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Zur Plünderung freigegeben

Brasiliens Nordosten steht unter Wasser. Umweltschützer sehen die Ursache in Abholzung und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen

Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro *

Berichte aus dem Nordosten Brasiliens handeln meist von Wassermangel. Doch nun sind weite Gebiete in den Staaten Maranhão, Piauí, Ceará, Paraíba, Rio Grande do Norte, Bahia, Alagoas und Pernambuco überflutet. Zahlreiche Flüsse sind über die Ufer getreten. Betroffen sind über eine Million Menschen, mehr als 40 starben bereits in den Fluten. 90000 Bewohner verloren Haus, Hab und Gut. In den brasilianischen Massenmedien wird über die unkontrollierbare »tropische Natur« räsoniert. Doch die tatsächlichen Ursachen werden kaum, bestenfalls am Rande, diskutiert und sind spätestens in vier Wochen wieder vergessen.

Saisonale Regenfälle und Überschwemmungen sind nichts Neues für die Region, die in Wirklichkeit gar nicht so trocken ist, wie es uns manch »Entwicklungshelfer« oder »Projektkoordinator« seit Jahrzehnten weismachen will. Die jährliche Niederschlagsmenge des »Sertão« genannten Landesinneren Nordostbrasiliens entspricht mit 500 bis 800 Litern pro Quadratmeter etwa der von Unterfranken. Und ebensowenig wie die fränkische Region ist der als »Armenhaus Brasiliens« bezeichnete nordöstliche Sertão eine Wüste, sondern besteht in Wirklichkeit aus Cerrado- und Caatinga-Wäldern und Naturweiden.

Zerstörte Ökosysteme

Was das Gebiet zum Land der »Misere« macht, sind die Interessen mächtiger Gruppierungen. Da sind die Großgrundbesitzer, die noch mehr Land wollen, das Agrobusineß, das grundsätzlich kleinbäuerliche Konkurrenz oder Subsistenzlandwirtschaften vernichten will, die Agrospritbranche, die in Cerrado und Caatinga Pflanzenanbau ausschließlich für die Treibstoffproduktion betreiben will, und wohl auch manche Entwicklungshilfeorganisationen, die noch mehr Spenden möchte. Dies alles verquickt sich zu einem System, das nicht von unabhängigen Menschen profitieren kann, die von dem leben, was sie anbauen, züchten oder sammeln.

Seit mehr als 30 Jahren werden die Einheimischen aus dem Nordosten vertrieben. Viele direkt, durch bezahlte Pistoleiros im Auftrag von Großgrundbesitzern oder Investoren. Mancher indirekt durch subversiv wirkende Propaganda der Massenmedien, die den Menschen vormacht, daß das Leben im Nordosten »Rückständigkeit« oder »totale Armut« bedeute.

Folge dieses Prozesses von Vertreibung, illegaler Landnahme, Landkonzentration in den Händen weniger Großgrundbesitzer oder multinationaler Konzerne ist die zunehmende, großflächige Abholzung für den Anbau von Monokulturen wie Soja, Zuckerrohr oder Eukalyptus. Oder ganz einfach für die simple Herstellung von Holzkohle zur Produktion von Stahl für die internationale Automobilindustrie. Eine Folge sind die gegenwärtigen katastrophalen Überflutungen.

»Schon während der vergangenen fünf Jahre nahmen die alljährlichen Überschwemmungen in Piauí und Maranhão stark zu«, erklärt Dionísio Carvalho Neto, Koordinator des Umweltnetzwerkes von Piauí (REAPI). »Die maßlose Abholzung der Cerrado-Wälder und der Caatinga haben dem Boden den natürlichen Schutz geraubt. Statt das Wasser aufzunehmen und zu speichern, wird er von der Regenflut weggespült. Das Regenwasser fließt viel schneller ab und trägt damit auch zur Verlandung der Flüsse und Bäche bei.« Derzeit am stärksten betroffen sei das ­Becken des Rio Parnaíba, das Piauí und Maranhão durchzieht und eines der größten Brasiliens ist.

Schnelle Gewinne

»Die Zerstörung geschieht ununterbrochen auf riesigen Flächen. Selbst die Regierenden geben inzwischen zu, daß die Vernichtung der Caatinga- und Cerrado-Wälder noch schneller voranschreitet als die Regenwaldabholzung in Amazonien«, fügt Carvalho Neto hinzu. Aber die Administration wolle, wenn überhaupt, nur Teile des bei Europäern und Nordamerikanern bekannten Amazonasregenwaldes oder des atlantischen Regenwaldes in den Küstenregionen schützen. Der große Rest Brasiliens, mit seinen zahlreichen indigenen Völkern und einer vielfältigen Natur, sei quasi freigegeben.

»Mit Sicherheit wird der Cerrado geflissentlich vergessen, weil er die produktivste Region Brasiliens ist«, vermutet Carvalho Neto. »Dort okkupieren die großen nationalen und multinationalen Firmen Ländereien mit dem Ziel schnellen Gewinns durch den Export von Soja, Agro­treibstoffen sowie der Ausbeutung von mineralischen Rohstoffen, insbesondere Erzen.« Wer das Ökosystem schützen will, stört automatisch deren wirtschaftliche Interessen.

In Piauí, so der Umweltschützer weiter, sei Praxis, was in Cerrado und Caatinga auch drohe: »Die Sojaproduktion, angetrieben vom multinationalen Konzern Bunge, der zudem durch Kahlschlag erzeugtes Feuerholz zur Energieversorgung der Sojaverarbeitungsfabriken einsetzt.« Zweitens grassiere dort das Agrarspritfieber, die Firma Brasil Ecodiesel unterhalte Verbindungen zur Deutschen Bank. Außerdem seien die Folgen der Ausbeutung der Diamantenvorkommen sichtbar. »Die jüngste Bedrohung ist der Zellulosekonzern Suzano Papel Celulose, der jetzt großflächige Eukalyptusmonokulturen anlegt.«

* Aus: junge Welt, 22. Mai 2009


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