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"Die politische Elite das Fürchten gelehrt"

Bosnien-Herzegowina: Nach dem Sturm auf Regierungsgebäude entwickelt sich direkte Demokratie. Ein Gespräch mit Medina Malagic


Medina Malagic ist Herausgeberin des im November 2012 gegründeten bosnischen Nachrichtenportals Sarajevo Times.


Viele Beobachter waren überrascht über die Anfang Februar ausgebrochenen heftigen Proteste in Bosnien-Herzegowina. Sie auch?

So schockierend die brennenden Regierungsgebäude und das Chaos auf den Straßen von Sarajewo im ersten Moment auch waren – das lag schon lange in der Luft. Es war nur die Frage, wann es passiert.

Was führte konkret zu den Protesten?

Es herrscht große Verachtung gegenüber der politischen Klasse und der Art, wie sie das Land in fast zwei Jahrzehnten regiert hat. Bosnien-Herzegowina hat eine der höchsten Arbeitslosenraten in Europa; Korruption und Vetternwirtschaft sind zügellos und für viele Leute sind die Zukunftsaussichten gleich null. Auslöser der Proteste war die Privatisierung staatlicher Unternehmen in der Stadt Tuzla, die zu tausenden Entlassungen führte.

Sie haben das als Bürgerrevolte bezeichnet. Warum?

Mit den andauernden Protesten und den Versammlungen in vielen Städten – »Plena« genannt – ist so etwas wie direkte Demokratie in einem Land entstanden, dessen Bewohner vorher keine Erfahrung damit gemacht hatten. In diesen Versammlungen stehen ökonomische und soziale Themen im Vordergrund, politische Parteien sind nicht willkommen.

Damit findet zum ersten Mal kollektives Handeln statt. Die Bürger organisieren sich, bilden Arbeitsgruppen und stellen Forderungen. Das alles wird aber keineswegs von ethnischen oder nationalen Interessen beherrscht. Auch wenn diese Plena erst am Anfang stehen, halte ich sie für eine vielversprechende Sache.

Die Politiker haben die Angriffe auf Regierungsgebäude »Hooligans und Vandalen« angelastet. Wie sehen Sie und die normalen Leute den miltanten Teil des Protestes?

Das war ein taktischer Schritt von Politikern, um der Bevölkerung Angst zu machen. Viele Bürger sehen den Ausbruch von Gewalt als notwendiges Ventil für die angestaute Wut und die miserablen Perspektiven. Außerdem sollten wir nicht vergessen, daß die Proteste gezielt Regierungsinstitutionen ins Visier nahmen. Das war eine klare und unmißverständliche Botschaft: Die Gewalt richtete sich nicht gegen Menschen und sie dauerte nur einen Tag.

Was erwarten Sie für die nähere Zukunft?

Es ist noch zu früh, Vorhersagen zu treffen. Meine Mitbürger machen jetzt ihre ersten Schritte in Sachen direkter Demokratie. Wer weiß, in welche Richtung das geht? Es gibt auch noch eine Menge Konfusion, was aus zwei Gründen nicht verwunderlich ist und auch zu erwarten war.

Erstens sollte man die Auswirkungen des Krieges im Hinterkopf behalten sowie die anschließende Angst und Passivität. Daher gibt es hier keine Geschichte der Suche nach neuen Alternativen. Die politischen Eliten haben bis heute mit dieser Furcht gespielt und sie als Schutz für ihre Selbstbedienung benutzt. Zweitens bleiben die Medien in diesem Land gespalten. Viele von ihnen sind mit politischen Parteien verbunden, sie zeichnen ein Bild der Proteste, das auf ihren engstirnigen Eigeninteressen basiert. Trotzdem habe ich das Gefühl, daß die Bürger dem nicht viel Beachtung schenken, weil die wirtschaftlichen und sozialen Themen weiterhin im Mittelpunkt ihrer Forderungen stehen. »Wir sind in drei Sprachen hungrig«, ist mittlerweile schon zu einem Sprichwort geworden.

Was jetzt in Bosnien-Herzegowina passiert, ist neu und radikal. Die Tatsache, daß die Leute zusammenkommen und ihre Bedürfnisse kollektiv zum Ausdruck bringen, ist das Gegenteil der allgemeinen Passivität und Lethargie, die in der bosnischen Gesellschaft 20 Jahre lang dominierte. Außerdem haben die Bürger die herrschende politische Elite zum ersten Mal das Fürchten gelehrt. Die Ministerpräsidenten von vier Kantonen haben bereits ihren Rücktritt eingereicht und die Plena haben den Kantonalparlamenten Forderungen mit einer Frist für die Umsetzung übermittelt. Die Bürger sind gestärkt, sie sind besser in der Lage, ihre Bedürfnisse zu artikulieren und sich selbst als Kollektiv zu sehen. Das könnte zu einer Verschiebung im politischen System von Bosnien-Herzegowina führen.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, Montag, 24. Februar 2014


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