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"Der erhoffte Wandel ist ausgeblieben"

Landlosenbewegung MST zieht negative Bilanz der Lulaschen Agrarpolitik. Ein Gespräch mit Maria Salete Campigotto

Maria Salete Campigotto ist Lehrerin und seit 30Jahren in führender Position in der MST aktiv.

Die MST gilt als eine der wichtigsten Stützen der Regierung Lula. Ihr Hauptanliegen ist die Landreform. Was hat sich auf dem Gebiet nach acht Jahren getan?

Der strukturelle Wandel, den wir uns mit bei der Wahl Lulas erhofft haben, ist ausgeblieben. In Wirklichkeit hat sich die Situation sogar verschlechtert, die Landkonzentration hat unter Lula noch zugenommen. Heute besitzt ein Prozent der Brasilianer etwa 46 Prozent der Erde oder anders gesagt, 1,6 Prozent der Landeigentümer gehören 46,8 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche.

Aber die Regierung gibt an, daß die Enteignungen zugenommen haben.

Es hat tatsächlich mehr Enteignungen gegeben als unter den vergangenen Regierungen. Doch diese waren stets nur eine Reaktion auf Aktionen der MST. Erst wenn wir Land besetzt haben, ist die Regierung eingeschritten und hat es den Besitzern abgekauft. Das Problem ist, daß mit dem Geld an anderer Stelle wieder neues Land erworben wurde. So ist es sehr schwer, etwas am Status quo zu ändern. Die lange angekündigte Neubestimmung der Enteignungskriterien steht immer noch aus.

Worum handelt es sich dabei?

Die Regierung hat vertraglich mit uns vereinbart, die Bedingungen für Enteignungen neu zu bestimmen. Das bezog sich im Kern auf den sogenannten Produktivitätsindex, der regelt, wann Landflächen keinen sozialen Nutzen erfüllen und enteignet werden können. Die geplante Regelung hätte die Enteignungskriterien erheblich entschärft, was wiederum unsere Situation verbessert hätte. Denn auch die MST fängt in der Regel erst an, Land zu besetzten, wenn wir uns reelle Chancen auf eine staatliche Enteignung ausrechnen können.

Doch die Gesetzesinitiative ist im Senat am Widerstand der Opposition und einiger Regierungsparteien gescheitert. Einige Tage, nachdem sie von der Regierung zu Jahresbeginn eingebracht wurde, haben diese Fraktionen eine parlamentarische Untersuchungskommission gegen die MST wegen Veruntreuung von Geldern einberufen. Damit war das Gesetz erstmal gestorben.

Trotzdem ruft die MST zur Wahl der Regierung auf...

Wir rufen dazu auf, nicht José Serra, den Kandidaten der »Partei der brasilianischen Sozialdemokratie« zu wählen. Denn das wäre ein Rückschritt in den puren Neoliberalismus der 90er Jahre. Serra repräsentiert die Interessen der urbanen und ruralen Bourgeoisie. Er lehnt die Landreform ab und attackiert die Regierung für ihren Kurs der lateinamerikansichen Integration. Er ist gegen Fidel Castro, Hugo Chávez, Evo Morales und sogar gegen den Bischof Fernando Lugo in Paraguay. Mit Dilma Rousseff bleibt zumindest der Raum für Kämpfe um gesellschaftlichen Wandel erhalten.

Wie die Sozialpolitik?

Die sozialpolitischen Erfolge sind tatsächlich beachtlich. Aber um den Hunger zu bekämpfen, reicht es einfach nicht aus, den Armen Geld zu geben. Auch wenn das vorher noch nie passiert ist. Die Leute müssen sich selber finanzieren können. Und dazu braucht es Arbeit.

Aber die Arbeitslosigkeit ist erheblich gesunken.

Doch davon hat vor allem die Mittelschicht profitiert. So ist es heute etwa für Leute mit Universitätsabschluß viel leichter, einen gut bezahlten Job zu finden als noch vor einigen Jahren. Millionen Brasilianer bleiben auch weiterhin vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen.

Interview: Johannes Schulten

* Aus: junge Welt, 1. Okt. 2010


Bauern machen Druck

In Ecuador soll am Freitag der fünfte Kongreß lateinamerikanischer Campesinos beginnen

Von Laura Zierke und Laura Mc Quiddy, San José **


Am Freitag (8. Oktober) soll in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito der fünfte Kongreß der Lateinamerikanischen Koordination der Campesinoorganisationen (CLOC) beginnen. Ob die aktuelle Situation in Ecuador nach dem Putschversuch in der vergangenen Woche ein solches Zusammentreffen der lateinamerikanischen Landbevölkerung erlaubt, ist derzeit allerdings nicht absehbar.

Schwerpunkte der Analysen und Diskussionen der Konferenz sollen der Klimawandel aus kleinbäuerlicher Perspektive, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch transnationale Unternehmen, die Ernährungssouveränität sowie die ländliche Entwicklung aus Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit sein. Darüber hinaus wollen die Teilnehmer Strategien für ein Fortbestehen der bäuerlichen Landwirtschaft und für eine Durchsetzung von Agrarreformen entwickelt werden.

Die CLOC wurde 1994 gegründet und umfaßt 84 Bauern-, Indigenen-, Frauen- und Jugendorganisationen aus 18 lateinamerikanischen Ländern. Ihr gemeinsames Ziel ist es, jenseits neoliberaler Politik einen autonomen Weg zu beschreiten und eigene Handlungsspielräume zu schaffen. Auf regierungspolitischer Ebene war die Arbeit der Koordination bereits erfolgreich. So fand das von den Campesinoorganisationen fokussierte Thema der Ernährungssouveränität Eingang in den politischen Diskurs mehrerer lateinamerikanischer Regierungen. Trotzdem haben die Teilnehmer aus Zentralamerika für den diesjährigen Kongreß angekündigt, die Regierungen für deren Agrarpolitik zu rügen. So kritisiert Fausto Torres, der Sprecher der Landarbeitervereinigung Nicaraguas, die derzeitigen Formen der Bodennutzung in Mittelamerika. Anbauflächen, auf denen Nahrungsmittel geerntet werden könnten, um den Hunger in der Region zu bekämpfen, würden für Bergbau, Stauseen und den Anbau von Monokulturen genutzt, so Torres. An dem Gewinn, die die Bodenschätze abwerfen, wird die regionale Bevölkerung nicht beteiligt. Was bleibt, sind vergiftete Gewässer, ausgelaugte Böden und öde Landschaften, wodurch die Landbevölkerung oftmals gezwungen ist, in die Städte zu migrieren.

Auch die indigenen Gruppen Mittelamerikas werden neben der Arbeitslosigkeit und der Teilhabe von Frauen an politischen Prozessen auf dem Kongreß die Ressourcenausbeutung vordergründig thematisieren. Denn gerade die Landrechtsfragen bereiten in der gesamten Region gravierende Probleme. So kämpfen indigene Gruppen in Costa Rica seit Jahrzehnten um das Recht auf ihre traditionellen Territorien. Obwohl der Staat im Jahr 1992 das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifizierte, sind bis heute keine geeigneten Instrumente geschaffen worden, die das Recht der indigenen Bevölkerung auf ihr historisches Siedlungsgebiet und eine selbstbestimmte Entwicklung umsetzen. Seit Jahren wird im Parlament über verschiedene Entwürfe des »Gesetzes über die autonome Entwicklung der indigenen Völker« verhandelt, bislang jedoch ohne Ergebnis. Die Indígenas fühlen sich deshalb zusehends diskriminiert und beklagen einen Mangel an Respekt.

** Die Autorinnen arbeiten für das unabhängige Kommunikationszentrum Voces Nuestras in Costa Rica.

Aus: junge Welt, 5. Okt. 2010



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