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Dilma Rousseff muss in die Verlängerung

Brasiliens Grüne verhindern absolute Mehrheit für Lulas Wunschkandidatin im Präsidentenamt

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

Wahl paradox: In Brasilien hat Dilma Rousseff, die Kandidatin der regierenden Arbeiterpartei (PT), die Präsidentschaftswahl zwar klar für sich entschieden. Mit 46,9 Prozent der Stimmen verfehlte die 62-Jährige jedoch die erforderliche absolute Mehrheit. Ihren Mitstreitern von der PT und dem designierten Vizepräsidenten Michael Temer von der Zentrumspartei PMDB stand Sonntagabend die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.

Sie werde die Stichwahl am 31. Oktober mit »vollem Einsatz« angehen, sagte Rousseff gestern in Brasília. Bis dahin werde sie weiterhin für ihre Vorschläge »zur Abschaffung des Elends« und zur Entwicklung Brasiliens werben. Die ehemalige Energie- und Präsidialamtsministerin des scheidenden Staatschefs Luiz Inácio Lula da Silva muss nun im zweiten Wahlgang gegen den rechtsliberalen Sozialdemokraten José Serra (68) antreten, der mit 32,6 Prozent auf den zweiten Platz kam. Serra war 2002 in der Stichwahl dem charismatischen Lula klar unterlagen gewesen. Doch gegen Dilma Rousseff, die wie er selbst Wirtschaftswissenschaften studiert hat und im Umgang ebenso spröde ist, rechnet sich der Ex-Gouverneur São Paulos und PSDB-Mann größere Chancen aus.

Für die Überraschung des Tages sorgte die Grüne Marina Silva (52), die 19,3 Prozent der Stimmen erzielte. Damit nahm die frühere Umweltministerin und Kabinettskollegin Rousseffs ihrer Gegenspielerin die entscheidenden Stimmen, die diese für die absolute Mehrheit gebraucht hätte. In der Hauptstadt Brasília, die in den vergangenen Monaten von Korruptionsskandalen erschüttert wurde, gewann die Grüne sogar mit 42 Prozent. »Es gibt keine Niederlage, wir haben nur gewonnen«, erklärte sie überglücklich im Fernsehen. »Bei der neuen Politik, die gerade in Brasilien beginnt, liegen wir auf dem ersten Platz.«

Silva habe viele junge Wähler angesprochen und damit einen großen Beitrag zur Demokratie in Brasilien geleistet, lobte José Serra. Sowohl der Oppositionskandidat als auch Rousseffs Wahlkampfteam bemühen sich nun um die Unterstützung Silvas im Hinblick auf die Stichwahl. Eine förmliche Allianz mit der Umweltpolitikerin ist jedoch unwahrscheinlich. »Ich bin Teil einer Bewegung der Zivilgesellschaft, die viel größer ist als unsere Partei«, sagte Marina Silva vor jubelnden Anhängern. Mit jenen »lebendigen Kernen der Gesellschaft« wolle sie nun über das weitere Vorgehen beraten.

Auf Platz 4 landete schließlich mit 0,9 Prozent der Stimmen der Agrarexperte Plínio de Arruda Sampaio von der Partei des Sozialismus und der Freiheit (PSOL), einer PT-Abspaltung aus der ersten Amtszeit Lulas. In den TV-Debatten hatte der 80-Jährige scharfzüngig mit seinen Rivalen abgerechnet.

So oder so - Rousseffs Sieg in der Stichwahl gilt schon jetzt als sicher. Auch ihr Mentor Lula musste 2002 und 2006 in die zweite Runde, die er dann jeweils deutlich für sich entschied. Rousseff will Lulas Kurs in der Wirtschafts- und Sozialpolitik fortsetzen. Sie wäre die erste Frau an der Spitze der mit 194 Millionen Menschen größten Nation Lateinamerikas.

Bei den zeitgleich stattfindenden Parlaments- und Gouverneurswahlen konnte das Mitte-Links-Regierungslager seine Position erheblich stärken - allen voran Lulas und Rousseffs Arbeiterpartei. Im künftigen Zwei-Kammer-Kongress in Brasília wird Roussef über deutlich bequemere Mehrheiten verfügen als bislang Lula. Die PT überrundet die Zentristen im Abgeordnetenhaus und wird dort künftig mit 88 von 513 Sitzen die größte Fraktion stellen. Auch im Senat legte die Linke zu - die PT stellt nun 15 von 81 Senatoren, die linksoppositionelle PSOL drei statt bisher einen.

Auch bei den Gouverneurwahlen hat das Regierungslager die Nase vorne. So wurde in Porto Alegre das Comeback der Arbeiterpartei im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul gefeiert. Dort siegte der frühere Bürgermeister und Lulas Exminister Tarso Genro mit 54 Prozent. Die oppositionellen Sozialdemokraten konnten sich hingegen erneut in ihren Hochburgen São Paulo und Minas Gerais durchsetzen. Insgesamt waren am Sonntag knapp 136 Millionen Brasilianer wahlberechtigt. Trotz Wahlpflicht lag die Wahlbeteiligung nur bei 82 Prozent.

* Aus: Neues Deutschland, 5. Oktober 2010


Brasiliens Linke punktet

Von Johannes Schulten **

Dilma Rousseff gab sich kämpferisch. »Ich werde die zweite Runde mit viel Ehrgeiz und Energie angehen«, verkündete die Kandidatin der linken Arbeiterpartei (PT) am Sonntag abend, kurz nach dem Bekanntwerden der Ergebnisse der brasilianischen Präsidentschaftswahlen. Mit 46,7 Prozent der Stimmen hat Rousseff zwar die Mehrheit der Stimmen gewonnen, für die zu einem Sieg in der ersten Runde notwendigen 50 Prozent hat es jedoch nicht gereicht. Ihr Hauptkonkurrent, José Serra von der »Partei der brasilianischen Sozialdemokratie« (PSDB), kam abgeschlagen auf 32,7 Prozent. Dritte wurde die Kandidatin der kleinen Grünen Partei und ehemalige Umweltministerin Marina Silva mit überraschenden 19,4 Prozent.

Auch wenn der erhoffte Sieg in der ersten Runde ausgeblieben ist - ein »vermasselter Durchmarsch« (Spiegel) oder gar eine »dicke Klatsche« (Bild Online), wie es hiesige Medien konstatierten, war das Ergebnis vom Sonntag nicht. Sogar der scheidende Präsident Luis Inácio »Lula« da Silva, der mit Popularitätswerten von 80 Prozent derzeit wohl beliebteste Politiker in der Geschichte Brasiliens, hatte seine beiden Wahlsiege 2002 und 2006 erst im zweiten Anlauf erreicht. Verglichen mit den knapp sechs Prozentpunkten, die er 2006 nach dem ersten Wahlgang vor seinem Herausforderer Geraldo Alckmin (PSDB) gelegen hatte, kann Rousseff mit 14 Prozentpunkten Vorsprung auf Serra relativ beruhigt in die Stichwahlen am 31. Oktober gehen. Im Februar hatte Rousseff in den Umfragen noch bei knapp 28 Prozent und damit mehr als zehn Punkte hinter Serra gelegen.

Zwar hatten sie spätere Umfragen zeitweilig bei über 50 Prozent gesehen, doch einen solchen Durchmarsch dürfte vor allem ein Korruptionsfall um ihre Kabinettschefin Erenice Guerra vermasselt haben. Diese hatte nach Vorwürfen der Vetternwirtschaft mitten im Wahlkampf ihren Rücktritt erklären müssen. Zudem hatten die ohnehin nicht gerade PT-freundlichen Medien des Landes in den vergangenen Wochen eine Angstkampagne gegen die Wahl Rousseffs entfacht. So sah etwa die als liberal geltende Wochenzeitschrift Veja in einem Erstrundensieg der PT-Kandidatin eine Gefahr für die Freiheit Brasiliens.

Profitieren davon konnte vor allem die Grüne Marina Silva, die am Donnerstag vor der Wahl von allen Umfragen noch bei 13 Prozent gesehen wurde. Silva, die sich Mitte 2008 aus dem Umweltministerium Lulas zurückzogen hatte, traf mit ihrem auf ökologische Nachhaltigkeit und Kritik an industriellen Großprojekten ausgerichteten Diskurs die Achillesferse von Lulas Politik. Ihre Empfehlung für die Stichwahl will sie erst nach einer internen Befragung der Parteibasis bekanntgeben. Angesichts der auch unter enttäuschten Lula-Anhängern, die einen Großteil ihrer Unterstützer ausmachen, verbreiteten Ablehnung der traditionellen Parteien Brasiliens gilt ein Wahlaufruf zugunsten Serras jedoch als unwahrscheinlich.

Erfolgreich war die Regierung auch bei den Parlaments- und Gouverneurswahlen, zu denen die 135 Millionen wahlberechtigten Brasilianer am Sonntag ebenfalls aufgerufen waren. Die PT gewann vier Bundesstaaten, darunter der Zehn-Millionen-Einwohner-Staat Rio Grande Do Sul. Ihre Partner in der Regierungskoalition, die Demokratische Bewegung (PMDB) und die Sozialistische Partei (PSB), trugen in je drei Bundesstaaten den Sieg davon. Sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat konnte die Mitte-Links-Koalition ihre Mehrheit ausbauen.

** Aus: junge Welt, 5. Oktober 2010


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