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Neues Licht auf den Massenmord von Srebrenica?

Mutmaßliche Mittäter wurden in Bosnien verhaftet *

Der Journalist und Literaturwissenschaftler Germinal Civikov hat wie kaum ein anderer die Prozesse vor dem Haager Jugoslawien-Tribunal verfolgt. In seinem Buch »Srebrenica. Der Kronzeuge« (2009, Promedia Wien) erschütterte Civikov die Glaubwürdigkeit des Gerichts: Er beschreibt darin, wie Richter und Ankläger das vermutlich grausamste Verbrechen in Europa nach 1945, die Massenmorde von Srebrenica, bisher von einem einzigen Kronzeugen definieren ließen. Im Lichte jüngster Ereignisse beantwortete Civikov Fragen von ND-Redakteur Detlef D. Pries.



Neues Deutschland (ND): Sie kritisieren in Ihrem Buch dass das Haager Tribunal keinerlei Interesse an den Mittätern seines Kronzeugen Drazen Erdemovic gezeigt hat. In Bosnien wurden nun aber drei dieser Männer verhaftet. Sehen Sie sich in Ihrer Kritik widerlegt?

Erdemovic: Nein. Es sind 14 Jahre vergangen, seit der Srebrenica-Kronzeuge Drazen Erdemovic in Den Haag ausgesagt hat, er habe nach dem Fall von Srebrenica am 16. Juli 1995 mit sieben weiteren Männern 1200 muslimische Gefangene erschossen. Dabei erwähnte er seine Mittäter namentlich, wie auch seine Vorgesetzten, die den Massenmord befohlen haben sollen. Es ist ein Skandal, dass keiner von ihnen vom Jugoslawien-Tribunal zur Verantwortung gezogen wurde. Darauf bezog sich meine Kritik.

Da kommt einer, beichtet einen Massenmord gigantischen Ausmaßes, nennt seine Mittäter, aber der Gerichtshof will von denen nichts wissen! Eine juristische Erklärung dafür kann es nicht geben. Man darf also spekulieren.

Welche Erklärung haben Sie?

Eine wäre, dass man die Aussage von Erdemovic nicht durch die seiner Mittäter gefährden lassen will. Die ohnehin schier unglaubwürdige Aussage war nämlich die einzige eines unmittelbaren Täters zu den Srebrenica-Morden, durch die man die bosnisch-serbische Führung – sprich Ratko Mladic und Radovan Karadzic – direkt belasten konnte. Mit dieser Aussage wurde 1996 auch der internationale Haftbefehl gegen Mladic und Karadzic begründet. Die Ankläger wussten freilich sehr gut, dass die Geschichte von Erdemovic vorn und hinten nicht stimmt, die »internationale Gemeinschaft« erwartet aber von ihnen Beweise für einen Völkermord, also tun sie, was sie können: nämlich keinen anderen Täter verhören. Und siehe da: Am 26. Februar hat nicht die Anklagebehörde des Tribunals, sondern die Anklagebehörde der Republik Bosnien und Herzegowina drei der Mittäter festgenommen: Vlastimir Golijan, Zoran Goronja und Stanko Savanovic. Merkwürdigerweise machte diese Nachricht außerhalb Bosniens keine Schlagzeilen.

Ihr Buch ist vor Kurzem auch in Serbisch erschienen. Könnte das einen Anstoß für die Verhaftungen gegeben haben?

Die Enthüllungen eines eher unbekannten Autors dürften kaum einen solchen Effekt haben. Tatsächlich aber wurde mein Buch Ende Oktober 2009 auf der Belgrader Buchmesse präsentiert. Zeitungen, der Belgrader Rundfunk und der Fernsehkanal RTS berichteten darüber. Einen Monat später durchsuchte die serbische Anklagebehörde für Kriegsverbrechen die Wohnung von Milorad Pelemiš in Novi Belgrad. Kompaniechef Pelemiš soll Erdemovic zufolge den Befehl für die Massenerschießung am 16. Juli 1995 gegeben haben. Ob man Pelemiš allerdings festnehmen wollte, ist nicht klar. Die Polizisten kamen mit einem Durchsuchungsbefehl. Pelemiš' Frau soll erklärt haben, ihr Mann sei seit zwei Tagen verschwunden. Das ist er bis heute. Er wird uns also leider nicht erzählen, von wem er mit Geld und Gold für diesen Massenmord belohnt wurde, wie Erdemovic behauptet.

Was wissen Sie über die drei in Bosnien Verhafteten?

Stanko Savanovic soll Erdemovic zufolge versucht haben, ihn – Erdemovic – im Auftrag von Kompaniechef Pelemiš zu erschießen. So habe Pelemiš kurz nach dem Massenmord verhindern wollen, dass der aussagewillige Erdemovic ihn vor Gericht belastet. Schwer verwundet habe Erdemovic den Anschlag überlebt.

In Wirklichkeit handelte es sich um eine Streiterei zwischen betrunkenen Söldnern in einem Café. Möglicherweise fühlten sich manche benachteiligt und irgendwann griff man zur Pistole. Auch der angebliche Attentäter Savanovic kriegte eine Kugel in den Unterleib.

Im September 2003 stand derselbe Savanovic in Belgrad wegen Frauenhandel und Vergewaltigung vor Gericht und behauptete, er könne sein Opfer gar nicht vergewaltigt haben, da er nach dieser Verwundung impotent sei. Damit kam er allerdings nicht durch. Zeitungsberichten zufolge wurde Savanovic der Lüge überführt, indem man ihm eine Erektionsspritze verpasste, worauf er entsprechend reagierte. Er wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, sein Name stand in allen Zeitungen, das Tribunal wollte aber nichts von ihm wissen.

Die anderen zwei Verhafteten, Vlastimir Golijan und Zoran Goronja, sind mir lediglich aus der Namenliste Erdemovics bekannt.

Es wird aber auch nach einem vierten Mittäter gefahndet: Leutnant Franc Kos, Zugführer von Erdemovic. Kos ist also auf der Flucht, was sehr schade ist. Erdemovic behauptet nämlich, zum Exekutionskommando hätten außer ihm Franc Kos, Marko Boškic, Zoran Goronja, Stanko Savanovic, Aleksandar Cvetkovic und Vlastimir Golijan gehört. Den Befehl habe ein gewisser Brano Gojkovic geführt, den Erdemovic »unseren Kommandanten« nannte. Gojkovic aber war ein rangloser Soldat! Nun kann uns Leutnant Franc Kos leider nicht erklären, warum er sich von einem einfachen Soldaten hat kommandieren lassen.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen diesen Vorgängen und dem Anlaufen des Prozesses gegen den ehemaligen bosnisch-serbischen Präsidenten Radovan Karadzic?

Ein Zusammenhang ist durchaus möglich. Erdemovic steht auch im Karadzic-Prozess auf der Liste der Zeugen der Anklage. Und wenn ihm Karadzic im Kreuzverhör die Frage stellt, wo denn seine Mittäter sind, brauchen sich die Richter nicht dermaßen zu erniedrigen wie ihre Kollegen im Miloševic-Prozess. Sie hatten es Miloševic einfach verboten, dem Zeugen diese Frage zu stellen.

Bisher argumentierte das Tribunal, es könne sich nicht mit »kleinen Fischen« befassen. Erwarten Sie nun eine Überstellung der Verhafteten nach Den Haag?

Nein. Ankläger und Richter des Tribunals haben die Aussage von Erdemovic verwendet, um mehrere Urteile zu produzieren und einen Völkermord glaubhaft zu machen. Sie werden sich nicht gefallen lassen, dass drei seiner Kumpane diese Aussage erschüttern. Es geht schließlich um den Beweis, dass der Massenmord auf der Branjevo-Farm, das heißt der Völkermord, auf Befehl der militärischen Führung der bosnischen Serben stattgefunden hat.

Außerdem wissen wir ja nicht, was die drei Mittäter aussagen werden. Sie könnten die Aussage Erdemovics auch anstandslos bestätigen, wenn sie damit besser davonkämen. Dazu brauchen sie aber nicht nach Den Haag.

Könnten neue Aussagen von Mittätern die bisher gültige Wahrheit über die Vorgänge in und um Srebrenica tatsächlich erschüttern?

Das können sie durchaus, nur wird es solche Aussagen nicht geben. Warum sollten kriminelle Söldner der Wahrheit mehr verpflichtet sein als Ankläger und Richter des Jugoslawien-Tribunals? Die haben sich nicht einmal die Mühe gegeben, die absurdesten Ungereimtheiten in der Aussage von Erdemovic zu überprüfen, und, wie im Miloševic-Prozess, keine Frage zugelassen, die diesem Zeugen gefährlich werden könnte.

* Aus: Neues Deutschland, 15. März 2010


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