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Bosnien instabil

Wahlverluste für etablierte Parteien. Muslime wählten ehemaligen Kriegspremier ins Staatspräsidium

Von Jürgen Elsässer *

Die letzten Wahlen unter Aufsicht der Großmächte brachten in Bosnien-Herzegowina zwar einige Überraschungen, aber im Kern nichts Neues: Muslime und Serben, die größten Volksgruppen in der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik, entschieden sich am vergangenen Sonntag mit großer Mehrheit für Politiker, die prononciert das Interesse ihrer Ethnie vertreten. Das ist nach den blutigen Jahren des Bürgerkrieges, der 1992 bis 1995 zwischen 60000 und 100000 Opfer gefordert hatte, auch nichts Besonderes. Paradox ist die Situation deswegen, weil die NATO-Staaten die Verfeindeten im Friedensschluß von Dayton (November 1995) dazu gezwungen hatten, weiterhin in einem Staat zusammenzuleben, obwohl das eigentlich keine Seite wollte. Die Balance verlangte, daß die Serben auf einen Teil ihrer Siedlungsgebiete verzichteten, andererseits eine eigene »Entität« im Rahmen des Gesamtstaates zugestanden bekamen, die Republika Srpska.

Gegen serbische Autonomie

Dieser fragile Kompromiß ist nun in Gefahr: Bei der muslimischen Bevölkerungsgruppe erhielt erstmals die Partei für Bosnien-Herzegowina (SBiH) die meisten Stimmen, die für die Auflösung der serbischen Autonomie trommelt. Diese wird künftig Haris Silajdzic in das dreiköpfige Staatspräsidium entsenden, der mit knapp 40 Prozent den Amtsinhaber Sulejman Tihic von der Partei der Demokratischen Aktion (SDA/18 Prozent) deutlich distanzierte. Die SDA dominierte seit ihrer Gründung 1990 das politische Leben in Sarajevo und galt als fundamentalistisch. Auch Silajdzic gehörte ihr während des Bürgerkrieges an und war eine Zeitlang sogar Premier, trat aber nach dem Friedensschluß von Dayton aus und wird seither als der Mann Washingtons gesehen. Bezeichnend: Von der prowestlichen SBiH hört man mittlerweile schrillere Töne gegen die Serbenrepublik als von der früher proiranischen SDA.

In der serbischen Bevölkerungsgruppe kamen – auch das eine Premiere – die Unabhängigen Sozialdemokraten (SNSD) auf Platz eins, ihr Präsidentschaftskandidat Nebojsa Radmanovic erhielt 56 Prozent der Stimmen. Abgeschlagen auch in diesem Fall die bis dato stärkste Kraft, die 1990 von Radovan Karadzic mitgegründete Serbische Demokratische Partei (SDS).

Sozialdemokraten radikaler

Die NATO-Mächte hätten noch vor zwei Jahren diesen Wahlausgang enthusiastisch begrüßt, SNSD-Chef Milorad Dodik war für Washington und Brüssel ein Hoffnungsträger. Doch als Premier der Republika Srpska hat sich Dodik radikalisiert, nachdem er feststellen mußte, daß der Westen und die radikalen Moslems jedes Kompromißangebot der Serben mit immer weitergehenderen Vorstößen zur Aufhebung ihrer Republik beantworteten. Im Wahlkampf brachte er deshalb die Abhaltung eines Sezessionsreferendums ins Gespräch, was zur Mobilisierung für seine Partei entscheidend beigetragen haben dürfte.

Die kroatische Bevölkerungsgruppe wählte Zeljko Komsic, den Kandidaten der multiethnischen Sozialdemokraten, ins Staatspräsidium. Damit ist die Macht der extrem-nationalistische HDZ gebrochen, die sich vor kurzem aufgespalten hatte. Ob das positiv ist, muß man sehen: Die HDZ hatte zwar ein klar antiserbisches Profil, respektierte aber die Eigenständigkeit der Republika Srpska – um mit diesem Argument auch für die eigene Volksgruppe möglichst viel Autonomie fordern zu können. Komsic hingegen tritt, wie Silajdzic, für einen streng zentralistischen Einheitsstaat ein.

* Aus: junge Welt, 5. Oktober 2006


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