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Auf dem Landlosenkongress wurden Utopien gelebt

Interview mit mexikanischem Bauernsprecher Plutarco E. García

Der fünfte Kongress der brasilianischen Landlosenbewegung MST, der vom 11. bis zum 15. Juni in Brasília stattfand, hat Bedeutung weit über Brasilien hinaus. Mit Plutarco Emilio García, mexikanischer Repräsentant des internationalen Verbands der Bauernbewegung Via Campesina und Sprecher der mexikanischen Bauernbewegung CNPA, unterhielt sich darüber in Brasília für ND Andreas Behn.



ND: In welchem Verhältnis steht Via Campesina zu Bewegungen wie der brasilianischen Landlosenbewegung MST?

García: Mit der Teilnahme von Via Campesina am 5. MST-Kongress wollten wir unterstreichen, dass eine Ausweitung des Engagements der Bauernbewegungen notwendig ist, und ihnen, seien sie Mitglied von Via Campesina oder nicht, unsere Solidarität ausdrücken. Für uns hat die Kritik am Neoliberalismus immer im Mittelpunkt gestanden. Deswegen ist Via Campesina auch immer auf den Großveranstaltungen der globalisierungskritischen Bewegung präsent, beispielsweise bei den Protesten gegen die Welthandelsorganisation WTO in Seattle, Cancún und Hongkong. Und dies durchaus erfolgreich, zum Beispiel in Cancún, wo wir alle zusammen die WTO fast zum Entgleisen gebracht haben.

Woran kann der Erfolg der in Via Campesina vertretenen Bewegungen gemessen werden?

Es handelt sich generell um schlagkräftige Bewegungen mit einem großen Mobilisierungspotenzial. So ist es ihnen in verschiedenen Ländern gelungen, die neoliberale Politik zumindest zu bremsen. Leider können wir nicht sagen, dass es uns weltweit gelungen ist, diese Entwicklung aufzuhalten. Nach wie vor wird eine solche Politik vorangetrieben. Aber der Einfluss, den wir in verschiedenen Regionen haben und über große Veranstaltungen wie das Weltsozialforum und Protestkundgebungen ausüben, sollte nicht unterschätzt werden.

Wie steht es um die Vernetzung von Via Campesina?

Es ist uns gelungen, ein weltweites Netz von Bewegungen und Organisationen aufzubauen und zu koordinieren, was eine unerlässliche Basis für zukünftige Aktionen darstellt. Bisher ist es weltweit einzigartig, dass sich soziale Bewegungen so globalisiert haben, wie es uns in Via Campesina gelungen ist.

Lässt sich die Situation in Brasilien mit der in Mexiko vergleichen?

In Mexiko haben wir eine ultrarechte Regierung, die extrem neoliberal ausgerichtet und entschlossen ist, die Privatisierung weiter voranzutreiben und soziale Errungenschaften rückgängig zu machen. In Brasilien ist die Lage anders. Auch wenn die großen Erwartungen, die mit dem Wahlsieg von Präsident Lula 2002 geweckt wurden, kaum in Erfüllung gegangen sind und nach wie vor eine neoliberale Politik im Vordergrund steht, handelt es sich um eine gänzlich anders ausgerichtete Regierungspolitik.

Wie fällt ein Vergleich der sozialen Bewegungen in den beiden Staaten aus?

Auf der Ebene der sozialen Bewegungen ist festzuhalten, dass in Brasilien eine aktive, wachsende Bewegung mit nationaler und internationaler Präsenz existiert. In Mexiko dagegen befinden wir uns auf dem Rückzug. Noch 2003 hat es starke Mobilisierungen gegeben, bei denen sich erstmals in unserer Geschichte die Landbewegungen zusammengeschlossen haben. Doch der ausbleibende politische Erfolg hat diese Bewegungen erneut entzweit, und momentan befinden wir uns in einer Phase des Aufbaus.
Genau aufgrund solcher Unterschiede war es wichtig, hier beim MST-Kongress dabei zu sein, um den Austausch voranzutreiben und neue Anregungen zu bekommen, insbesondere was die Strategien, das Verhältnis zum Staat und die politische Bildungsarbeit angeht.

Was bedeutet dieser Kongress für Sie?

Aufgrund der Größe dieses Treffens und dessen, was es im sozialen und humanitären Sinne repräsentiert, glaube ich, dass der Kongress für uns einen historischen Einschnitt bedeutet. In gewissem Sinne gehen wir hier einen Schritt auf unsere Utopie zu. Dies bedeutet, eine so starke Bewegung aufzubauen, dass wir nicht nur Einfluss auf die Agrarpolitik weltweit nehmen können, sondern dass wir jetzt schon die Basis für die Gesellschaft schaffen, die wir uns wünschen. Eine solidarische und kommunitäre Gesellschaft, die sich selbst bestimmt und auf kollektiven Strukturen aufbaut. Diese Utopie haben wir auf diesem Kongress gelebt.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Juni 2007


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