Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Doppelstandards und "fauliges" Gestein

Aktivist "Chico" Whitaker über den Widerstand in Brasilien gegen die Atomenergiepolitik der Bundesregierung *


Der Brasilianer Francisco Whitaker, Jahrgang 1931, kritisiert, dass die Bundesregierung eine Hermes-Bürgschaft in Höhe von 1,3 Milliarden Euro für den Bau des brasilianischen Atomkraftwerkes Angra 3 vorsieht. Der studierte Stadtplaner ist seit vielen Jahrzehnten Demokratie- und Friedensaktivist, Mitbegründer des Weltsozialforums, Träger des »Right Livelihood Awards« (des sogenannten Alternativen Nobelpreises) und Mitglied des Weltzukunftsrats. Für »nd« sprach mit ihm Ralf Hutter.


ND: Sie sind für ein Treffen des Weltzukunftsrates nach Deutschland gekommen. Was haben Sie dort besprochen?

Whitaker: Der Weltzukunftsrat besteht aus 30 bis 40 Personen aus der ganzen Welt. Wir versuchen, die Ombudsleute der zukünftigen Generationen zu sein und beschäftigen uns vor allem mit ökologischen Fragen, zum Beispiel Energieerzeugung. Ich war mit dem Bedürfnis gekommen, in Europa über hiesige Doppelstandards hinsichtlich Brasilien zu sprechen. Dort verstehen die Leute nicht, wie Deutschland aus der Atomenergie aussteigen kann, aber andernorts beim Bau von neuen Kraftwerken hilft. Ich habe diese Besorgnis in den Weltzukunftsrat getragen. Da wir aber nicht vollzählig waren, konnten wir keinen Beschluss dazu fassen. Zu acht haben wir jetzt einen Offenen Brief an die deutsche Regierung geschickt.

Wie sieht die öffentliche Debatte zu diesem Thema in Brasilien aus? Ist die Bevölkerung gespalten?

Nein. Die Bevölkerung war sehr beeindruckt davon, was in Fuku-shima passierte. Der Informationsstand ist zwar generell sehr schlecht. Doch egal, wen wir bei unserer Unterschriftensammlung fragen - die meisten Leute sind gegen Atomkraftwerke in Brasilien. Nach Fukushima änderten auch viele Politikerinnen und Politiker ihre Meinung. Das zuständige Ministerium aber ist nur zögerlich geworden. Es erwägt weiterhin, 42 Atomkraftwerke zu bauen. In der Regierung gibt es da aber keine Einigkeit. Generell ist auch in der Politik der Informationsstand schlecht. Wir brauchen viel mehr Informationen über die Risiken, wie zum Beispiel die Entsorgung. Viele Gemeinden haben sich einen richtigen Wettbewerb geliefert, um ein Endlager für den bereits existierenden Abfall zu bekommen.

Ist die Politik der deutschen Regierung ein Thema in Brasilien?

Nein. Diese Frage wird nur von Leuten diskutiert, die schon dagegen kämpfen.

Was ist Ihre Kritik am Bau des Kraftwerks Angra 3?

Da gibt es mehrere Gefahren. Beispielsweise wird die Gegend von den Indigenen »Fauliger Stein« genannt. Der Untergrund ist sehr instabil. Als es vor drei Jahren sehr viel regnete, gab es mehrere Erdrutsche. Ein Touristenhotel wurde erfasst und 40 Menschen starben. Die Gegend liegt außerdem zwischen den beiden größten Städten Brasiliens. Für uns ist es auch nicht nur eine Frage von Gefahren. Das Ganze ist in Brasilien gar nicht nötig. Wir haben Wind, Wasser, Biomasse - warum sollten wir in ein so gefährliches System der Stromproduktion einsteigen?

Zur Zeit läuft vor dem Verfassungsgericht eine Klage dagegen, dass der Kongress bei diesem Projekt übergangen wurde.

Der Entschluss zum Kraftwerksbau stammt aus der Zeit der Militärherrschaft, die 1980 endete. Der dritte Block wurde aber erst danach begonnen, als die Verfassung schon eine Befragung des Kongresses vorsah. Die Erlaubnis für das dritte Kraftwerk wurde also ohne rechtliche Grundlage erteilt. Die Regierung macht aber trotz der Klage weiter. Letzte Woche hat sie umgerechnet 200 Millionen Dollar freigegeben.

Sie beteiligen sich an einer Volksinitiative, die Unterschriften sammelt. Was ist das Ziel?

Wir haben zwei Ziele. Eine Volksinitiative bietet die Möglichkeit der Diskussion mit viel mehr Menschen, nicht nur mit Leuten aus Politik und Technik. Ich habe schon den Bewusstseinsmangel in der Bevölkerung erwähnt. Gleichzeitig arbeiten wir vor Gericht und im Parlament an der Etablierung von verfassungsmäßigen Hürden.

Was können Sie mit der Unterschriftensammlung erreichen?

Wir wollen einen Gesetzesvorschlag ins Parlament einbringen. Dafür brauchen wir 1,5 Millionen Unterschriften - ein Prozent der Wahlberechtigten. Wenn wir das erreichen, dann hat das ein großes politisches Gewicht. Auch weil alle Medien dann darüber berichten.

Dann brauchen Sie noch Abgeordnete, die mit dem Anliegen sympathisieren.

Die haben wir. Keine Mehrheit, aber sie werden sich zusammentun. Von den 15 bis 20 Parteien im Parlament gibt es fünf oder sechs Abgeordnete, die bereits in dieser Angelegenheit engagiert sind. Wir müssen dann noch viel im Parlament arbeiten, aber wir haben das schon zweimal erfolgreich gemacht. Die sozialen Bewegungen arbeiten sehr nah an den Abgeordneten.

Brasilien hat riesige Uranvorkommen und könnte zu einem der größten Uranoxidexporteure werden. Ist das ein bekanntes Thema?

Nein. Aber einige Menschenrechtsgruppen haben dem Kongress vor einem Monat eine Analyse vorgelegt, die viele Probleme des Uranabbaus aufzeigt.

* Aus: neues deutschland, 9. November 2011


Zurück zur Brasilien-Seite

Zur Kernkraft-Seite

Zurück zur Homepage