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Dilma folgt Lula

Am Sonntag wird in Brasilien ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Ein Sieg der Regierungskandidatin Dilma Rousseff gilt als sicher

Von Johannes Schulten *

Würde Luis Inácio »Lula« da Silva bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen am Sonntag (3. Okt.) kandidieren, wäre ihm eine dritte Amtszeit gewiß. Mit historischen Zustimmungswerten von bis zu 80 Prozent nimmt seine Popularität zuweilen solche Züge an, daß sich sogar der Präsidentschaftskandidat der oppositionellen »Partei der brasilianischen Sozialdemokratie« (PSDB), José Serra, in einem Wahlspot an der Seite Lulas präsentierte.

Aber auch ohne den Übervater Lula, der entsprechend der Verfassung nicht ein drittes Mal antreten darf, stehen für seine regierende Arbeiterpartei (PT) alle Zeichen auf Sieg. Lulas Wunschkandidatin, die ehemalige Energie- und Bergbauministerin Dilma Rousseff, wird von allen Umfrageinstituten ein klarer Erfolg vorausgesagt. Bis zu 51 Prozent der rund 135 Millionen Wahlberechtigten könnten sich am Sonntag für sie entscheiden. Rousseff profitiert dabei nicht nur von Lulas Popularität. Zugute kommt ihr auch die Unterstützung der sechs an der Regierung beteiligten Parteien, allen voran die vor allem auf Ebene der Bundesstaaten starke liberale PMDB.

Opposition stagniert

Rousseffs Hauptkonkurrent Serra, der noch im Februar mit 41 Prozent Zustimmung in den Umfragen und einem mehr als zehn Prozentpunkte großen Vorsprung auf Rousseff wie der klare Sieger aussah, stagniert inzwischen bei 28 Prozent. Sogar wenn die von Serra, dem derzeitigen Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, in den vergangenen Wochen täglich erhobenen und von den Medien bereitwillig aufgenommenen Korruptionsvorwürfe gegen Rousseff Spuren in der Wählergunst hinterlassen sollten und sie die angestrebte absolute Mehrheit im ersten Wahlgang verfehlt, dürfte ihr der Sieg bei der dann am 31. Oktober stattfindenden Stichwahl sicher sein. Letzte Umfragen vom Mittwoch verzeichneten zwar erstmals seit Beginn des Monats einen leichten Rückgang ihrer Werte auf 47 Prozent, allerdings kann Serra davon bisher nicht profitieren.

Andere aussichtsreiche Kandidaten sind nicht auszumachen. Einzig die ehemalige Umweltministerin und Kandidatin der konservativ ausgerichteten Grünen Partei, Marina Silva, könnte mit etwas mehr als zehn Prozent einen Achtungserfolg erzielen. Silva und Roussef sind alte Bekannte, seit die Ökologin in Lulas erstem Kabinett eine der schärfsten Kritikerinnen der von Rousseff vorangetriebenen Großinvestitionen wie dem gerade begonnenen Bau des weltgrößten Amazonas-Staudamms gewesen war. 2008 trat Silva deshalb von ihrem Ministeramt zurück und gab kurz darauf nach 30 Jahren auch ihre PT-Mitgliedschaft auf. Doch viel mehr als ökologische Kritik am Wachstumskurs der Regierung gibt ihr Wahlprogramm nicht her. Die Sympathie der Armen und Arbeiter gilt Lula und Rousseff.

Noch dünner ist die Luft für die radikale Linke Brasiliens. So galt die 2005 von PT-Dissidenten gegründete Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) nach vielbeachteten sechs Prozent bei den Präsidentschaftswahlen 2006 für viele als linke Alternative zur PT. Damals war sie jedoch im Bündnis mit der trotzkistischen Vereinigten Sozialistischen Arbeiterpartei (PSTU) und der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB) angetreten. Innere Streitigkeiten haben diesen Pakt zerbrechen lassen, so daß die drei Parteien am Sonntag jeweils mit eigenen Kandidaten antreten. Die Ein-Prozent-Marke dürfte keine von ihnen knacken können. Die Kommunistische Partei Brasiliens (PcdoB) gehört hingegen zur Regierungskoalition und hat trotz dezenter Kritik zur Wahl von Rousseff aufgerufen.

24 Millionen Arme weniger

Das Problem der Linken ist, daß sie trotz der Widersprüche in Lulas Politik der populären Regierungslinie »Wachstum und Sozialpolitik« wenig entgegenzusetzen haben. Studien der Weltbank zufolge gilt Brasilien noch immer als eines der Länder, in denen die soziale Ungleichheit weltweit am ausgeprägtesten ist. Der Hofierung des nationalen Kapitals stehen mangelnde Erfolge bei der Landreform gegenüber. Doch für die armen Wählerschichten ist eher die vor allem während Lulas zweiter Amtszeit massiv ausgebaute Sozial- und Investitionspolitik relevant, auf die Rousseff im Wahlkampf verweisen konnte. In acht Jahren konnten 24 Millionen Menschen aus der absoluten Armut befreit, zweieinhalb Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen und die Arbeitslosigkeit von etwa zwölf auf aktuell sieben Prozent reduziert werden. Allein im ersten Quartal erreichte das Wirtschaftswachstum historische acht Prozent. In der Außenpolitik ist Lula vom USA-fixierten Kurs seines Vorgängers Cardoso auf eine konsequent auf brasilianische Interessen orientierte Linie umgeschwenkt.

Hintergrund: Brasilien wählt Parlament und Senat

Am Sonntag (3. Okt.) wird in Brasilien nicht nur der Staatspräsident gewählt. Auch alle wesentlichen politischen Ämter auf Bundes- und Landesebene werden neu verteilt. Dazu gehören 513 Parlamentsabgeordnete, zwei Drittel aller Senatoren sowie die Gouverneure der 27 Bundesstaaten und deren Landesparlamente. Nach bisherigen Prognosen deutet sich auch hier ein klarer Sieg der Arbeiterpartei (PT) und ihrer Verbündeten an. In 14 der 27 Bundesstaaten liegen deren Kandidaten klar in Führung, so auch in der Millionenmetropole Rio de Janeiro und den meisten der Staaten im verarmten Nordosten des Landes. Die Opposition verfügt nur in sieben Staaten über einen sicheren Vorsprung, so etwa in São Paulo. Mit 37 Millionen Einwohnern ist São Paulo der größte Bundesstaat und der wichtigste Wirtschaftsstandort Brasiliens. Seit 2007 wird er vom Präsidentschaftskandidaten der sozialdemokratischen PSDB, José Serra, regiert.

Trotz dieser komfortablen Position könnten die Wahlen für die PT einen Einflußverlust innerhalb der Regierungskoalition bedeuten, denn die große Siegerin wird aller Voraussicht nach die liberale Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB) sein. Die hat sich ihre Unterstützung der Präsidentschaftskandidatur von Dilma Rousseff teuer bezahlen lassen. Schon jetzt drängen ihre Abgeordneten darauf, nach deren Sieg genauso viele Ministerposten zu erhalten wie die PT. Der Posten des Vizepräsidenten ist schon fest vereinbart. Zudem hat die PT, um den Koalitionsfriedens zu bewahren, in zahlreichen Bundesstaaten darauf verzichtet, eigene Kandidaten aufzustellen, was in der Partei bereits im Vorfeld zu erheblichen Auseinandersetzungen geführt hat.

Die PMDB war seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 bislang an jeder Regierung beteiligt und besetzt wichtige Positionen in Staatsapparat und Parlament. Bereits in der zu Ende gehenden Legislaturperiode stellt sie sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat die größten Fraktionen. (js)



* Aus: junge Welt, 1. Oktober 2010


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