählt wurde. Ich mußte jeden Tag beweisen, daß ich fähig bin, dieses Land zu regieren. Meiner Frau Marisa habe ich immer gesagt: »Wir dürfen nicht versagen. Wir müssen hart arbeiten. Denn wenn wir versagen, wird niemals mehr ein Arbeiter Präsident werden können.«

Ich bin also sehr glücklich, es geschafft zu haben, zu beweisen, daß jeder Brasilianer das machen kann, was ich gemacht habe. Das ist mein Höhepunkt.

Wovon sind Sie enttäuscht?

Zahlreiche Projekte konnten nicht umgesetzt werden. Es ist sehr schwierig, Brasilien zu regieren. Wir haben eine mächtige Kontrollmaschine erschaffen und haben eine schwache Exekutivmaschine. Es sieht doch so aus: Sie haben einen Ingenieur, der kontrolliert, ein Junge von 25 Jahren, der 20000 Reales (9000 Euro) im Monat verdient. Und Sie haben einen Ingenieur, der ausführt, der 30 Jahre dabei ist, der verdient 6000 Reales (2700 Euro) im Monat. Diese Diskrepanz zwischen dem, der arbeitet, und dem, der die Arbeit kontrolliert, ist in den vergangenen 25 Jahren immer stärker geworden. Und ich habe es nicht geschafft, dies zu ändern.

Ein weiteres Projekt war die Reform des UN-Sicherheitsrats ...

Wollen Sie, daß ich Ihnen sage, was ich denke? Solange es keine Reform des Sicherheitsrats gibt, wird er nicht repräsentativ sein. Die Vereinten Nationen dürfen die Welt des 21. Jahrhunderts nicht mit der Geopolitik von 1948 regieren. Die Führung der Welt ist wenig repräsentativ. Unilaterale Entscheidungen zu treffen ist nur im Interesse derjenigen, die Macht haben. Wir müssen die Multilateralität verstärken und die UN reformieren.

Das Vorgehen im Complexo do Alemão in Rio de Janeiro und die Installierung von Friedenspolizisten in einigen Favelas scheint erfolgreich zu sein. Es stellt sich die Frage nach den Kosten, vor allem, wenn das Projekt jetzt auf das gesamte Land ausgeweitet werden sollte.

Wir müssen eine Kosten-Nutzen-Rechnung machen. Also: Wieviel mußte investiert werden, um mit der Gewalt aufzuhören, um zu pazifizieren, um es der Comunidade zu ermöglichen, in Frieden zu leben, die Demokratie wiederherzustellen? Oder wieviel kostet es, wenn man nichts macht. Dann läßt man die Kriminalität eine Stadt wie Rio de Janeiro regieren? Man darf nicht nur auf die finanzielle Seite schauen. Man muß nach dem Wohlbefinden der Bevölkerung fragen, die Frieden verdient, die Frieden will und die Frieden braucht, um würdevoller leben zu können. Jede Investition ist gut. Es muß noch viel mehr getan werden.

Wichtig ist: Der Erfolg der Friedenspolizisten in Rio de Janeiro kann aufs Land übertragen werden. Es wird teuer. Aber ich bin überzeugt, es ist billiger, als wenn man Kinder und Jugendliche den Drogenhändlern überließe und die Menschen keine Ruhe fänden. Also, wenn es nötig ist, wird die Präsidentin Geld besorgen, und tun, was zu tun ist.

Wird Präsidentin Dilma Rousseff Ihre Politik weiterführen?

Lassen Sie mich eines klarstellen – und das ist der Garantieschein für die nächsten vier Jahre: Wenn Dilma ihr Amt antritt, wird sie mit 120 Kilometern pro Stunde durch Brasilien fahren und nicht anhalten. Sie darf nur nicht vom Weg abkommen. Am 1. Januar werde ich ihr das Amt übergeben, mit der Gewißheit, daß das Land in den kommenden sechs Jahren auf den fünften Rang der Wirtschaftsnationen aufrückt.

Sie sind für die Fußball-WM 2014 und Olympia 2016 zahlreiche Verträge eingegangen und haben Milliarden für den Bau von Stadien bewilligt. Glauben Sie nicht, daß Brasilien nach den Mega-Events das gleiche Schicksal droht wie Griechenland nach den Olympischen Spielen 2004?

Die WM ist so defizitär, daß sogar die Vereinigten Staaten sie nicht noch einmal ausrichten wollten. Trotzdem möchte jedes Land einmal die WM austragen. Es ist nicht nur eine Geldfrage. Die WM ist ein Spektakel, das einem Staat eine weltweite Aufmerksamkeit bringt. Schauen Sie, was mit China passiert ist, das die letzten Olympischen Spiele ausgerichtet hat. Wie sehr haben wir China vorher gekannt, und wie gut kennen wir China jetzt?

Als die FIFA ihre Bedingungen vorgelegt hat, hätten wir auch ablehnen können und irgendeinem anderen Staat die WM überlassen. Aber wir wollten die WM. Damit sie ein Erfolg wird, müssen wir nur gewinnen. Sonst hat es sich nicht gelohnt. Wenn es wie 1950 läuft, als Uruguay Brasilien im Finale bezwang, wird es ein wirtschaftliches Desaster, und Tränen werden fließen. Also bereiten wir uns gut vor, damit Brasilien auch gewinnt.

Was sind Ihre Pläne für 2011?

Ehrlich gesagt, ich habe keine Pläne. Und das ist wohlüberlegt: Ich kann nicht das Amt des Staatspräsidenten niederlegen und mich am 2. Januar oder am 3. Januar wieder politisch betätigen.

Ich habe einmal vom Sich-trennen-müssen gesprochen. Ich muß mich von dem Präsidenten in mir trennen. Nicht weil ich vergessen möchte, aber ich muß ihn aus mir herauslösen und versuchen, zu dem zurückzukehren, was der Realität am nächsten ist, bevor ich wieder Politik machen kann. Das bedeutet, ich muß lernen, Politik zu machen, ohne mit dem, der gerade regiert, zu konkurrieren. Und ohne der Präsidentin Dilma Tips zu geben. Ich möchte mich von dem Präsidenten lösen und wieder der Lula werden, der ich vor der Präsidentschaft war.

Das Gespräch wurde kürzlich bei einem Pressetermin in Rio de Janeiro geführt.

Interview: Daniel Schmidthäussler

* Aus: junge Welt, 30. Dezember 2010


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