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Bosniens "überflüssige" Wahlen

Die beiden Gliedstaaten des EU- und NATO-Protektorats wollen nichts voneinander wissen

Von Michael Müller, Sarajevo *

»Was gibt es da für uns schon viel zu wählen«, fragt Jasmila Sinanovic, eine 47-jährige Lehrerin in Sarajevo. »Was hier im Land passiert, ist doch sowieso alles von außen gesteuert.« Mit diesem Land meint sie ihr, wie sie es warmherzig und etwas verbittert nennt, »Heimatland Bosnien«.

In der Republik Bosnien und Herzegowina (BiH) finden am Sonntag (3. Okt.) allgemeine Wahlen statt. Doch eigentlich haben die Wähler keine Wahl. Zum einen nicht wegen der hoffnungs- und ausweglosen sozialen Situation: 165 Euro Durchschnittslohn, über 40 Prozent Arbeitslosigkeit, um die 50 Euro Sozialhilfe. Zum anderen nicht, weil das Staatsgebilde unregierbar ist. Zumindest in der Konstruktion, die das Dayton-Abkommen, das 1995 den Bosnienkrieg befriedete, vorgibt. Denn hinter dem Kennzeichen »BiH« mag eine Republik stecken, aber kein Land.

Wer die Grenze passiert, kommt entweder in der Serbischen Republik (Republika Srpska – RS) an oder in der Föderation Bosnien und Herzegowina. Mit allem separaten Fahnen- und Wappenprotz sowie den Witzen über die innerstaatlichen Nachbarn. Die gemeinsame Landeswährung heißt Mark (zu je 100 Feniga). In dem einen der beiden autonomen Gliedstaaten leben fast ausschließlich Serben, im anderen muslimische Bosniaken und Kroaten. Autonummern sind gesamtstaatlich nach dem Zufallsprinzip vergeben, damit der Registrierort nicht erkennbar ist. Weil man sich Anfang der 90er jahrelang brutal in wechselnden Bündnissen bekriegte, soll der eine nicht erkennen, woher der andere kommt. Heute scheint die Mimikry überflüssig; man will voneinander sowieso nichts wissen.

Sarajevo ist die Hauptstadt der Gesamtrepublik (und der bosniakisch-kroatischen Föderation), doch faktisch wird sie als solche von Banja Luka, der Hauptstadt der Serbischen Republik, nicht anerkannt. Man lebt unter jeweils eigener Exekutive und Legislative, also unter tausenden sich unterscheidenden und nicht selten widersprechenden Gesetzen und Verordnungen. Um überhaupt etwas zu bewegen, braucht es oft ein dickes »Kuvert«. Über all diesem chaotischen Gestrick thront der vom Westen bestellte Hohe Repräsentant und EU-Sonderbeauftragte, derzeit der österreichische Diplomat Valentin Inzko. Er kann sogar jedes Gesetz stornieren. So er dazu aus Washington oder Brüssel bewegt wird.

Zu den Wahlen, bei denen es um mehrere Präsidentschaftsposten, viele Sitze in diversen Teilstaats- und Kantonalparlamenten sowie Regierungsneubildungen geht, treten bei nur etwa drei Millionen Wahlberechtigten 63 Parteien auf 778 Listen an. Doch wer auch gewinnen oder verlieren mag, es kann sich substanziell nichts ändern. In der Verfassung, die der Westen per Dayton-Abkommen diktierte, ist nämlich ein ethnisches Prinzip festgeschrieben. So kann durch Volksgruppenveto auf gesamtstaatlicher Ebene später jede Entscheidung blockiert werden.

»Damit sind diese Wahlen eigentlich überflüssig. Vielmehr brauchte dieser Staat eine neue Verfassung«, sagt Bozidar Petkovic, der in Banja Luka Geschäftsführer eines Supermarkts ist. Er kolportiert damit eine auf dem Balkan allgegenwärtige Binsenwahrheit. Ganz empfindlich reagiert er allerdings an der Stelle, wo die USA und die EU zu einer solchen Verfassungsreform drängen. »Diktate von außen hatten wir in den letzten 15 Jahren genug.«

So argumentiert aus ganz anderen Motiven allerdings auch die schmale, superreiche inländische Profiteursschicht. Die Macher in Wirtschaft und Politik haben sich mit der Lage glänzend arrangiert. Und noch andere, und auch die wieder aus anderen Motiven, stemmen sich gegen eine neue Verfassung: muslimische Fundamentalisten, die von saudischem Geld leben, und hartleibige, mit Belgrad liebäugelnde serbische Nationalisten.

Letztere sehen die Serbische Republik in einem Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina ohnehin als obsolet an. In Banja Luka spielt man zunehmend – so auch im derzeitigen Wahlkampf – die Sezessionskarte. Der dortige Regierungschef Milorad Donik wiederholt gebetsmühlenartig, dass »wir hypothetisch jetzt das machen könnten, was die Albaner in Kosovo gemacht haben«.

Bei einfachen Leuten zwischen Banja Luka und Sarajevo begegnet man zunehmend einer nostalgischen Sichtweise. »Wir haben hier jahrhundertelang friedlich miteinander gelebt. Dann kamen diese Exkommunisten Izetbegovic, Tudjman und Milosevic (nach 1990 Präsidenten Bosniens, Kroatiens und Serbiens – M.M.), haben das alte Jugoslawien ausbluten lassen, um selbst wie Fürsten zu regieren«, sagt Dzemal Tuce, der in Mostar einer Wohnungsgenossenschaft vorsteht. »Tito wusste schon, warum er solche Typen in den Knast gesteckt hat.«

So erlebt der große Marschall ein kleine Renaissance. In Gesprächen wie im Straßenbild. Eine neue Integrationsfigur wie er ist allerdings nicht in Sicht. Eher scheint ein Wunder nötig. Doch selbst das reicht erwiesenermaßen nicht. Unweit der St. Jakobskirche von Medjugorje soll es vor etlichen Jahren eine Marienerscheinung gegeben haben. Die zieht unter dem Werbeslogan »Wo der Himmel die Erde berührt« inzwischen jährlich 1,5 Millionen Pilger aus der ganzen Welt an. Allerdings mag der Vatikan diese Marienerscheinung nicht anerkennen. Selbst Wunder sind also in Bosnien-Herzegowina nicht das, was sie eigentlich sein sollten.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Oktober 2010


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