Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Alle Umfragen sprechen für Dilma Rousseff

Lulas Kandidatin ist klare Favoritin in der Stichwahl um seine Präsidentschaftsnachfolge in Brasilien

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

Am Sonntag (31. Okt.) findet in Brasilien die Stichwahl zum Präsidentenamt statt. Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT liegt zwölf Prozentpunkte vor dem rechten Sozialdemokraten José Serra.

Eine halbe Stunde lang bahnt sich der Pick-up mit der Kandidatin der linken Arbeiterpartei PT einen Weg durch hunderte fahnenschwingende Fans. Dann spricht sich Dilma Rousseff gegen eine »sensationalistische« Kampagne aus: »In der konservativen Politik gibt es die sehr traditionelle Methode, Tatsachen aufzubauschen und die andere Seite für Gewalt verantwortlich zu machen. Ich werde das nicht tun, das ist typisch für einen Wahlkampf der Rechten.«

56 Prozent für Dilma Rousseff

In Brasilien ist erstmals eine Frau an die Staatsspitze gewählt worden. Die Kandidatin der regierenden Arbeiterpartei, Dilma Rousseff, setzte sich nach Angaben der Wahlbehörden am Sonntag in der Stichwahl mit 56 Prozent gegen ihren sozialdemokratischen Herausforderer José Serra durch. Die 62-Jährige ist Wunschkandidatin von Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten durfte.


Erwartungsgemäß ist der vierwöchige Stichwahlkampf um die Präsidentschaft in Brasilien erbittert und mit manchem Tiefschlag ausgefochten worden. Um »zwei Projekte« gehe es am Sonntag, rief Rousseff, die Wunschnachfolgerin des scheidenden Staatschefs Luiz Inácio Lula da Silva, bei ihrem letzten Kurzauftritt im Zentrum von Porto Alegre. Sie erinnerte an »die Arbeitslosigkeit, Stagnation, Ungleichheit« unter dem sozialliberalen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) und dessen Minister José Serra, ihrem jetzigen Widersacher. Dagegen setzte sie »das Projekt von mir und von Lula: Wachstum, Arbeitsplätze, Abbau der sozialen Kluft. Es ist ein großzügiges Projekt, das nicht Hass auslöst, sondern Liebe und Hoffnung.«

Das Getöse des Wahlkampfendspurts verdeckt, dass die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der beiden Kandidaten auf den ersten Blick gar nicht so weit auseinanderliegen. Unterschiede gibt es vor allem in der Außenpolitik: Serra würde auf Distanz zu den linken Staatschefs Südamerikas gehen und sich wieder den USA annähern. Vor allem wird aber über die Amtszeit von Luiz Inácio Lula da Silva abgestimmt – und die erhält beim Wahlvolk Spitzenwerte. Als größtes »Geburtstagsgeschenk« hat sich der Ex-Gewerkschafter, der am Mittwoch 65 wurde, einen Triumph seiner bereits 2007 eigenhändig ausgesuchten Nachfolgerin gewünscht.

Während die Traditionslinke in Europa in einer tiefen Krise steckt, hat Lula die Sozialdemokratie in ihrer brasilianischen Variante zu einer der größten politischen Erfolgsgeschichten der letzten Jahre gemacht. Bei der traditionell beliebten Aufrechnung von Korruptionsskandalen steht São Paulos Exgouverneur Serra mittlerweile auch nicht mehr besser da als Rousseff, deren Vertraute und Nachfolgerin im Präsidialamt im September zurücktreten musste. So soll sich ein Bekannter Serras, der für den Bau der riesigen Umgehungsstraße um São Paulo, aber auch für illegale Wahlkampfgelder zuständig war, kräftig bereichert haben.

Auch der Versuch konservativer Kirchenleute, des Mitte-rechts-Lagers und der ihm nahestehenden Medien, Rousseff als Abtreibungsbefürworterin zu diskreditieren, ist offensichtlich verpufft. Das Meinungsforschungsinstitut Ibope will ermittelt haben, dass 55 Prozent der Katholiken für die 62-jährige Ex-Guerillera stimmen wollen, dagegen nur 39 Prozent für Serra (68). Bei den gewöhnlich konservativeren Evangelikalen steht es unentschieden.

Der Firma Datafolha zufolge lag Rousseff drei Tage vor der Wahl zwölf Prozentpunkte vor Serra. Besonders groß ist ihr Vorsprung im armen Nordosten, aus dem Lula stammt und deren Bevölkerung in den letzten acht Jahren überdurchschnittlich von Lulas Sozialprogrammen profitiert hat. Serra hingegen führt bei den Wählern mit Universitätsabschluss und höherem Einkommen. Aufschlussreich ist auch die ethnische Aufschlüsselung, die die Firma Vox Populi vornahm: Bei den Weißen steht es fifty-fifty, bei den Afrobrasilianern hat Rousseff eine Zweidrittelmehrheit.

Schwieriger gestalten sich die Versuche Rousseffs, bei den umweltbewegten Wählern der Grünen von Marina Silva zu punkten. Im ersten Wahlgang Anfang Oktober war die frühere Umweltministerin Lulas auf knapp 20 Millionen Stimmen (19,3 Prozent) gekommen. Letzte Woche verzichtete sie auf eine Wahlempfehlung.

Ähnlich wie Lula werde die Präsidentin ein breites Regierungsbündnis schmieden, sagt Marcos Romão, ein Aktivist der afrobrasilianischen Bewegung. »Da sie durch das gute Abschneiden von Marina in die Stichwahl gedrängt wurde, muss Dilma jetzt auch auf die linke Basis zugehen.«

* Aus: Neues Deutschland, 30. Oktober 2010


Zurück zur Brasilien-Seite

Zurück zur Homepage