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Fünf Jahre nach dem Dayton-Abkommen: Eine ernüchternde Bilanz

Viel mehr als Wahlen brachte die OSZE nicht zu Stande

Unter dem Titel "Harzende Demokratisierung in Bosnien und Herzegowina" veröffentlichte die Neue Zürcher Zeitung fünf Jahre nach dem Dayton-Friedensvertrag eine "Gemischte Bilanz der OSZE". Autor des Artikels ist der Journalist Marcel Stoessel, der auch für das Institut des hautes études internationales in Genf eine Studie zur Rolle der OSZE in Bosnien-Herzegowina verfasst hatte.
Der in weiten Strecken kritische Artikel, der mit einigen Fehlern und Versäumnissen der OSZE ins Gericht geht, hätte dabei noch durchaus härter ausfallen können, wie die Ereignisse Ende Februar/Anfang März 2001 zeigen. Die nationalistische kroatische Führung in Bosnien-Herzegowina betont demonstrativ ihren Willen, aus dem bosnischen Staatswesen sich wieder zu verabschieden; und der neue Präsident Kostunica vereinbart mit den Repräsentanten der Republik Srpska eine engere Zusammenarbeit, fast so, als handle es sich dabei um einen eigenen Staat. Das Abkommen von Dayton, das einen multinationalen Staat schaffen und in sicheren Grenzen garantieren wollte, darf im Lichte der fünfjährigen Praxis als gescheitert betrachtet werden. Von Einheit keine Spur - die nationalen Entitäten richten sich in ihren eigenen Staatsteilen ein. Nur die Muslime scheinen ein gesteigertes Interesse an einem geeinten Staat Bosnien-Herzegowina zu haben. Verständlich, denn sie können sich, allein auf sich gestellt, im Gegensatz zu den anderen Beiden Entitäten, an keinen benachbarten Staat ihrer Nationalität anlehnen.
Wir dokumentieren die Analyse von Marcel Stoessel in Auszügen:


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Mehr als fünf Jahre nach der Unterzeichnung des «Allgemeinen Rahmenabkommens für Frieden in Bosnien und Herzegowina» im Dezember 1995, das den dreieinhalbjährigen Bosnien-Krieg beendete, fehlen dem Land in vielerlei Hinsicht noch immer die Attribute eines souveränen Staates. Zwar blieb der Staat de jure in seinen international anerkannten Grenzen bestehen; de factosind das Territorium und die Macht jedoch zwischen den drei wichtigsten Volksgruppen - Bosnjaken (Muslimen), Serben und Kroaten - aufgeteilt.

... Nach wie vor existieren drei Streitkräfte; in den gesamtstaatlichen Institutionen verfügt jede ethnische Gruppe über ein Vetorecht; und bisher führten sämtliche Urnengänge insgesamt zu einer Stärkung der monolithischen nationalistischen Parteien. Das Kriegsziel der Teilung Bosniens ist für serbische und kroatische Nationalisten keineswegs vom Tisch. ... Dayton ist weit mehr als ein klassischer Friedensvertrag. Verschiedenen internationalen Organisationen wird die Aufgabe des State Building übertragen. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist nur eine von ihnen. Ihr fielen jedoch entscheidende Aufgaben zu, die es ihr erlaubten, Kompetenz und Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Die innert kürzester Zeit aufgebaute und bis dahin grösste OSZE-Mission musste vorerst beurteilen, ob «glaubwürdige Wahlen unter den gegebenen sozialen Voraussetzungen in den beiden Teilstaaten», in der Bosnjakisch-Kroatischen Föderation und in der Republika Srpska, möglich sind. Das im Friedensabkommen von Dayton vorgesehene späteste Datum, der 14. September 1996, galt nicht als «unantastbar».

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Die Provisorische Wahlkommission unter dem Vorsitz des OSZE-Missionschefs, Robert Frowick, regulierte jeden Aspekt des Wahlprozesses. Als besonders kontrovers erwiesen sich die Regeln in Bezug auf Flüchtlinge und intern Vertriebene. Während das Daytoner Abkommen festlegt, dass diese Bürger «als Grundregel» in jener Munizipalität ihr Wahlrecht ausüben sollten, in der sie 1991 ihren Wohnsitz gehabt hatten, stellte es ihnen die Wahlkommission frei, sich in einer anderen Gemeinde einzutragen. Der gross angelegte Missbrauch dieser Regel führte letztlich zueiner Verschiebung der für dasselbe Datum vorgesehenen Munizipalwahlen. Ein neutrales politisches Klima war nicht gewährleistet: Meinungs-, Versammlungs-, Bewegungs- und Pressefreiheit waren stark eingeschränkt. Die grosse OSZE-Beobachtungsmission verzichtete in ihrer Schlusserklärung denn auch auf das Prädikat «frei, fairund demokratisch». Neben technischen Unzulänglichkeiten stand die erhärtete Vermutung des Wahlbetrugs im Raum. Doch entscheidend war ein anderer Aspekt: Die Wählerinnen und Wähler hatten sich in ihrer überwältigenden Mehrheit für die drei nationalistischen Parteien, die serbische SDS, die kroatische HDZ und die bosnjakische SDA, entschieden.

Vor allem die SDS und die HDZ machten durch systematische Obstruktion des Friedensprozesses eine kontinuierliche internationale Präsenz unabdingbar. Die OSZE überwachte fünf weitere Urnengänge: landesweite Wahlen 1998 und 2000, Munizipalwahlen 1997 und 2000 sowie ausserordentliche Wahlen in der Republika Srpska 1997. Eine schwache Tendenz zu den politisch gemässigten Parteien zeigte sich lediglich bei den Bosnjaken, für die der Gesamtstaat die einzige Überlebenschance darstellt. Die OSZE nutzte ihre weitgehenden Kompetenzen verschiedentlich: Sie strich nicht genehme Kandidaten von den Listen, setzte gewählte Politiker und ganze Gemeindeversammlungen ab (die Implementierung der Resultate der ersten Munizipalwahlen erwies sich als ausserordentlich schwierig), sanktionierte hetzerische Wahlslogans und verbot gar bei einer der Wahlen zwei kleinere Parteien. Doch der erhoffte Sinneswandel blieb aus; nicht einmal der demokratische Umbruch in Kroatien und Jugoslawien führte zu mehr Kooperation innerhalb Bosniens.

... Ohne Wahlen gibt es keine Demokratie, aber Demokratie bedeutet mehr als Wahlen. So verstärkte die OSZE nach dem ersten Urnengangihre Bemühungen zur Festigung einer demokratischen Bürgergesellschaft. Nichtregierungsorganisationen - etwa multiethnische Vereinigungen für die Rückkehr von Vertriebenen - wurden systematisch als Alternative zu nationalistischen Strukturen gefördert. Auch politische Parteien erhielten finanzielle und technische Hilfe, wobei multiethnischen und dem Dayton-Prozess verpflichteten Parteien der Vorzug gegeben wurde. Dies war deshalb sinnvoll, weil die drei nationalistischen Parteien über ein grosses informelles Netzwerk - bis hin zu eigenen Geheimdiensten - verfügen, was ihnen strategische Vorteile gegenüber neuen Gruppierungen verschaffte. Zur Demokratisierungsstrategie der OSZE gehört auch die Ausbildung von Gemeindebehörden und Justizbeamten. Dabei stehen die Bekämpfung der bis heute grassierenden Korruption und die Förderung des Rechtsstaates, der in Bosnien über wenig Glaubwürdigkeit verfügt, im Vordergrund.

Ein zentrales Element einer funktionierenden Bürgergesellschaft sind nach Ansicht der OSZE pluralistische, unabhängige Medien. Denn historische Wahrheit und das gegenwärtige Geschehen sind ebenfalls ethnisch geteilt in Bosnien. ... Als zunehmend erfolgreiche Abschreckung gegen Hetzpropaganda erwies sich die für die Munizipalwahlen 1998 eingeführte tägliche Beobachtung der Berichterstattung durch eine OSZE-nahe Medienexperten- Kommission. Sie sollte Fairness und den Zugang aller Parteien zu den Medien sicherstellen.

... Nicht weniger als 16 internationale Menschenrechtsabkommen - darunter die Europäische Menschenrechtskonvention - wurden in das Friedensabkommen von Dayton integriert und sind direkt als staatliches Recht in Bosnien anwendbar. In der Realität ist Diskriminierung auf der Basis von Ethnizität, vor allem seitens der Serben und der Kroaten, an der Tagesordnung. Die Rückkehr von Vertriebenen hat zwar im vergangenen Jahr an Schwung gewonnen, wird aber weiterhin massiv behindert. Die OSZE verfügt mit 30 im ganzen Land verteilten Human-Rights Officers über die grösste Menschenrechts-Präsenz auf dem Feld. Ihr besonderes Augenmerk gilt den für die Rückkehr entscheidenden Eigentumsfragen, doch ist ihre Macht rein informell.

Dasselbe gilt für die unter der Ägide der OSZE stehende, aber nach nationalem Recht operierende Ombudsperson. Sie nimmt individuelle Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen seitens staatlicher Organe entgegen, diskutiert über diese mit den Behörden und gibt Empfehlungen ab. Die erste Ombudsfrau, die Schweizerin Gret Haller, konnte so zahlreiche Einzelfälle ohne grosse Publizität einer Lösung zuführen. Einige Hinweise deuten darauf hin, dass die Empfehlungen der Ombudsperson vermehrt befolgt werden.

Unter der Vermittlung der OSZE wurden 1996 zwischen den früheren Konfliktparteien zwei militärische Abkommen geschlossen. Zum einen ein Übereinkommen zwischen Bosnien-Herzegowina, der Bosnjakisch-Kroatischen Föderation und der Republika Srpska über vertrauens- und sicherheitsbildende Massnahmen. Bei der Umsetzungist die grosse Zahl der bisher erfolgten Inspektionen hervorzuheben; diese waren allerdings zuvorangekündigt worden. Hinzu kommt die verbesserte Atmosphäre zwischen den Angehörigen der drei de facto existierenden Armeen, die sich im Verlauf der Zeit zunehmend entspannt hat. Dies kam beispielsweise 1999 bei einem OSZE-Seminar zur demokratischen Kontrolle der Streitkräftezum Ausdruck. Bei der zweiten militärischen Vereinbarung handelt es sich um ein subregionales Abrüstungsabkommen, das auch Kroatien und Jugoslawien einschliesst, mit dem Ziel eines ausgewogenen stabilen Niveaus der Verteidigungskräfte auf niedrigster Ebene im Einklang mit den jeweiligen Sicherheitsbedürfnissen. Erste Schritte beim Abbau der schweren Waffen sind bereits erfolgt.

... In Bezug auf die Wahlen, bei denen die OSZE über reale Macht verfügt, sind einige Kritikpunkte anzumerken. Die nicht erfüllten Mindestbedingungen für den ersten Urnengang verhalfen den ultranationalistischen Parteien zu einer zusätzlichen Legitimation. Weit gravierender waren jedoch die Regeln der Provisorischen Wahlkommission von 1996 und 1997, die es den Vertriebenen zu einfach machte, an einem anderen als ihrem Heimatort ihre Stimme abzugeben. Die OSZE muss sich den Vorwurf gefallen lassen, hier der Zementierung der im Krieg erreichten «ethnischen Säuberungen» nicht genügend entgegengewirkt zu haben. Schliesslich wurde der Vorwurf der Unparteilichkeit laut, denn die OSZE hatte ihre klaren Präferenzen für sozialdemokratische und liberale Parteien. Diese Strategie scheint aus den oben erwähnten Gründen jedoch gerechtfertigt.

... Vorerst offen bleibt, ob eine von aussen herbeigeführte und in ihrer Art teilweise «undemokratische» Demokratisierung zum Erfolg führen wird. Die OSZE leistete - unter Einbezug der Bevölkerung - wichtige Beiträge für den Aufbau einer demokratischen Bürgergesellschaft und die Respektierung der Menschenrechte. In diesen Bereichen ist jedoch selbst eine Zwischenbilanz etwas mehr als fünf Jahre nach Kriegsende verfrüht. ...
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 24. Februar 2001

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