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Nach den Unruhen herrscht Ratlosigkeit

Die Sozialproteste in Bosnien könnten sich auf die ganze Region ausweiten

Von Thomas Roser, Belgrad *

Vorläufig scheint die Welle gewalttätiger Sozialproteste in Bosnien-Herzegowina verebbt. Doch ein Ausweg aus der Misere des krisengeschüttelten Vielvölkerstaates ist nicht in Sicht.

Bosniens Protesten folgt der Kater. Meist kopfschüttelnd und schweigsam begutachteten am Wochenende die Schaulustigen in Sarajevo, Mostar, Tuzla und Zenica die verkohlten Überreste des Proteststurms, der am Freitag wie ein Flächenbrand über den Teilstaat der muslimisch-kroatischen Föderation in Bosnien-Herzegowina getobt war.

Die Situation sei nicht gut und zum Protest gebe es allen Grund, so der Student Nermin Sehic, der sich in Sarajevo an einer freiwilligen Aufräumaktion beteiligte: »Doch dies war das Werk von einer paar Dutzend Leuten, die nur für Chaos ohne irgendein Ziel sorgen wollten.« Von »Kriegszuständen« schrieb am Wochenende erschüttert die Zeitung »Oslobodjenje«. Valentin Inzko, der Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft, stellte gar die Entsendung von EU-Truppen nach Bosnien-Herzegowina zur Debatte.

Über 300 Verletzte, ein halbes Dutzend ausgebrannter Verwaltungs- und Regierungsgebäude, ein unwiderruflich zerstörtes Depot des Staatsarchivs im abgefackelten Sitz des Staatspräsidiums und Schäden in mehrstelliger Millionenhöhe lautet die triste Bilanz der heftigsten Ausschreitungen seit Ende des Bosnienkriegs 1995. Nach dreitätigen Hungerprotesten erboster Arbeitsloser in Tuzla hatte die Wucht der Eruption des Volkszorns im gesamten Teilstaat der muslimisch-kroatischen Föderation nicht nur die Sicherheitskräfte, sondern auch die Würdenträger in Bosnien-Herzegowina völlig unvorbereitet erwischt.

Die Brände sind zwar gelöscht, die Unruhen trotz neuer Demonstrationen in Sarajevo und Bihac am Wochenende vorläufig abgeebbt. Doch obwohl die Chefs der Regionalverwaltungen in Tuzla, Zenica und Sarajevo am Wochenende ihren Rücktritt einreichten, ist ein Ausweg aus der Misere selbst bei vorgezogenen Wahlen nicht in Sicht.

»In Tuzla entsteht eine neue Zukunft«, verkündeten die Organisatoren der dortigen Proteste nach dem Abtritt des verhassten Kantonschefs hoffnungsfroh. Doch während die Protestkomitees die Revision von kriminellen Privatisierungen, die Wiederaufnahme der Produktion stillgelegter Betriebe und Absenkung der Politikergehälter und Rücktritt des Staatspräsidiums fordern, macht sich acht Monate vor den Parlamentswahlen bei Bosniens Würdenträgern eher Rat- und Orientierungslosigkeit breit: Statt mit Lösungsvorschlägen glänzen sie mit gegenseitigen Schuldzuweisungen.

Kräfte, die den Staat stürzen wollten, hätten die Unzufriedenheit der Leute »gekidnappt«, so die erstaunliche Analyse von Außenminister Zlatko Lagumdzija, dem Chef der sozialdemokratischen SDP. Direkt auf die politische Konkurrenz schoss sich derweil der Sicherheitsminister und Medienmogul Fahrudin Radoncic ein, der schillernde Chef der Rechtspartei SBB. Dem abgetretenen sozialdemokratischen Kantonschef in Tuzla warf Radoncic vor, ein »politischer Bandit« zu sein: Die Proteste seien das Resultat von 17 Jahren »schlechter Regierung« und Korruption.

Die seit Jahren für eine Sezession plädierenden Politiker des Teilstaats der Republika Srpska werteten die Ausschreitungen in der Föderation derweil hingegen als Beweis, dass Bosnien-Herzegowina ein »erfolgloser Staat« sei. Er sei »stolz«, dass die Ausschreitungen nicht auf die Republika Srpska übergeschwappt seien, so Teilstaatspräsident Milorad Dodik. Die katastrophale wirtschaftliche und soziale Lage sei allen Staaten im früheren Jugoslawien gemein, konstatierte am Sonntag hingegen die Belgrader Tageszeitung »Blic«, die eine grenzüberschreitende Ausbreitung der bosnischen Sozialunruhen durchaus für möglich hält: »Das Szenario in Bosnien-Herzegowina bedroht die ganze Region.«

* Aus: neues deutschland, Montag, 10. Februar 2014


Wieder Demonstrationen in Bosnien

Kantonsregierungen zurückgetreten. »Hoher Repräsentant« denkt über Einsatz von EU-Truppen nach

Von Roland Zschächner **


Nach den gewalttätigen Protesten am Freitag sind am Wochenende in Bosnien und Herzegowina wieder Tausende Menschen auf die Straße gegangen. Am Samstag demonstrierten in Bihac, Prijedor und weiteren Städten Arbeiter, Rentner und Jugendliche gegen Armut und Korruption – zudem forderten sie den Rücktritt der Regierung. Am Sonntag wurde in Sarajevo der Verkehr blockiert. Das Aufbegehren führte bereits zu ersten Erfolgen: In den Kantonen Sarajevo, Tuzla und Zenice traten die Regierungen bzw. die Premierminister zurück.

Am Freitag fanden Demonstrationen in über 30 Städten statt, an mehreren Orten eskalierte die Situation, Hunderte wurden verletzt. Vor allem Jugendliche griffen die Polizei sowie Regierungsgebäude und Parteibüros an. In Tuzla und Zenica wurden die Kantonsverwaltungen, in Sarajevo zudem das Präsidialamt attackiert und in Brand gesetzt. In dessen Keller befindet sich ein Depot des Landesarchivs, das teilweise zerstört wurde. Der Aufstand begann in der vergangenen Woche in Tuzla und weitete sich schnell aus. Dort protestierten entlassene Arbeiter gegen Privatisierungen vormals staatlicher Unternehmen.

Politiker zeigten sich entsetzt über die von ihnen verursachten Proteste. So auch der österreichische Diplomat und »Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina«, Valentin Inzko. Er ist Statthalter des Westens in Sarajevo. Ausgestattet mit weitreichenden Befugnissen steht er über den gewählten Abgeordneten des Landes und kann eigenständig Gesetze er- und Minister entlassen. Inzko legte in einem Interview mit der Wiener Zeitung Kurier eine militärische Intervention in Bosnien nahe: »Wenn die Lage eskaliert, werden wir eventuell an EU-Truppen denken müssen«. Außerdem kündigt er die Verstärkung des österreichischen Kontingentes an. Wien ist mit knapp 100 Soldaten an der seit 2004 von der EU geführten EUFOR-Mission »Althea« in dem südosteuropäischen Staat präsent – Berlin mit 129.

** Aus: junge welt, Montag, 10. Februar 2014


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