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"Diese Titanic wird bald sinken"

In Tuzla, aber auch in anderen Städten Bosniens und Herzegowinas explodiert die Wut

Von Thomas Roser, Belgrad *

In Bosnien breiten sich Proteste aus. Der zunehmende Leidensdruck und die Wut über Arbeitslosigkeit, dubiose Privatisierungen und die Machenschaften der Parteifürsten treiben die Menschen auf die Straße.

Wieder flogen am Freitag in Tuzla Steine: Am dritten Tag in Folge forderten zehntausend Demonstranten in Bosniens drittgrößter Stadt die Auszahlung rückständiger Löhne und die Wiederöffnung geschlossener Fabriken. Am Nachmittag stürmte eine aufgebrachte Menge das seit Tagen belagerte Gebäude der Regionalverwaltung und setzte es in Brand.

Von explodierenden Feuerwerkskörpern und Demonstranten, die mit Metallstangen die Scheiben einschlagen, berichtete die Website der Zeitung »Dnevni Avaz«: »Die Lage gerät immer mehr außer Kontrolle.«

Solidaritätsdemonstrationen und gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei vermeldeten bosnische Medien am Freitag auch aus Sarajevo, Mostar, Bihac, Brcko, Banja Luka, Zenica und kleineren Kommunen. In mehreren Städten setzten die bedrängten Sicherheitskräfte Tränengas und Gummigeschosse ein. Auch in Zenica ging die Kantonsverwaltung in Flammen auf: Fahrzeugen der Feuerwehr wurde von Demonstranten die Zufahrt versperrt.

Brennende Autoreifen, Tränengasschwaden und blutige Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Ordnungshütern: Die verstörenden Bilder lassen die heimischen Medien bereits von einem »bosnischen Frühling« sprechen. Von Aufbruchstimmung ist in Tuzla indes nicht viel zu spüren. Es ist tiefe Verzweiflung, die die Bewohner der Stadt auf die Straße treibt. Die Unruhen seien eine »verspätete« Reaktion auf Armut, Hoffnungslosigkeit und das »Desinteresse« der Politiker an den Problemen ihrer Schutzbefohlenen, sagt der Analyst Srdjan Puhalo, »Was sich hier abspielt, hätte schon viel früher passieren müssen.«

Mit der Friedhofsruhe in dem von Wirtschaftskrise und ethnischen Dauerkonflikten geplagten Mehrvölkerstaat scheint es vorläufig vorbei. Bei 27,5 Prozent liegt die offizielle Arbeitslosenrate. Im Bezirk Tuzla, einst Zentrum der Chemieindustrie, hat heute nicht einmal mehr jeder Zweite einen Job. Den offiziell noch 80 000 Beschäftigten im Bezirk stehen mittlerweile 100 000 registrierte Arbeitslose gegenüber. Viele sind mittlerweile aus der staatlichen Krankenkasse gefallen, müssen mit kärglicher Sozialhilfe von ungerechnet 20 Euro im Monat über die Runden kommen.

»Diebe, Diebe«, riefen aufgebrachte Demonstranten in Tuzla. Tatsächlich sind es nicht nur die Folgen des Bosnienkriegs (1992-95) und der Wirtschaftstransformation, die Großunternehmen wie Polihem oder Dita in den Bankrott geführt haben. Unfähige Geschäftsführer, die ihre Position nur den politischen Schutzherren ihrer Parteien verdanken, beschleunigten deren Niedergang ebenso wie zweifelhafte Privatisierungen und »Investoren«. Oft scheint den neuen Eigentümern einstiger Staatsbetriebe mehr an der raschen Versilberung von Immobilien und Maschinen gelegen als am Fortbestand der Unternehmen. Häufig dienen die maroden Betriebe nur noch zum Waschen krimineller Gelder.

Doch es ist auch der Unmut über den nicht funktionierenden Staat und eine nur sich selbst ernährende Politikerkaste, der den Volkszorn kochen lässt. Die Parteifürsten muslimischer Bosniaken, bosnischer Serben und Kroaten können sich nicht einmal auf minimale Kompromisse verständigen. Über zwei Jahrzehnte hätten die Bosnier geschlafen, klagte in Tuzla ein Demonstrant, »Jeder muss nun auf die Straße. Denn diese Titanic wird bald sinken.«

* Aus: neues deutschland, Samstag, 8. Februar 2014


Bosnischer Aufstand

Proteste gegen schlechte Lebensverhältnisse und Armut in Nachfolgestaat Jugoslawiens. Zehntausende gehen auf die Straße

Von Roland Zschächner **


Am Freitag haben Zehntausende Menschen in Bosnien und Herzegowina für bessere Lebensverhältnisse und ein Ende der Armut demonstriert. Sie forderten die Absetzung der Regierung und sprachen sich gegen ausländische Einmischung aus. In sozialen Netzwerken war zu dem Protest unter dem Motto »50000 Menschen auf die Straßen für ein besseres Morgen« aufgerufen worden. In vielen Städten kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, die teilweise die Kontrolle verlor: Lokale Verwaltungen wurden gestürmt. In der Hauptstadt Sarajevo wurde ein Regierungsgebäude in Brand gesetzt.

Ausgangspunkt der aktuellen Ereignisse waren Proteste Beschäftigter von fünf pleite gegangenen Unternehmen im nordostbosnischen Tuzla. Sie waren am Mittwoch vor den Sitz der Bezirksregierung gezogen und verlangten staatliche Hilfen. Viele von ihnen hatten über Monate keinen Lohn erhalten, außerdem wurde ihre Sozialversicherung nicht bezahlt. Ihre Forderungen wurden abgelehnt. Bosnien gliedert sich in Kantone und zwei Entitäten, jeweils mit eigenen Regierungen und weitreichenden Rechten.

Am Donnerstag weitete sich der Protest aus. Neben Arbeitern gingen auch Studenten und Rentner auf die Straße. Bis zu 7000 Menschen blockierten Straßen und riefen vor der Kantonsverwaltung »Diebe, Diebe«. Ihnen gelang es in das Gebäude einzudringen. Die Polizei prügelte sie mit Schlagstöcken hinaus, die davor wartende Menge wurde mit Tränengas vertreiben. Die Gewalt eskalierte: Steine und Flaschen flogen, Müllcontainer wurden angezündet. Über 130 Verletzte, vor allem Polizisten, wurden gezählt.

Noch in der Nacht traf sich Regierung der kroatisch-bosnischen Entität zu einer Krisensitzung. Auf die Forderungen der Demonstranten wurde nicht eingegangen, vielmehr ist am Freitag die Polizeipräsenz in Sarajevo, Tuzla und anderen Städten erhöht worden.

Die lokalen Medien sprechen bereits von einem »Bürgeraufstand« bzw. »bosnischen Frühling«. Am Freitag nachmittag trat Kantonspremier Sead Causevic zurück. In dem 3,8-Millionen-Einwohner-Land existieren starke soziale Verwerfungen. Tuzla symbolisiert den Niedergang durch den Kapitalismus: Die Stadt war im sozialistischen Jugoslawien ein industrielles Zentrum mit Arbeitsplätzen vor allem im Bergbau, der Energiegewinnung und der chemischen Produktion. Heute ist die Mehrheit der Kombinate pleite oder steht kurz davor. Viele Fabriken waren auf Druck internationaler Organisationen wie der Weltbank oder der Europäischen Union privatisiert worden. Meist wurden sie unter Wert an ausländische Konzerne oder einheimische »Geschäftsleute« verkauft. Es entstand, was in Bosnien als die »Pleitemafia« bezeichnet wird. Diese nutzt die Möglichkeit, um »Schwarzgeld« zu waschen: Die Firmen werden gezielt in den Bankrott geführt, die Maschinen und die Gebäude mit Gewinn verkauft und die Arbeiter auf die Straße gesetzt.

Laut einer Erhebung des bosnischen Statistikamtes sind im Kanton Tuzla rund 100000 Menschen arbeitslos, gegenüber 80000, die einen Job haben. In Bosnien liegt die Arbeitslosenquote bei rund 44 Prozent. Vor allem junge Leute sind davon betroffen. Die aktuellen Proteste haben das Potential, sich über ethnische Grenzen hinweg auszuweiten. Die Probleme sind überall gleich: korrupte Politiker, Massenarmut und miserable Lebensbedingungen. So verwundert es nicht, daß bei den Demonstrationen projugoslawische Parolen zu hören sind.

** Aus: junge Welt, Samstag, 8. Februar 2014


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