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Santa Marta "befriedet" statt befreit?

Die Euphorie nach dem Zuschlag für Olympia 2016 währte nur kurz - dann spielten sich in Rio de Janeiro wieder einmal bürgerkriegsähnliche Szenen ab

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

»Für manche sind die Olympischen Spiele nur eine Sportveranstaltung«, sagte Luiz Inácio Lula da Silva neulich in Rio, »für mich sind sie die endgültige Bestätigung der Bürgerrechte.« 2016 wolle man der Welt beweisen, »dass hier in Brasilien Schwarze und Weiße, Arme und Reiche gleich behandelt werden«.

Die Worte des Präsidenten klingen wie ein Traum - vor allem nach den jüngsten Gewaltausbrüchen im Norden der »wunderbaren Stadt«: Drogenhändler hatten einen Polizeihubschrauber abgeschossen, bei anschließenden Gefechten kamen Dutzende ums Leben. Rios Sicherheitsminister José Mariano Beltrame behauptete: »Das war unser 11. September.« Um die Einwohner Rios zu besänftigen, versprach Lulas Justizminister Tarso Genro zusätzliche Millionen für die »öffentliche Sicherheit«.

Sehr spät, meint Jorge Antonio Barros von der Tageszeitung »O Globo«. Erst am Ende seiner zweiten Amtszeit nehme sich der Präsident des Themas an, bedauert der Polizeireporter. Immerhin, auf einem Gebiet beginne die Zusammenarbeit zwischen Bundes- und Landesbehörden zu fruchten: bei den Einheiten der »Befriedungspolizei«, die bislang in vier von gut 1000 Favelas stationiert wurden.

Ewa 600 Favelas stehen dagegen unter Kontrolle der Drogenmafia oder paramilitärischer Milizen. »Die Befreiung dieser Gebiete muss weitergehen«, findet der grüne Bundesabgeordnete Fernando Gabeira, der voriges Jahr beinahe zum Bürgermeister gewählt worden wäre. Die Landesregierung verkündet, bis Olympia 2016 solle das Programm auf 50 Armenviertel ausgedehnt werden.

Misstrauen gegen neue Ordnungshüter

Die Favela Santa Marta ist ein Pilotprojekt. Schon ihr Bild ist ungewöhnlich: Bunt bemalte Häuser kleben am Hang, eine Zahnradbahn fährt zum Nulltarif bis ganz hinauf. Von dort aus genießen Touristen das atemberaubende Panorama - links der Zuckerhut, rechts die Christusstatue auf dem Corcovado, am Horizont das Meer. Dann schlendern sie unbehelligt durch das Labyrinth steiler Gassen.

Noch vor Jahresfrist war das undenkbar. Doch nach dem Großeinsatz »Ordnungsschock« im November 2008 blieb die Polizei. Und die Drogenhändler, allen voran Francisco Rafael Dias da Silva alias Mexicano vom »Roten Kommando«, schlüpften anderswo unter. »Der Drogenhandel geht, die Polizei bleibt - für immer«, verspricht Sicherheitsminister Beltrame.

Die 120 Mitglieder der »Befriedungspolizei«, die abwechselnd in Santa Marta Dienst tun, haben eine Spezialausbildung hinter sich und bekommen eine Gehaltszulage, erzählt Leonardo Albuquerque. Der junge Polizist gibt allerdings zu: »Die meisten Bewohner sind immer noch misstrauisch.«

Bekannt ist das Viertel, in dem vor allem Nachfahren von Afrobrasilianern und Migranten aus dem armen Nordosten wohnen, schon länger: 1996 ließ Michael Jackson hier unter der Obhut der Drogenbosse einen Videoclip drehen. Der Song mit dem beziehungsreichen Titel »They don't care about us« (Sie kümmern sich nicht um uns) schien wie auf die Favela-Bewohner zugeschnitten.

Direkt unter der Plattform, auf der Jackson damals tanzte, liegt das renovierungsbedürftige Kulturhaus, in dem die Organisation »Atitude Social« ihre Trommeln lagert. »Seit Monaten werden wir von der Stadtverwaltung vertröstet«, sagt Musiklehrer Pierre Ávila und zeigt auf die modrige Decke. Vorrang habe das Projekt des Gouverneurs: ein Denkmal für den verstorbenen Superstar.

»Der größte Fortschritt ist, dass wir keine Angst mehr vor Querschlägern zu haben brauchen«, findet Ávila. Auch die Öffnung Santa Martas für Außenstehende und die Aussicht auf mehr Kulturprogramme lobt der Südbrasilianer, der Kindern und Jugendlichen von Santa Marta die ganze Bandbreite brasilianischer Musik von Samba über Rock bis Klassik nahebringt.

Bevorzugter Probeort ist die »Arena«. Doch nur noch tagsüber: Die städtische Stromfirma kappte die Kabel für die Scheinwerfer an der von Maschenzaun umrahmten Betonfläche - zur gleichen Zeit, als sie alle Wohnungen mit einem eigenen Stromanschluss versorgte.

Unmittelbar hinter der »Arena« erstreckt sich eine frisch errichtete Mauer, die angeblich verhindern soll, dass sich die Favela in den Atlantischen Regenwald hineinfrisst. 634 Meter lang und drei Meter hoch ist sie. Auch andere Favelas in unmittelbarer Nähe der Nobelviertel in Rios Süden sind inzwischen eingemauert. Eine »Machtdemonstration«, vermutet Pierre Ávila, »die Favela hat sich doch gar nicht ausgebreitet.«

Ähnlich sieht das der Stadtteilaktivist Itamar Silva: »Der Staat setzt auf die Logik der Angst. Der Mittelschicht signalisiert er: Beruhigt euch, wir werden die Favelas kontrollieren.« Mittelfristig befürchtet er sogar eine Verdrängung der Alteingesessenen von Santa Marta.

Bislang jedenfalls ist Wohnsituation der rund 10 000 Bewohner alles andere als idyllisch. Im oberen Teil überwiegen noch immer verschachtelte Bretterbuden, die Abwässer fließen in Gräben hangabwärts. Dennoch kann sich Salvador de Pinto Souza (70) nicht mit dem Gedanken anfreunden, ein paar Meter weiter eine der 32 Quadratmeter großen Neubauwohnungen zu beziehen: »Wie soll ich da meine 20-köpfige Familie, meine Enkel und Urenkel, unterbringen?«

Über die »Befriedungspolizei« will sich der Veteran genauso wenig äußern wie über die Drogenhändler, die das Viertel 20 Jahre lang beherrscht haben: »Ich verstehe mich gut mit allen«, schmunzelt der bärtige Alte, »wer zu viel redet, der gräbt sich sein eigenes Grab.«

Erika Souza, die Sekretärin der Einwohnervereinigung, stören neben der Mauer vor allem die neun Überwachungskameras, die kürzlich installiert wurden: »Das ist unser Big Brother«, meint die 23- Jährige und fügt bedauernd hinzu: »Viele gewöhnen sich schon daran.« Daran, dass es nur langsam vorangehe, seien aber nicht nur die Behörden schuld. »Oft rudern wir gegen die Strömung, die Leute ziehen nicht an einem Strang.«

»Für mich hat sich nicht viel geändert«, sagt Daniel Cunha, der das Internetzentrum der Einwohnervereinigung leitet. »Die Medien vermitteln von den Favelas ein Zerrbild«, klagt der 18- jährige Schüler, »so schlecht ging es uns auch vorher nicht, die Drogenhändler haben sich ja nicht mit den Bewohnern angelegt.« Mit den Polizisten komme es auch immer wieder zu Reibereien: »Manchmal gehen sie ohne Grund ins Viertel, fahren junge Leute mit lauter Stimme an, verbieten Feste.«

Gar nicht gut auf die Uniformierten sind einige junge Damen in den engen, schattigen Gassen im unteren Teil Santa Martas zu sprechen. »Das ist keine Befriedungspolizei, das ist eine Schlägerpolizei«, schimpft Marina, die ihren Nachnamen nicht nennen will. »Immer wieder müssen wir uns ohne Grund irgendwelchen Leibesvisitationen unterziehen, das ist demütigend.«

Für die Kriminologin Vera Malaguti hat die Vorgehensweise der Behörden System: »Es ist eine Besatzungspolitik mit autoritären Kontrollmaßnahmen, um die arme Bevölkerung in Schach zu halten.« Dieses »Kriegsparadigma«, das soziale Konflikte mit strafrechtlichen Mitteln zu lösen versuche, habe Brasilien aus den USA importiert. »Die Polizei managt das Leben der Armen, immer mit dem Hintergedanken: Sonst werden diese Leute kriminell.«

Kriegsgerät und Geld allein reichen nicht

Itamar Silva, der sich bereits seit den 80er Jahren in Santa Marta engagiert und 1989 den damaligen Präsidentschaftskandidaten Lula durch sein Viertel führte, befürwortet prinzipiell das stärkere Engagement des Staates. Doch ihm fehlt die Mitsprache der Betroffenen. Die Idee einer angepassten Urbanisierung einschließlich Zahnradbahn geht auf das Jahr 1986 zurück, erzählt er. Doch als die Renovierungsarbeiten vor fünf Jahren tatsächlich begannen, war die Beteiligung der Bewohner nur noch minimal. »Heute werden wir regelrecht von Regierungsinitiativen überrollt, und bei der geringsten Kritik heißt es gleich, ach, dann sind euch die Gangster lieber?«

Die »Befriedungspolizei« allein sei alles andere als ein Patentrezept gegen Gewalt, meint Silva, »das Problem ist viel komplexer, Geld und neues Kriegsgerät reichen nicht.« Viel deutet darauf hin, dass die jüngste Gewaltwelle auch durch Verteilungskämpfe zwischen Drogenbanden ausgelöst wurden, die sich nach der »Befriedung« der Modell-Favelas weniger Verkaufsstellen teilen müssen. Sicher werde Rio von den Olympischen Spielen profitieren, sagt Itamar Silva, »aber die Frage lautet doch: Wer gewinnt was? Die Sozialagenda ist bisher schäbig, das muss sich ändern. Wie kann Rio eine gute Stadt für alle werden?«

* Aus: Neues Deutschland, 21. November 2009


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