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Frauenpower in Brasilia

Über 50000 Landarbeiterinnen marschierten für soziale Gerechtigkeit und für ein Ende häuslicher Gewalt. Gleichberechtigte Erziehung für Mädchen und Jungen gefordert *

Es war eine mächtige Demonstration. Die Frauenbewegung in Deutschland kann von solchen Größenordnungen nur träumen. 50000 – nach Angaben der Veranstalterinnen sogar 70000 – Landarbeiterinnen waren am Mittwoch in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia auf der Straße, um mehr soziale Gerechtigkeit zu fordern. Auf einem Protestmarsch, der unter dem Namen »March of the Daisies« jedes Jahr stattfindet, kritisierten sie vor allem die Benachteiligung von Frauen im Land.

»In Brasilien gibt es große soziale Unterschiede. Und Frauen sind besonders betroffen«, sagte Organisatorin Carmen Foro. Eine Gewerkschaftsvertreterin fügte hinzu: »Wir kämpfen für Wasser, für gesundes und sicheres Essen, für eine gleichberechtigte Erziehung von Jungen und Mädchen, für medizinische Versorgung und für ein Ende der häuslichen Gewalt.« Auf der Demonstration wird alljährlich auch an eine Gewerkschaftsführerin erinnert, die 1983 wegen ihres Kampfes für soziale Gerechtigkeit ermordet wurde.

In der Amtszeit von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003–2011) und der seiner Nachfolgerin Dilma Roussef hat sich die Kluft zwischen arm und reich zwar verringert. Dennoch sind die Probleme weiterhin gravierend. Und während der Wohlstand in den Städten zunimmt, hat sich an der Lage der Landbevölkerung noch relativ wenig geändert. Sie leidet auch am meisten unter der zunehmenden Umweltbelastung infolge des massiven Anbaus von Soja, Zuckerrohr und Eukalyptus in Monokultur. Anfang März demonstrierten in sechs brasilianischen Bundesstaaten Tausende Bäuerinnen gegen die zunehmende Verseuchung der Böden durch die Agrarchemikalien der großen Konzerne. Unter dem Motto »Frauen gegen die Gewalt der Agroindustrie und ihre Agrargifte und für Landreform und Nahrungssouveränität« forderten sie die Hinwendung zu einer für Mensch und Umwelt gleichermaßen gesunden und nachhaltigen Landwirtschaft. Seit 2009 ist Brasilien das Land, in dem die meisten Pestizide und Kunstdüngemittel verwendet werden.

Kritik an der Lula-Regierung kommt auch von der Pro-Indigenen-Organisation CIMI. Der Expräsident habe indigenen Völkern in den acht Jahren seiner Amtszeit gerade einmal 88 Grundstücke zugesichert und damit weniger zustande gebracht als seine beiden Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso (1995–2003) und Fernando Collor de Mello (1990–1992), monierte der Vizepräsident der Organisation, Roberto Antonio Liebgott, Anfang des Jahres. Die Identifizierung, Demarkierung und Registrierung indigener Areale ist in der Verfassung von 1988 festgeschrieben. Der Anthropologe Marcos Braga vom Insikiran-Institut für höhere indigene Bildung an der Föderalen Universität von Roraima kritisierte im Januar, Lula habe sein Versprechen, ein Ministerium für indigene Völker einzurichten, nicht eingehalten. Er würdigte jedoch, daß der Expräsident für ein besonders umkämpftes Gebiet am Amazonas die Ausweisung als Indigenen-Land durchsetzte. Darüber hinaus habe er die Mittel für die Gesundheitsversorgung der Ureinwohner von 30 Millionen US-Dollar auf 170 Millionen Dollar fast versechsfacht.

Gleichzeitig registrierte CIMI in den letzten acht Jahren eine Zunahme der Gewalt gegen die indigenen Völker des Landes. So wurden zwischen 2003 und 2010 437 Morde an Ureinwohnern gemeldet. Als das blutigste Jahr gilt 2007 mit 92 Toten. In mindestens 45 Fällen gingen die Morde auf Territorialstreitigkeiten zurück. Lula habe ungeachtet dessen den großen Landwirten und Agrounternehmen das Wort geredet, erklärte CIMI-Vertreter Liebgott.

* Aus: junge Welt, 19. August 2011


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