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Widerstand gegen die Entlassungswelle

Soziale Proteste in Bosnien gehen weiter – trotz aller Widersprüche. Ein Reisebericht aus Tuzla

Von Inge Höger und Carsten Albrecht *

»Ich bin nicht Serbe, ich bin nicht Kroate, ich bin nicht Bosniake – ich bin arbeitslos.« So steht es auf einem Plakat, das ein Demonstrant trägt. Immer noch gehen die Proteste bosnischer Arbeiterinnen und Arbeiter weiter, wenn auch in geringerem Maße. Diese hatten Anfang Februar als Reak­tion auf eine Entlassungswelle in mehreren privatisierten Unternehmen begonnen. In Tuzla tagt zweimal wöchentlich das Bürgerplenum, Demonstrationen und Kundgebungen finden regelmäßig statt. Und in der Tat wurde durch die bosnischen Proteste bereits einiges erreicht: Drei Kantonalregierungen sind zurückgetreten, und die hohen Übergangsgelder ausgeschiedener Funktionäre wurden abgeschafft, welche nach dem für Arme kaum erschwinglichen Lebensmittel »weißes Brot« genannt wurden. Manche Kantonalversammlungen haben Krankenversicherung einiger Arbeiter übernommen. Letzteres war notwendig, da seit 1997 Unternehmen in Bosnien-Herzegowina nicht mehr verpflichtet sind, Sozialversicherungsbeiträge für ihre Beschäftigten zu zahlen. Tausende Arbeiter leben in Armut, weil sie für ihre Krankenversicherungen selbst aufkommen müssen – ganz zu schweigen von der Rentenkasse. Noch schlechter geht es den Erwerbslosen. 45 Prozent der Bosnier haben keinen Job, die Jugenderwerbslosigkeit beträgt sogar 65 Prozent.

Vor diesem Hintergrund ist es logisch, daß nach Gewerkschaftsangaben in Bosnien eine Million Menschen nur zwei Mahlzeiten pro Tag haben. Das entspricht einem Viertel der Bevölkerung. Und es ist auch logisch, daß die Proteste gegen dieses Elend nicht friedlich ablaufen konnten: Einige Regierungsgebäude wurden zu Beginn der Bewegung in Brand gesetzt. »Molotowcocktails sind zwar nicht schön, aber ohne die hätten unsere Proteste kaum Aufmerksamkeit erfahren«, sagt ein Arbeiter, der seit zwei Jahren auf seinen Lohn wartet. Der Bürgermeister von Tuzla, Jasmin Imamovic, sieht das ganz anders. Er befürchtet die Unterwanderung der Proteste durch »kriminelle Elemente«.

In der Tat lenkt die Gewaltdiskus­sion, die die bosnischen Eliten und ihre Medien seither führen, von der sozialen Notlage ab, in der sich die meisten Menschen dort befinden.

Kein ukrainisches Szenario

Als sich in den Tagen nach der ersten großen Protestwelle in zahlreichen bosnischen Städten die »Bürgerplena« formierten, um in direkter Demokratie politische Forderungen auszuarbeiten und zu formulieren, ging es den Aktivisten auch darum, das »ukrainische Szenario zu verhindern«, erzählt uns der Plenums­mitbegründer Vedad Pasic. »Denn Gewaltexzesse oder einen neuen Krieg will wirklich keiner hier im Land«, so der Student. Der Bosnien-Krieg ist erst 19 Jahre vorbei, das Trauma sitzt weiterhin tief in der Bevölkerung.

Aus diesem Grund setzen viele Bosnier ihre Hoffnung in die EU oder gar in die NATO. Diese Organisationen sehen viele als Garant für Frieden. Aktivisten wie Emin Eminagic von der linken Partei Ljievi halten das für paradox, da die NATO wie kaum ein anderes Militärbündnis für Krieg steht und die EU mit ihren neoliberalen Diktaten keineswegs einen nachhaltigen – sozialen – Frieden schaffen kann. Dennoch ist die Orientierung hin zu vermeintlichen Schutzmächten sehr stark ausgeprägt und wird sogar von einigen Vertretern des Bürgerplenums befürwortet. Das liegt zum einen an der Empörung über das Versagen der lokalen Eliten. Eine Gewerkschafterin zitiert ein bosnisches Sprichwort: »Jedes Land hat seine Mafia, aber hier hat die Mafia ein ganzes Land.«

Das Plenum ist dennoch ein Versuch, Politik aus der Mitte der Bevölkerung heraus, also »von unten«, zu machen. Die Aktiven wollen keine neue Partei gründen, sie sehen sich als Wachhund, der den Regierenden auf die Finger schaut und Vetorecht hat.

Die starke EU-Orientierung läßt sich aber auch mit der jahrhundertelangen Kolonialgeschichte Bosnien-Herzegowinas erklären. Der Kolonialismus wurde zwar durch das jugoslawische Projekt unterbrochen, findet aber nun seine Fortsetzung. Erst waren es die Osmanen, dann die Habsburger und seit 1995 sind es eben die EU-Bürokraten, die hier das letzte Wort haben. Folglich wenden sich viele Bos­nier mit ihren Forderungen an deren Instanzen, weil ja letztlich eh alles von denen entschieden wird, wie der Vorsitzende des Bundes unabhängiger Gewerkschaften im bosniakisch-kroatischen Landesteil, Ismet Bajramovic, meint. »Bosnien ist eine moderne Kolonie«, sagt er.

Zur Privatisierung gedrängt

Dem Druck von EU, Weltbank und IWF ist es auch geschuldet, daß in Bosnien – wie auf dem gesamten Balkan – massiv Staatsunternehmen privatisiert worden sind. Das »Wie« dieser Privatisierungen haben jedoch nicht selten die örtlichen nationalistischen Eliten zu verantworten. Es läßt sich meist in der Formel »Korruption statt Produktion« ausdrücken. Ohne Produktion gibt es für die Arbeiter eben auch kein Gehalt. Eine Gruppe entlassener Angestellter des Waschmittelunternehmens ­DITA berichtet uns, daß jeder von ihnen seit über zwei Jahren ohne Gehalt lebt. Die Familie hilft aus, die Armut ist spürbar. Nach einer Weile fragen sie uns: »Habt ihr nicht ein deutsches Unternehmen, das unseren Betrieb übernehmen kann?« Wer will diesen Leuten verübeln, daß ihr Vorschlag innerhalb der Privatisierungslogik ist? Die Verzweiflung der Betroffenen ist so groß, daß jeder Ausweg recht ist. Linke Gruppen wie Ljievi haben die schwere Aufgabe, den Privatisierungsprozeß als solchen in die öffentliche Kritik zu tragen.

Fast jedes Gespräch, das wir in Tuzla führen, ist geprägt von der Spannung zwischen Aufbruch und Verzweiflung, zwischen Optimismus und Pessimismus, zwischen Selbstermächtigung und Fremdbestimmung.

Verfassungsdebatte

»Die Bewegung wäre dann erfolgreich gewesen, wenn man nicht damit begonnen hätte, über eine Verfassungsreform zu reden«, findet Vehid Sehic vom Bürgerforum Tuzla. Er berät die Aktivisten des Plenums und ist der Meinung, daß sie es bei sozialen Forderungen hätten belassen sollen. Dasselbe sagen auch die Genossen von Ljievi: »Die wichtigsten Maßnahmen kann man auch ohne Verfassungsreform durchsetzen: Privatisierungsprofiteure zur Rechenschaft ziehen, Lohnzahlungen erwirken, Sozialbeitragspflicht wieder einführen.«

Andere denken, daß die Reform der 1995 von EU und USA aufgezwungenen Dayton-Verfassung eine Voraussetzung für sozialen Wandel ist. Denn die zehn Kantone, zwei Entitäten und 150 Ministern schaffen Eliten, die sich bereichern und jeden Fortschritt blockieren. Der ehemalige kroatische Präsident Stjepan Mesic schlug unlängst eine Dayton-II-Verfassung vor. Darin sieht er Bezirke vor, in denen keine Volksgruppe die Mehrheit stellt. Die kroatisch-nationalistische HDZ-Partei Bosniens war indes nicht angetan vom Vorstoß Mesics. Sie sieht damit ihre ethnisch begründete Vormachtstellung in Gefahr. In ihren Kreisen möchte man am liebsten eine kroatische Teilrepublik innerhalb Bosnien-Herzegowinas schaffen.

Linke festgenommen

Ob Verfassungsreform oder nicht – wahrscheinlich hängt der Erfolg der sozialen Forderungen davon ab, wie stark die Proteste und Plena sind. Denn auch große Pessimisten geben zu: »Die Proteste haben erreicht, daß die Politiker nicht mehr machen können, was sie wollen.« Das hat die Regierung der serbischen Teilrepublik Bosniens (Republika Srpska) schnell erkannt und sofort nach Ausbruch der Proteste linke Aktivisten präventiv ins Gefängnis gesperrt. Dennoch haben auch in ihrer Regionalhauptstadt Banja Luka Demonstrationen stattgefunden. Die Anführer ethnisch-nationalistischer Parteien sehen die Proteste jeweils als Angriff auf ihre eigene Gruppe, doch diese Spaltungsversuche haben nicht zum Ende der Bewegung geführt.

Im Oktober finden in Bosnien-Herzegowina Wahlen statt. Da sich die Protestbewegung auf keine etablierte politische Kraft verlassen kann – Nationalisten und Sozialdemokraten sind Teil des Problems, nicht Teil der Lösung –, wird es wahrscheinlich auf allen Ebenen neue Regierungen geben, die genauso sind wie die alten. »Es könnte dann im Frühjahr 2015 erneut zum Aufstand kommen – aber dann kracht’s richtig.« Der Plenumsaktivist, der uns das erzählt, mag sich nicht so ganz darauf freuen, denn bereits jetzt muß er mit Morddrohungen leben.

Die Situation in Bosnien ist widersprüchlich. Eine Gewerkschafterin will den Mut nicht verlieren: »Eines ist klar: Die Proteste haben die Menschen politisiert. Wir lassen uns nicht wieder nach Hause schicken.«

* Aus: junge Welt, Samstag 3. Mai 2014


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