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"Lehrer streiken jedenfalls weiter"

In Rio sind die Beschäftigten des Bildungswesens seit zwei Monaten im Ausstand. Heute gibt es eine große Demonstration. Ein Gespräch mit Jean Ilg *


Jean Ilg studiert Philosophie an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro (UFRJ) und unterstützt den Streik der Beschäftigten des Bildungswesens.


Seit zwei Monaten streiken in Rio de Janeiro Lehrer und andere Beschäftigte des Bildungswesens. Für den heutigen Dienstag ist eine große Demonstration geplant – wie groß ist die Unterstützung der Öffentlichkeit?

Erst am 7. Oktober hatte es eine Demonstration zur Unterstützung des Streiks gegeben – mindestens 50000 Menschen beteiligten sich daran, die Polizei reagierte brutal. Es laufen auch noch weitere Arbeitskämpfe im Bildungssystem von Rio, etwa bei den technischen Schulen, die dem Bundesstaat gehören. In Dutzenden Städten gab es außerdem Kundgebungen zur Unterstützung der Beschäftigten des Bildungswesens.

Der Gouverneur von Rio, Sergio Cabral, hatte schon am 1. Oktober brutal reagiert, als Demonstranten zu einer Sitzung des Stadtrats wollten, der gegen den Widerstand der Lehrer ein Gesetz verabschiedete. Die Stadt wimmelte von Polizisten – mehr als bei den Besuchen des Papstes oder des US-Präsidenten Barack Obama. Der gesamte Verkehr war lahmgelegt.

Es ist der erste Streik der Lehrer von Rio de Janeiro seit fast 20 Jahren. Was hat dazu geführt?

Die Beschäftigten des Bildungssystems haben am 8. August die Arbeit niedergelegt, weil ihre Arbeitsbedingungen ebenso miserabel sind wie die Bezahlung. Die Köche in den Schulen bekommen z. B. nur den Mindestlohn von 678 Real (etwa 225 Euro) im Monat – davon kann man in einer teuren Stadt wie Rio unmöglich leben. Die Streikenden fordern Lohnerhöhungen und mehr Freiheiten bei der Gestaltung des Unterrichts. Die Lehrer wollen u. a., daß die Schulen mit Klimaanlagen ausgestattet werden. Sie wollen künftig auch nur an einer statt an immer wieder anderen Schulen eingesetzt werden.

Die Stadtregierung verwirft all diese Forderungen, sie will alle Lehrer zwischen der 1. und der 9. Klasse austauschbar machen – als ob der Unterricht für sieben und 14 Jahre alte Kinder der gleiche wäre. Mit Pädagogik hat das nichts mehr zu tun.

Wie sind die Reaktionen auf den Streik?

Die Polizei geht mit Gewalt gegen die Proteste vor – flankiert von den Medien, die die Streikbewegung frontal angreifen. Sie führen ihre Leser z. B. mit Berichten über Lohn­erhöhungen in die Irre, die es nie gegeben hat. Nun konzentriert sich ihr Feuer auf angeblich gewalttätige Demonstranten. Auch die Justiz hat den Streik für illegal erklärt und eine Strafe von 300000 Real (100000 Euro) pro Streiktag verhängt. Das kann die Bildungsgewerkschaft SEPE aber niemals zahlen.

Die Lehrer streiken jedenfalls weiter – trotz der Tränengasgranaten, trotz der Gummigeschosse und Taser-Einsätze. Die Situation in Brasilien verändert sich, wie man an Streikversammlungen mit bis zu 10000 Beschäftigten sieht.

Viele Schüler und Studierende demonstrieren Seite an Seite mit den Lehrern. Wie ist es dazu gekommen?

Die landesweiten Proteste im Juni waren zwar vor allem von der Jugend geprägt – es haben auch viele Lehrer und Arbeiter teilgenommen. Immerhin war am 20. Juni eine Million Menschen allein in Rio de Janeiro auf der Straße. Damals lautete eine der Losungen: »Ich will keine Fußballweltmeisterschaft – ich will Investitionen in die Bildung!« Schon im Juni waren die Universitäten Treffpunkte für die Demonstranten – jetzt sind sie es auch wieder.

Wenn eine Demonstration von der Polizei angegriffen wird, fliehen viele auf das Universitätsgelände. Besonders an der Bundesuniversität, an der ich studiere, ist der Alltag total durcheinander geraten: Es gibt laufend Versammlungen, Demonstranten sammeln sich auf den Grünflächen, in den Fluren liegen Verletzte. Das alles verändert die Universität, und es bringt die Menschen zusammen.

Was erwarten Sie von der heutigen Demonstration?

Der 15. Oktober ist der »Tag des Lehrers« in Brasilien. In vielen anderen Städten wird es ebenfalls Kundgebungen geben, wir erwarten weit mehr Demonstranten als vergangene Woche. Der Streik ist allerdings in einer sehr labilen Phase – die Lehrer haben seit zwei Monaten kein Geld bekommen. Er wird irgendwann zusammenbrechen, falls es nicht vorher zu einem Generalstreik im Bildungssystem kommt. Heute kommt es darauf an, den Lehrern den Rücken zu stärken.

Interview: Wladek Flakin

* Aus: junge Welt, Dienstag, 15. Oktober 2013


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