Bosnien: Der zerrissene Staat
Sechseinhal Jahre nach Dayton: Nur noch dem Namen nach ein Ganzes
Von Jean-Arnault Dérens
Im Folgenden dokumentieren wir Teile eines Artikels, der am 7. März in der Schweizer Wochenzeitung WoZ erschien und ein wenig optimistisches Licht auf den Zustand des Staates Bosnien-Herzegowina wirft.
...
Am vergangenen 18. Januar kam es in Sarajevo zu
gewalttätigen Demonstrationen. Anlass war die
Auslieferung
von sechs Algeriern, mutmasslichen internationalen
Terroristen, an die USA. Die sechs Männer mit
bosnischem
Bürgerrecht waren im Oktober letzten Jahres
verhaftet worden,
wurden nun in die US-Militärbasen in Bosnien und von
dort auf
den US-Militärstützpunkt Guantánamo in Kuba
gebracht. Auf
den Strassen der bosnischen Hauptstadt
demonstrierten vor
allem Jugendliche. Protest kam aber auch von
gerichtlichen
Instanzen – sogar vom höchsten Gericht des Landes –,
da das
Gesetz die Auslieferung von Staatsbürgern verbietet.
Minister
Rasim Kadic musste schliesslich zugeben, dass
lediglich eine
Schuldvermutung gegenüber den sechs Algeriern
bestand und
die USA starken Druck ausgeübt hatten. Dieser
Auslieferungsentscheid zeigt deutlich, wie
beschränkt die
Souveränität des bosnischen Staates ist. Er berührt
zudem die
sensibelsten Punkte der jüngeren Vergangenheit
dieses
Landes.
Nach den Attentaten vom 11. September musste
Bosnien-Herzegowina befürchten, international
geächtet zu
werden, weil offizielle Stellen viel zu lange
Verbindungen mit
internationalen islamistischen Netzwerken
unterhalten hatten.
Das kann sich das Land, das nach wie vor
existenziell auf
internationale Hilfe angewiesen ist, nicht leisten.
Die Kontakte
gehen auf das Konto der Partei der Demokratischen
Aktion
(SDA) des ehemaligen Präsidenten Alija Izetbegovic
und
belasten die SDA beträchtlich. Nach den Wahlen vom
November 2000 musste die Partei zwar einen guten
Teil der
Exekutivmacht der sozialdemokratischen Opposition
überlassen, doch die Komplexität der bosnischen
Institutionen
lässt ihr immer noch grossen Spielraum. Ins Visier
der Kritik
oder gar der Untersuchungsbehörden könnte auch die
Agentur
für Information und Dokumentation (AID) geraten.
Diese 1996
gegründete Agentur war nie etwas anderes als eine
politische
Polizei, eine Parallelstruktur der SDA, welche die
Dienste von
zahlreichen fremden, eingebürgerten
Kriegsfreiwilligen aus
islamischen Ländern in Anspruch nahm. Ihr Direktor
Irfan
Ljevakovic ist ein früherer Leiter der Third World
Relief Agency
(TWRA) – eines Hilfswerks, das 1987 von den beiden
Saudis
Fatih und Sukarno al-Hassanein gegründet worden war.
Fatih
al-Hassanein hatte in Jugoslawien studiert und kam
über eine
Diskussionsgruppe in Sarajevo in Kontakt mit den
künftigen
Gründern der SDA. Neben Ljevakovic finden sich in
der
Führung der TWRA mehrere Gefährten von Präsident
Izetbegovic. Zwischen 1992 und 1995 flossen mehrere
hundert
Millionen Dollar über die TWRA, hauptsächlich aus
Saudi-Arabien. Wahrscheinlich gehörte auch Usama Bin
Laden zu den grosszügigen Gönnern der Organisation.
Hinter
der humanitären Fassade war die Hauptaufgabe der
TWRA,
Waffen nach Bosnien zu liefern. Nebenbei finanzierte
die
Agentur auch die Zeitung «Lilijan», das offizielle
Organ der
SDA.
... Seit
dem Friedensschluss, dem Abkommen von Dayton im
Herbst
1995, ist Bosnien-Herzegowina in Wirklichkeit ein
internationales Protektorat, auch wenn diese
Bezeichnung
vermieden wird. «Unsere Institutionen sind so
kompliziert,
dass sie gar nicht funktionieren können. Unter
diesen
Umständen ist es nicht erstaunlich, dass alle
wichtigen
Entscheide von der internationalen Gemeinschaft
getroffen
werden», erklärt ein Jurist in Sarajevo mit einer
gewissen
Bitterkeit. Das ist ihm nicht zu verübeln.
Bosnien-Herzegowina
ist offiziell ein souveräner Staat mit zwei
Entitäten, der
Bosniakisch-Kroatischen Föderation Bosnien und der
Serbischen Republik (Republika Srpska, RS). Jede
dieser
beiden Entitäten verfügt über ein eigenes Parlament
und eine
eigene Regierung. Die Föderation ist in zehn Kantone
aufgeteilt, was das Funktionieren der zentralen
Institutionen
hemmt. Die Kantone haben oft einen ethnisch
einheitlichen
Charakter: Sie sind kroatisch in der Herzegowina und
bosniakisch in Zentralbosnien. Das bedeutet, dass
Bosnien-Herzegowina über dreizehn Erziehungs-,
Kultur- und
Sozialministerien verfügt: diejenigen der zehn
Kantone, der
Föderation, der Republika Srpska und schliesslich
des
gemeinsamen Staates Bosnien-Herzegowina. Die
Bemühungen, die Macht zu dezentralisieren, haben
praktisch
überall dazu geführt, dass korrupte Eliten die
lokale Macht an
sich gerissen haben. Sie versuchen mit allen
Mitteln, die
ethnische Einheitlichkeit des Territoriums zu
erhalten, das sie
kontrollieren. Theoretisch sieht das Abkommen von
Dayton
zwar die sukzessive Rückkehr der Flüchtlinge vor,
was
längerfristig wieder zu einem Zusammenleben der
verschiedenen Ethnien führen sollte. Das
Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR veröffentlicht
Rückkehrzahlen, die seit zwei Jahren leicht
zunehmen. Doch
die Realität bleibt hinter den verkündeten Zielen
zurück. Die
Wiederherstellung eines integralen bosnischen Raumes
bleibt
nach wie vor ein frommer Wunsch. Und die
internationalen
Vertreter in Bosnien scheinen sich damit zu
begnügen,
Aktionen zu verhindern, die den Gesamtstaat
gefährden.
... Die Föderation und damit das Gesamtkonstrukt
Bosnien-Herzegowina steht unter starkem Druck der
kroatischen Nationalisten. Sie haben es nie
akzeptiert, dass
sie keinen eigenen Staat erhalten haben, und
versuchen,
Bosnien in eine dreiteilige Konföderation
umzuwandeln, in
dem die bosnischen Muslime, die Serben und die
Kroaten je
über einen eigenen Staat verfügen. Zu diesem Zweck
organisierte die Kroatische Demokratische
Gemeinschaft
(HDZ), das bosnische Pendant zur Partei des früheren
kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman, im November
2000
ein Referendum, in dem sich die Mehrheit der
Bevölkerung für
die Selbständigkeit aussprach. Die HDZ, die von den
demokratischen Veränderungen in Zagreb unangefochten
bleibt, nutzte dabei das Wahlergebnis der
Kommunalwahlen
vom November 2000, das ihr für weitere Jahre die
unangefochtene Herrschaft über die KroatInnen
Bosniens
sicherte. Im Frühling 2001 riefen die führenden
HDZ-Politiker
zum Ungehorsam auf, und sogar kroatische
Kadersoldaten
liessen sich dazu bewegen, die gemeinsame bosnische
Armee zu verlassen. Internationalem Druck, gepaart
mit Druck
aus Zagreb – wo die sozialdemokratische Regierung
nichts so
fürchtet wie die Gefährdung der Annäherung Kroatiens
an die
EU durch kroatischen Extremismus – gelang es
vorübergehend, diesen Fieberschub zu stoppen.
Die grössere Bedrohung für den gemeinsamen Staat
kommt
zurzeit aber nicht aus der kroatischen Herzegowina,
sondern
aus der Republika Srpska. Dort sind die Versuche der
internationalen Gemeinschaft, eine reformorientierte
Politik in
Gang zu bringen, kläglich gescheitert. Bei den
Kommunalwahlen im November 2000 triumphierte die
Serbische Demokratische Partei (SDS), die vom
gesuchten
Kriegsverbrecher Radovan Karadzic gegründet worden
war.
Die Regierung des Reformers Mladen Ivanic – er wurde
aufgrund internationalen Drucks trotz dem Wahlsieg
der SDS
zum Premierminister ernannt – ist schwach und
verfügt nur
über wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Die
SDS-Politiker
betonen, die Partei habe sich seit Karadzics Zeiten
gewandelt.
Im Parlament sperren sie sich mit aller Kraft gegen
die
Privatisierungsgesetze, welche die internationale
Verwaltung
durchsetzen will. Dieser Widerstand hat nicht
zuletzt damit zu
tun, dass gewisse SDS-Politiker bei Unternehmen wie
der
Telekom-Gesellschaft der Republika Srpska und der
Erdölraffinerie in Modrica eigene Interessen
verfolgen.
Dasselbe Szenario ist übrigens in den kroatischen
Gebieten
anzutreffen, wo sich die HDZ gegen die
Privatisierung des
Aluminium-Kombinats von Mostar wehrt, das von ihr
kontrolliert
wird.
Profit schlagen können die Nationalisten aller
Couleur auch
aus der wachsenden wirtschaftlichen Misere, in der
sich die
Bevölkerung befindet. Letzten Herbst betrug das
Durchschnittsgehalt in Bosnien 446 Deutsche Mark.
Doch nur
schon Lebensmittel für eine vierköpfige Familie
kosteten
durchschnittlich 429 Mark. Für Wohnungsmiete,
Kleider,
Elektrizität und Heizkosten bleibt nichts. Die Zahl
der
Arbeitslosen betrug am Jahresende offiziell 267.000
Menschen. Sie erhalten vom Staat praktisch keine
Fürsorge
und hängen von den internationalen humanitären
Organisationen ab, die das Land nach und nach
verlassen.
... Paradoxerweise wird die Idee, das Abkommen von
Dayton zu
revidieren, nicht nur von den verschiedenen
NationalistInnen
unterstützt, sondern auch von jenen, die den
gemeinsamen
Staat stärken möchten. «Dayton hat es zwar
ermöglicht, den
Krieg zu stoppen, uns aber in der Mitte des Weges im
Stich
gelassen, ohne dass klar ist, ob Bosnien ein
einziger, zwei
oder gar drei Staaten werden soll», sagt ein
Journalist in
Sarajevo. ...
Studien zeigen, dass die BürgerInnen Bosniens
aufgehört
haben, das Land als Ganzes zu denken. Und die
Unterschiede
zwischen den verschiedenen Landesteilen haben sich
bereits
in die Kulturlandschaft Bosniens eingegraben. So ist
in den
Vororten von Sarajevo der Übergang vom Territorium
der
Föderation zu demjenigen der Republik gut sichtbar:
Die
internationale Hilfe hat in der Föderation einen
bescheidenen
wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht, während die
Serbische Republik sich nach wie vor in der tiefsten
Krise
befindet. Für die alten EinwohnerInnen von Sarajevo
hat der
Frieden entschieden einen bitteren Beigeschmack. Das
erklärt
sich schnell, wenn man eine Rechnung aufstellt: Vor
dem Krieg
lebten in der Hauptstadt eine halbe Million
Menschen. 1995,
bei Friedensschluss, waren es nur noch 250.000.
Heute ist die frühere EinwohnerInnenzahl allmählich
wieder
erreicht, aber nur durch einen noch heute
andauernden
Bevölkerungstransfer. Die SerbInnen verlassen nach
wie vor
die Stadt – es wird geschätzt, dass heute noch 12.000 in
Sarajevo leben, während es vor dem Krieg 150.000
gewesen
waren. Gleichzeitig versuchen viele StädterInnen, im
Ausland
ein Auskommen zu finden, und ihren Platz im Zentrum
der
Stadt nehmen Flüchtlinge und Bauern aus den Dörfern
ein,
angezogen von den relativ besseren
Lebensbedingungen. ...
Aus: WoZ, 7. März 2002
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