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Vom Krieg gezeichnet – eine Reise durch Bosnien

Von Hannes Hofbauer, Wien*

Im Juni erschien in der Tageszeitung "junge Welt" eine bemerkenswerte dreiteilige Serie von Reiseberichten aus Bosnien-Herzegowina. Der österreichische Publizist Hannes Hofbauer hat diese Reisen im Jahr 2004 unternommen und schildert nicht nur Eindrücke und Erlebnisse, sondern interpretiert das Erlebte auch.
Wir dokumentieren im Folgenden die Berichte im Ganzen.



Teil I

Über Slawonien in die Republik Srpska

Eine Reise nach Bosnien beginnt vor der Bassena, zumindest wenn man von Wien aus aufbricht und dort in einer Altbauwohnung im 15. Gemeindebezirk wohnt. Die Bassena ist jener Ort, an dem sich rund um den Gürtel in über 120 Jahre alten, meist dreistöckigen Mietskasernen die Hausbewohner treffen. Der Wasserhahn am Flur jedes Stockwerks bildet das Zentrum der Bassena-Gespräche. Dort kommen vor allem Frauen zusammen, auch heute noch, selbst dann, wenn Wasserleitungen längst in die Küchen gelegt worden sind.

Als die Nachbarin erfährt, daß wir nach Bosnien fahren, gerät sie ins Schwärmen. Den ganzen Sommer hat sie in ihrer Heimat Jugoslawien verbracht. Sie stammt aus Serbien – in Sichtweite zur bosnischen Grenze ist sie aufgewachsen. Und dort, in Lozinica, geht das Leben einen anderen, langsameren Gang. 35 Jahre lebt sie bereits in Wien, 27 davon in besagter Bassena-Wohnung. Wenn sie Urlaub in Jugoslawien macht, dann braucht sie täglich nur eine Tablette einzunehmen, in Wien sind es elf. Sie sagt das in der Tonart einer aus dem Paradies Vertriebenen.

In Wien muß sie noch auf den Enkel aufpassen, deshalb ist sie zu Schulbeginn in die Großstadt zurückgekommen. In zwei, drei Jahren, so hofft unsere Nachbarin, wird der Kleine flügge sein – und sie zumindest auch den Herbst in Jugoslawien verbringen können. Sinnlos, ihr zu sagen, daß es Jugoslawien gar nicht mehr gibt.

Pakrac

In vier Stunden ist man von Wien aus mit dem Auto an der kroatischen Grenze. Dazwischen liegt der Balaton; Maisfelder so weit das Auge reicht. Die Grenzstation Barcs wirkt verwaist, die sogenannten Gastarbeiterrouten liegen westlich Richtung Zagreb oder östlich Richtung Novi Sad und Belgrad. Erst hinter Virovitica werden die Straßen schmaler, nach dem Bilo Gori, den weißen Bergen, erstreckt sich Slawonien. Schon im ersten Dorf begegnen uns die Zeugen des Bürgerkrieges. Abgebrannte Häuserreste, aus denen Nußbäume wachsen, die Fensterstöcke herausgerissen, die Wände voller Einschußlöcher. Am Rand der Straßendörfer, in Mali Zdenci beispielsweise, dort, wo die Häuser wieder aufgebaut sind, obwohl so gut wie überall noch der Putz fehlt, verkaufen Kleinbauern Kartoffeln, Paprika und Paradajz, also Tomaten.

Pakrac nimmt einem den Atem. Hier fielen am 2. März 1991 die ersten Schüsse im kroatisch-serbischen Ringen um den Zerfall und Erhalt Jugoslawiens. Kroatische Milizen legten es damals darauf an, die Polizisten von Pakrac, die wie die meisten Einwohner der ehemaligen österreichischen »Militärgrenze« Serben waren, zu provozieren. Als sich die lokalen Beamten weigerten, die kroatische Schachbrettfahne – das neu adaptierte Ustascha-Symbol – auf der Polizeistation zu hissen, kam es zu Schießereien. Daraufhin rückte die jugoslawische Volksarmee in den Ort ein. Der Bürgerkrieg hatte begonnen. Pacrac sieht heute aus, als ob noch niemand seither versucht hätte, die Zerstörungen der wochenlangen Kämpfe zu beseitigen. Hinter den Häuserfassaden, die allesamt mit Einschußlöchern von Maschinengewehrsalven durchfurcht sind, fallen die großteils neoklassizistischen Gebäude in sich zusammen.

Der Anblick der Häuserzeilen drückt aufs Gemüt. Jeder dritte Bau liegt entweder als Schutthaufen oder erhebt seine Kamine mitten in einer Brandruine. Dort, wo aufgebaut worden ist, prangt hin und wieder eine Plakette von US-Aid oder einem EU-Rekonstruktions- und Rückkehrprogramm.

An der meistbefahrenen Kreuzung, hinter dem völlig zerstörten Großkaufhaus, hat die Stadtverwaltung eine durch den Krieg entstandene Baulücke zu einem kleinen Park umgewandelt. In seiner Mitte hat der marmorne Franjo Tudjman eine Bleibe gefunden, der »erste Präsident Kroatiens«, wie ihn eine Inschrift apostrophiert.

Von einem jungen Passanten wollen wir wissen, warum gerade die Kaufhäuser der Einkaufskette »Buducnost« so verheerend zerstört worden sind. Unseren Verdacht, der kroatisch-nationale Volkszorn hätte sich hier gegen ein jugoslawisches Symbol entladen, bestätigt der Mann, weist aber darauf hin, daß in einem der Gebäude, obwohl es zusammenzubrechen droht, noch gearbeitet wird. Die Zukunft von »Buducnost« ist jetzt allerdings kroatisch. Wir wollen von dem Passanten wissen, ob Serben in Pakrac geblieben oder nach der kollektiven Vertreibung im Jahre 1995 wieder zurückgekehrt sind: »Ja, aber nur wenige«, gibt er zur Antwort und hat es plötzlich eilig, davon zu kommen. Sein Verhalten ruft uns in Erinnerung, wie es in unseren Breiten fast 50 Jahre gedauert hat, bis ohne Tabus über die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges gesprochen werden konnte.

Die Suche nach einer Herberge erweist sich als schwierig. Unmöglich, wie uns zwei Frauen im kleinen Geschäft an der Ecke sagen. In Pakrac schläft man nicht, zumindest nicht als Fremder. Eine Verkäuferin beschreibt uns den Weg nach Lipik, einer vier Kilometer entfernten Ortschaft. Auch dort kann selbst die inzwischen hereingebrochene Nacht nicht verdecken, daß jedes zweite Haus zerschossen, leer, menschenleer ist. Serben gibt es hier seit dem 1. Mai 1995 keine mehr. Damals hatte die kroatische Armee mit ihrer Aktion »Blitz«, der die Aktion »Sturmgewitter« in der Krajina folgte, zur großen »ethnischen Säuberung« geblasen.

Banja Luka

Die Save trennt – hier in Bosanska Gradiska – Kroatien von Bosnien. Zwei Zollkontrollen jenseits des Flusses. Zuerst die bosnisch-herzegowinischen Bundesbehörden, die sich um die grüne Versicherungskarte Sorgen machen. Fünf Meter dahinter die Miliz der Serbischen Republik, die einen Blick in den Kofferraum werfen will. Meine Frage nach einer Wechselstube löst Erstaunen aus. »Euro?« fragen sie. Erst in Banja Luka merken wir, daß der Euro nicht überall angenommen wird. Wir wechseln in die Mark, die Konvertible Mark (KM).

Schon zuvor, in Bosanska Gradiska, fällt auf, daß südlich der Save der Bürgerkrieg bei weitem weniger Schäden angerichtet hat als im kroatischen Westslawonien. Selbst die katholische Kirche steht in voller Pracht und gutem Zustand an der Einfahrtsstraße zur Republika Srpska. Die Moschee der Stadt befindet sich im Wiederaufbau. Inmitten eines ruhig daliegenden, offensichtlich unbeschädigt gebliebenen mohammedanischen Friedhofs wird gerade das Gottenhaus des örtlichen Imam im Ziegelbau neu errichtet.

Die Souvenierhändler in Banja Luka bieten holzgeschnitzte Slibowitz-Fässer und Weidenkörbe an. Dazwischen politische Zitate: Radovan Karadzic, der von Den Haag gesuchte frühere Präsident der Republika Srpska, als Schlüsselanhänger, Che Guevara als T-Shirt, pravoslawische Kirchendevotionalien.

Am Flüßchen Vrbas gegenüber der Burg Trvdjava ißt es sich im Schatten riesiger Platanen vorzüglich. Der Wein stammt aus Montenegro, die Tomaten aus einem der Kleinbauerngärten. Und die dunklen PKW der mafiotischen Oberschicht zeigen, wer es sich hier in der Serbischen Republik gut gehen läßt. Dazwischen SFOR- und OSZE-Fahrzeuge, die scheinbar wie der Fisch im Wasser des Stadtverkehrs schwimmen.

Außenseiter SDS

Abends im Fernsehen wird auf den zwei empfangbaren lokalen TV-Stationen – RTL, CNN, RAI 1 und MTV bestimmen das flimmernde Sortiment – über die bevorstehenden Lokalwahlen berichtet. Während der Sender aus Sarajevo jeden Kommentator pro Satz zumindest einmal »Bosnien und Herzegowina« sagen läßt, wird im quasi-staatlichen Sender der Serbischen Republik, dem RTRC, das Wort Bosnien ebenso vermieden wie die Bezeichnung Herzegowina. Radio-Television Republika Srpska wird übrigens skurriler Weise von der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHCD kontrolliert. Daß es so bleibt, darauf hat der Hohe Repräsentant der internationalen Staatengemeinschaft, der Brite Paddy Ashdown, ein Auge. Denn die Mehrheit der Bevölkerung in der Republika Srpska wählt konstant die Serbische Demokratische Partei (SDS).

Die SDS gilt bei der internationalen Verwaltung nicht nur deshalb als politischer Außenseiter, weil sie von Radovan Karadzic gegründet worden ist und angeblich noch immer von seinen Gefolgsleuten kontrolliert wird, sondern ist bei IWF, EU und NATO in Mißkredit geraten, weil sie auf politischer Selbständigkeit der Serbischen Republik besteht. Ihren Führern bekommt das freilich nicht immer gut. In regelmäßigen Abständen werden sie von dem unumschränkt herrschenden Hohen Repräsentanten ihrer Ämter enthoben und ihrer politischen Bürgerrechte für verlustig erklärt. Das hat bereits Carlos Westendorp so gehandhabt, als er am 5. März 1999 den Präsidenten der Republik, Nikola Poplasen, absetzte. Westendorps Nachfolger, Wolfgang Petritsch, fuhr im gleichen Kolonialstil im November 1999 mit der Absetzung von 22 serbischen Regionalpolitikern fort. Der aktuelle Hohe Repräsentant, Paddy Ashdown, entfernte am 30. Juni 2004 Parlamentspräsident Dragan Kalinic und 58 weitere hohe serbische Politiker und Beamte, die meisten davon aus den Reihen der SDS, aus ihren Ämtern in Banja Luka.

In der TV-Station von RTRC kommen ellenlange Berichte über diverse kandidierende Parteien mit allerlei Kürzeln. Steife Vorsitzende erklären auf immer dasselbe Bild abgebenden Pressekonferenzen, was alles besser werden soll, muß, wird – wenn ausgerechnet ihnen eine Mehrheit beschieden sein wird. Nur die SDS – immerhin die weitaus stärkste Kraft im Lande und mit den Regierungsgeschäften trotz ständig erzwungener Personalwechsel vertraut, kommt nur als Stehbild auf den Schirm.

Netzwerke

Warum trotz fehlender bzw. mangelnder medialer Präsenz die Repräsentanten der serbisch-nationalen SDS Mehrheiten bei Wahlen finden, erklärt ein Insider aus der Regierung, der nicht genannt werden will, mit den landesweit funktionierenden Netzwerken. Die meisten Einwohner im serbischen Teil Bosniens wissen um die Fiktion der bosnisch-herzegowinischen Staatlichkeit Bescheid. Und auch darüber, welche – kolonialen – Interessen EU, NATO und diverse NGO’s verfolgen, kann man ihnen, seit dem Bombenkrieg der Nordatlantikallianz auf Jugoslawien, der in diesem Teil des früheren Vielvölkerstaates am 30. August 1995 mit NATO-Angriffen auf Pale begonnen hat, nichts vormachen.

Wie solche Netzwerke gestaltet sind, darüber erhalten wir auf unserer Fahrt von Banja Luka Richtung Prijedor einen sehr konkreten Eindruck. Jedes Mal, wenn wir anhalten, um idyllisch daliegende Landstriche oder das Treiben auf den Bauernhöfen zu bestaunen und in uns einzusaugen, hält ein Wagen oder kommt jemand auf uns zu, um danach zu fragen, ob wir einen technischen Defekt oder ein sonstiges Problem hätten. Im bosnischen Hügelland östlich von Banja Luka kennt jeder jeden. Um sich politisch zu orientieren, braucht niemand mediale Informationen des individualisierten Stadtlebens. Die Dorfgemeinschaft ist das Medium.

Auch wirtschaftlich gehen die Uhren im serbischen Dorf etwas anders, als wir es gewohnt sind. 30 Kilometer hinter Banja Luka halten wir an einer kleinen Mühle. Hierher kommen die Bauern aus der ganzen Umgebung, um ihr Getreide mahlen zu lassen. Auf LKW, Traktoren oder Pferdefuhrwerken stapeln sie in weißen Säcken den geernteten Weizen. Der Müller wiegt die Fuhr – und drei, vier Tage später holen sich die Bauern ihr Getreide als Mehl wieder ab. Unwillkürlich muß man bei diesem Anblick an die Reformpolitik des IWF und der Weltbank denken, die ja gerade zum Ziel hat, internationale Investoren profitabel ins Land zu bringen. Lokale Müller hätten dann keine Chance mehr, wenn deutsche oder italienische Getreidemultis einmal ihren Fuß nach Bosnien gesetzt haben. Derweil jedoch geht das Leben in der Serbischen Republik seinen eigenen Gang. Auch, was die Erinnerung betrifft.

Gedenken an Titos Partisanen

Wie nirgendwo sonst in Ex-Jugoslawien gedenkt man in Banja Luka der antifaschistischen Partisanen des Zweiten Weltkrieges. Im Zentrum der Hauptstadt steht bis heute ein Heldenplatz der anderen, der sozialistischen Art. Gedacht wird den Kämpfern und Kämpferinnen gegen den deutschen Faschismus. Moslems, Kroaten und Serben stehen hier vereint – in Stein gemeißelt – auf Podesten, rote Sterne inklusive. Es fällt auf, daß einzelne Antifaschisten erst 1999 oder 2003 gestorben sind, was ihre Nachfahren und die Stadtverwaltung nicht daran hindert, auch lange nach dem Ende der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien ihrer zu gedenken.

Der nächste Tag beginnt mit einem geplatzten Kontakttreffen. Der örtliche Vorsitzende der SDS, Andjelko Grahovac, hat seinen Termin mit uns vergessen oder nie daran gedacht, ihn wahrzunehmen. Vom Stadtbüro der serbisch-nationalen Partei in Banja Luka werden wir zuerst freundlich drei Häuser weiter zur Zentrale des Energieversorgungsunternehmens geführt. Hier nimmt Herr Grahovac den Posten des Direktors ein. Die Portiersfrau weiß nur, daß der umtriebige Multifunktionär gerade das Haus verlassen hat. Nach 15 anscheinend geschäftigen Minuten zur Herstellung eines telefonischen Kontakts mit dem Direktor findet sich eine Sekretärin, die uns wiederum drei Häuser zurück in die SDS-Zentrale führt.

Unsere mangelhaften serbokroatischen Sprachkenntnisse lassen einen zweiten Versuch scheitern, hier mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Niemand von den zehn, 15 Leuten spricht deutsch oder englisch. Oder will es nicht sprechen. Unser wenig elaboriertes Russisch stößt auf Unverständnis, dient aber zumindest soweit, uns nicht völlig abschütteln zu können. Wir vereinbaren einen weiteren Termin, drei Stunden später soll sich eine kompetente Person der größten lokalen Partei für ein Gespräch bereitfinden. Als Trost serviert eine aus allen Nähten zu platzen drohende Minirock-Trägerin »domacni kava«, Hauskaffee. Er erweist sich als hervorragender Kaffee der türkischen Art.

Drei Stunden später: die dritte Abfuhr. Unwillkürlich kommen einem die Romane des jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andric in den Sinn. In der Travniker Chronik »Besuch beim Wesir« beschreibt er treffend und genau, wie die »Internationalen« zur Zeit der napoleonischen Kriege – der französische Konsul und der österreichische Botschafter – im Dickicht von Desinteresse und Verweigerung bei Volk und Hoher Pforte auflaufen und scheitern. Waren damals die osmanischen Behörden, die bosnisch-islamischen Händler und die christliche bäuerliche Bevölkerung gemeint, so agieren heute nationale Repräsentanten der Serbischen Republik – und wohl auch der kroatisch-muslimischen Föderation – nicht unähnlich. Die »Internationalen« werden hier nicht gerne gesehen.


Teil II

Vom muslimischen Travnik ins orthodoxe Pale

Die Serbische Republik lassen wir – ein wenig frustriert – hinter uns. In Richtung Travnik überqueren wir den fast 1000 Meter hohen Komar-Paß, der hinter Jajce und damit bereits in der kroatisch-muslimischen Föderation liegt. In manchen Siedlungen liegt kein Stein mehr auf dem anderen. Haus für Haus zerstört, viele bis zu den Betonskeletten aller Ziegel entkleidet, die anderswo als Aufbauhilfe gedient haben mögen.

Abends erreichen wir Travnik. Sechs, sieben Minarette, die meisten davon in grellem, neu und unschuldig wirkendem Weiß, recken sich gegen den Himmel. Als wir das Quartier beziehen, spricht gerade der Muezzin über Lautsprecher sein letztes Gebet an diesem Tag. Die Sonne geht unter.

Geschundenes Denkmal

Travnik taumelt in den Orient. Für die internationalen Helfer unterschiedlichster Entwicklungsagenturen, schweizerisch, dänisch, Malteserorden, mag der kollektive Drang zur Geschichte etwas Mühseliges, Nervenaufreibendes sein. Am 11. September 2004 hat er auch seine positiven Seiten. Niemand in Travnik würde verstehen, warum die Zahlenkombination 9/11 anderswo Entsetzen auslöst und daß vor drei Jahren die Welt eine andere geworden wäre. Keine mediale oder öffentliche (Anti-)Terrorhysterie ist hier spürbar, die historische Zäsur in Travnik liegt fast zehn Jahre zurück. Mit dem Abkommen von Dayton hat sich die ehemalige Hauptstadt des osmanischen Paschalik (Provinz) Bosnien von Jugoslawien emanzipiert. Daß dieses neue Selbstbewußtsein auf vormoderner Symbolik beruht, ja rückwärts gerichtet, reaktionär ist, wird bald klar. Junge Männer lassen sich Bärte nach neuester islamischer Mode wachsen, und so manche Frau verhüllt ihr ganzes Gesicht mit einem schwarzen Schleier.

Seine Blütezeit endete für Travnik abrupt, als die Hohe Pforte in Istanbul ihren bosnischen Regierungssitz 1821 nach Sarajevo verlegte. Seither liegt der Ort im Dornröschenschlaf, aus dem ihn auch jugoslawisches Königstum und Kommunismus nicht wachgeküßt haben. Die Islamisten, die nun die gesellschaftliche Kontrolle weitgehend ausüben, haben sich ideologisch und religiös des Anspruchs entledigt, Städte und Menschen aufzuwecken. Es lebt sich beschaulich, aber auch bescheiden hier.

Auf dem Weg in das idyllisch liegende Gasthaus am »blauen Wasser« passieren wir ein Monument, das im ersten Augenblick wie ein Stück abstrakter Kunst in Marmor aussieht, bis sich bei näherem Augenschein die Reste eines Gesichtszuges aus dem roten Stein herauslösen. Es ist das Denkmal des Travniker Antifaschisten Josip Mazar-Sosa, der hier 1943 ermordet worden ist. Noch vor dem Bürgerkrieg, im Jahr 1991, haben islamische Milizen diese in ihren Augen falsche Erinnerung aus dem Stadtbild tilgen wollen. Zweimal legten sie Dynamit an die Grundfesten des Monuments, was zwar den Kopf beschädigte, aber nicht stürzte. Vielmehr mußten sämtliche Mieter und Wohnungsinhaber in der Umgebung jedesmal neue Fenster einbauen lassen, wenn Josip Mazar-Sosa aus dem Gedächtnis der Stadt gebombt werden sollte. Zuletzt hat dann offensichtlich noch jemand mit Hammer und Stemmeisen das Gesicht des Partisanen zum klobigen Stein geschlagen. Warum sich seither niemand in der Stadtverwaltung gefunden hat, der dem halb gescheiterten Denkmalsturm ein Ende setzt, weiß Allah allein.

Sarajevo

Die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina empfängt uns mit endlosen Reihen fragwürdiger sozialistischer Wohnghettos. Kilometerlang geht es das Flüßchen Miljacka hinauf, bis die ersten baulichen Anzeichen einer Stadt im herkömmlichen Sinne ins Blickfeld geraten. Von Kriegsschäden ist entlang der vom Westen kommenden Einfahrtsstraße neun Jahre nach dem Ende der Kämpfe nicht mehr viel zu bemerken. Nur hier und da eine ausgebombte und anschließend eingefallene alte Fabrik. Wer nichts von den Schrecklichkeiten der frühen 1990er Jahre gehört hätte, könnte in Versuchung geraten, das ganze bauliche Elend der bosnischen Hauptstadt dem sozialistischen Modernisierungswahn zuzuschreiben. Erst knapp unterhalb des Trebevic-Berges beginnt die Altstadt.

Die Bascarsija, der traditionelle Basar, versteckt sich hinter einer Reihe von neoklassizistischen Prachtbauten aus der österreichischen Zeit am rechten Ufer der Miljacka. Hier bieten die Händler Kupferarbeiten, Lederwaren, Musikinstrumente, allerlei aus Holz gefertigte Dinge sowie Gold- und Silberschmuck an. Die »Internationalen« geben einen Teil ihres üppigen Lohns aus, US-amerikanischer Slang ist zur zweiten Umgangssprache in der Altstadt geworden.

Unser erster Weg führt zum Markt. Hier schlugen am 5. Februar 1994 und am 28. August 1995 Granaten ein und töteten 68 bzw. 41 Menschen im Marktgetümmel. Die beiden Ereignisse veränderten den Gang des bosnischen Bürgerkriegs. Obwohl die Urheberschaft für beide Attentate, die unter den Kürzeln »Markale 1« und »Markale 2« in die Literatur eingangen sind, abschließend nicht geklärt werden konnte, machten deutsche und US-amerikanische Medien und Politiker sogleich serbisch-jugoslawische Einheiten für die Gewalttaten verantwortlich. Der 9. Februar 1994 führte zum militärischen Ultimatum der NATO gegen die serbische Seite, in Reaktion auf den 28. August 1995 stiegen zwei Tage später 60 US-Kampfjets vom Flugzeugträger »Theodor Roosevelt« zu ihrem ersten tödlichen Einsatz auf. Die serbische Stadt Pale wurde bombardiert.

Vergeblich sucht man mehr als zehn Jahre nach den schrecklichen Ereignissen an der Markthalle einen Hinweis auf Tat oder Opfer. Kein Gedenkstein erinnert Einheimische oder Fremde an jene Wendepunkte im bosnischen Bürgerkrieg, die das Eingreifen der NATO provoziert haben. Eine Passantin, die von uns auf das seltsame Schweigen angesprochen wird, erklärt, auch sie wisse nicht, warum die Stadtverwaltung oder der Staat das Gedächtnis an jene Untaten nicht erhalten wollen. Allerdings, meint sie, soll im kommenden Jahr eine Inschrift an der Mauer gegenüber angebracht werden. Dann führt sie uns ein paar Gassen weiter zu einer in Stein gemeißelten Anklage gegen die serbischen Angriffe. 18 Tote hat es hier am 27. Mai 1992 unter einer nach Brot anstehenden Menschenmenge gegeben. Nur drei Tage später hatte die UNO auf Druck der USA ein Embargo gegen Jugoslawien verhängt, das fast zehn Jahre dauern sollte. Einen Beweis, daß das Brotschlangenmassaker von serbischen Mörsergranaten verursacht worden wäre, gab es nicht. Im Gegenteil: Der damalige österreichische UN-Botschafter Peter Hohenfellner soll – laut jugoslawischer Nachrichtenagentur Tanjug – Informationen an den ehemaligen UN-Vorsitzenden Boutros Boutros Ghali zurückgehalten haben, die die These einer muslimischen Täterschaft erhärtet hätten.

Der Tod zieht uns auch zur alten Steinbrücke über die Miljacka. An dieser Stelle hat der bosnische Serbe Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand samt Gattin ermordet. Die in jugoslawischen Zeiten in den Straßenbelag gemeißelten Fußabdrücke des als Helden gefeierten Princip sind im Zuge der bosnischen »Wiedergeburt« nach dem Krieg entfernt worden. Und auch der Platz auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses heißt seit Alija Izetbegovic wieder Austria-Platz. Der k.u.k.-Militärpalast am Kopfende des Austria-Platzes, wohin der Thronfolger damals unterwegs war, dient auch heute wiederum als Armeestützpunkt. Vor dem Einfahrtstor steht ein Wagen mit einem US-amerikanischen Nummernschild: »US Army«.

Zurück in der Bascarsija nehmen wir neben einem freundlichen Herrn im Kaffee Rosengarten Platz. Mit Wien, unserer Heimatstadt, assoziiert er gutes Trinkwasser und die Geschichte seines Großvaters. Dieser diente, nachdem Bosnien von Österreich annektiert worden war, in der k.u.k.-Armee und verbrachte zwei seiner Jugendjahre in der vielleicht schrecklichsten Schlacht, die Europa je gesehen hatte: am Isonzo. Als der freundliche bosnische Herr, ein gebildeter, aber sichtlich verarmter Mann, seinen Großvater im Massenmorden des Karstes beschreibt, läuft mir ein leichter Schauer über den Rücken. So gleichen sich zwei völlig verschiedene Lebensgeschichten, zumindest jene unserer Vorfahren. Auch mein Großvater saß schlecht ausgerüstet über ein Jahr im italienischen Karst fest und hat sein Jugendtrauma wohl nie verarbeitet. Daß mir seine Geschichte in Sarajevo, fast 90 Jahre später, wiederum begegnet, hat nichts mit Parapsychologie zu tun, wie es der freundliche Herr aus Bosnien erklären will, sondern mit der österreichischen Großmachtpolitik vor und im Ersten Weltkrieg.

Der Preis der Dayton-Verfassung

Die Kolonialpolitik hat in der Zwischenzeit die Herrschaft gewechselt. In unseren Tagen regieren Europäische Union und NATO das Land. Der Geist des Hohen Repräsentanten schwebt über der bosnischen Hauptstadt, mystifiziert das politische Geschehen und behindert – auch nach Meinung liberaler Kreise – das wirtschaftliche und soziale Fortkommen des Staates. Die frühere Finanzministerin der bosnisch-herzegowinischen Föderation, Azra Hadziahmetovic, die wir in der Universität treffen, sieht in der Dayton-Verfassung das aktuelle Haupthindernis für die ökonomische Entwicklung des Landes. Ein Staat, zwei Republiken, in der Föderation in zehn Kantone unterteilt, und jede Menge Gemeinden verschlingen das gesamte – zugegeben mickrige – Volksvermögen auf administrative Weise. Die heute an der ökonomischen Fakultät lehrende Hadziahmetovic wünscht sich eine Europäisierung der Verhältnisse in Bosnien. Und interpretiert alle ihre besten Wünsche in dieses eine Wort hinein: Europa. Was sie mit Europäisierung meint, bleibt indes unklar: Weströmische Vertragsgesellschaft, funktionierende Marktwirtschaft, Kosmopolitismus, Zivilgesellschaft – so die Schlagworte, die in unserem Gespräch mehrmals die Runde machen.

Abends, auf der Suche nach einer Bleibe, werden wir in die bosnische Wirklichkeit zurückgeholt. Im Hotel »Bosnia«, einem realsozialistischen Bau mit ebensolchem Personal, verlangt der Rezeptionist laut Preisliste 225 Konvertible Mark (KM) für das Zimmer. Das sind 125 Euro. Unsere ablehnende Reaktion läßt ihn ein alternatives Angebot machen. Der Neffe seines Freundes, oder so ähnlich, würde uns für den halben Betrag im Nebenhaus – einem im Stil des späten 19. Jahrhunderts errichteten Gebäude – ein Apartment für die Hälfte überlassen. Eine sauber hergerichtete Wohnung inklusive Küche und Kochgeschirr wird auf diese Art für drei Tage und Nächte unsere Bleibe.

Am nächsten Tag geben Interviews mit Journalistenkollegen, einer Ökonomin und dem bosnisch-herzegowinischen Verantwortlichen für den Balkan-Stabilitätspakt Auskunft über die Träume der hiesigen gesellschaftlichen Elite. Einzig der Beamte aus dem Außenministerium, für den Stabilitätspakt zuständig, spricht von falscher Politik und verpaßten Chancen, ohne gleichzeitig die Hoffnung auf baldige Besserung im Mund zu führen. Direkt traurig macht einen bei den anderen Gesprächspartnern die wirklichkeitsfremde, jedoch mit Inbrunst gespielte Gewißheit, daß es – ab morgen – aufwärts gehen wird. Floskeln von erwarteten ausländischen Investoren, verbesserter Menschenrechtslage, dem Zusammenwachsen eines einheitlichen Staatsgebildes, ja gar Lebensgefühls bestimmen hier die Mythologie am Anfang des neuen Jahrtausends. Bosnien ist als Markt zu klein, aber ..., Bosnien wird schlecht regiert, aber ..., Bosnien unterliegt ausländischen Interessen, aber ... – Was nicht sein soll, ist auch nicht. Und so muß Europa für Hoffnung und aufgehende Sonne herhalten. Das neue Nachkriegs-Sarajevo, zumindest seine Intelligenz, soweit sie nicht ausgewandert ist, versteht sich als südöstlicher Vorposten eines idyllisierten Europa, von dem sie Dankbarkeit und Hilfe erwartet. Wofür?

Das serbische Pale

Von Sarajevo den Berg hindurch führen zwei schmale Straßen nach Pale, der serbischsten aller Städte in der Republika Srpska. Gleichzeitig mit der Ausfahrt aus der bosnischen Hauptstadt hört der Verkehr unvermittelt auf. Ins 16 Kilometer entfernte Pale existieren kaum Beziehungen. Selbst der Bus dorthin fährt nicht vom Stadtzentrum aus, sondern vom Busbahnhof in der Nähe des Flughafens, einem kleinen Landeseck, das topographisch – oder besser – politisch, zur Serbischen Republik auf dem Territorium von Sarajevo gehört.

In Pale wohnt die Familie von Radovan Karadzic, Pale war die Hauptstadt der serbischen Republik, bis im Jahr 1997 moderate Kräfte um die Präsidentin Biljana Plavsic auf Druck Washingtons und Brüssels die Administration der Serben in Bosnien nach Banja Luka verlegten. Erst dieser Wechsel hat UNO, EU und die USA erweicht, die Sanktionen gegen das kleine serbische Volk im kleinen bosnisch-herzegowinischen Staat aufzuheben. Biljana Plavsic hat ihre Kooperation mit den westlichen Interventen letztlich wenig genutzt. Sie wurde vom Haager Tribunal wegen ihrer früheren Zusammenarbeit mit Karadzic als Kriegsverbrecherin zu elf Jahren Haft verurteilt und sitzt hinter schwedischen Gardinen im Frauengefängnis Hinseberg 200 Kilometer westlich von Stockholm.

Pale empfängt uns freundlich. Dem Kellner der örtlichen Cevabzinica ist es direkt anzumerken, wie er sich freut, unbewaffnete Fremde zu bedienen. Hier, in der Höhle des serbischen Nationalismus, werden Ausländer in aller Regel nur auf Militärjeeps wahrgenommen, die durch die Stadt patrouillieren. Im Zentrum sind die SFOR-Truppen tatsächlich rund um die Uhr präsent. Zwei, drei Wagen voll mit italienischen Carabinieri stehen mit laufenden Motoren vor einem christlich-orthodoxen Denkmal. Alle Soldaten tragen, anders als im übrigen Bosnien-Herzegowina, kugelsichere Westen, was ihrer Stimmung zweifellos abträglich ist. Die Aggressivität ist selbst für uns spürbar, die wir, im touristischen Outfit gekleidet, über den Platz schlendern.

Erst vor wenigen Monaten, Anfang April 2004, stürmten SFOR-Truppen die kleine Kirche in der Stadtmitte, sprengten sich in das Haus des Popen und richteten ihn und seinen Sohn derart zu, daß beide bleibende gesundheitliche Schäden davontrugen. Die Messe lesen kann der orthodoxe Priester aus Pale nach dieser SFOR-Attacke, die eigentlich der Suche nach Karadzic galt, nicht mehr.

Solche parakriegerischen Interventionen seitens der NATO-geführten Armee finden in der Republika Srpska laufend statt, insbesondere in der gebirgigen Landschaft östlich von Sarajevo, wo Karadzic und seine Getreuen, vom Westen zum Sinnbild des Teufels herbeigeschrieben, vermutet werden. Ein Volk deckt, auch neun Jahre nach Dayton, seinen früheren, in freien Wahlen gewählten Führer.

Ashdown agiert gottähnlich

Physische und politische Attacken von SFOR und dem Hohen Repräsentanten treffen auch andere serbische Politiker, Journalisten, Priester und Polizisten. Am 30. Juni 2004 wurden vom unumschränkt herrschenden Paddy Ashdown 59 führende Regierungs- und Parlamentsmitglieder sowie Beamte der Republika Srpska demissoniert. Dragan Kalinic, Parlamentspräsident in Banja Luka, war das prominenteste Opfer dieser Maßnahme. In Pale haben wir die Chance, mit seinem Kabinettschef, Zoran Zuza, zu sprechen. Auch er wurde seines Amtes enthoben, verlor gleichzeitig seine politischen Bürgerrechte und erhielt Berufsverbot für den staatlichen Dienst, zumindest so lange – wie er lachend meint – bis Karadzic nach Den Haag überstellt ist. Was Ashdown dem 37jährigen vorwarf, wollen wir von Zoran Zuza wissen. Die offizielle Begründung für den Hinauswurf aus Amt und Partei, so der frühere Journalist und Lehrer, lautete auf »kulturelles Schweigen«. Mit dieser Floskel zielt die »internationale Gemeinschaft« in Person des Hohen Repräsentanten auf alle, die sich ihrer Meinung nach weigern, Radovan Karadzic und Ratko Mladic öffentlich als Kriegsverbrecher zu geißeln.

Schweigen als Tatbestand, das ist neu in der internationalen Rechtssprechung. Oder besser: Es wäre neu. Denn von Rechtssprechung kann in den zahlreichen Fällen, in denen Westendorp, Petritsch oder Ashdown ihre auf dem Dayton-Vertrag fußende Allmacht ausspielen, nicht die Rede sein. Es gibt keine Einspruchsmöglichkeit gegen derlei Entscheide von ganz oben. Ashdown agiert gottähnlich, meint Zoran Zuza. Und in seinem Fall auch völlig unverständlich. Denn der weltmännisch auftretende Zuza war einer der ersten Journalisten, der in der Serbischen Republik über Kriegsverbrechen der eigenen Führung Reportagen drehte und Diskussionsrunden organisierte. Als Korrespondent von »Radio Free Europe« sowie Agence France Press gibt er so ganz und gar nicht das (Feind)Bild eines serbischen Tschetnik ab. Daß er sich politisch mit der Serbisch Demokratischen Partei (SDS) und Dragan Kalinic eingelassen hat, reichte Paddy Ashdown für die Zwangsdemission.

Und diese zieht folgenreiche Konsequenzen nach sich. Denn einerseits ist Zuza mit offiziellem Berufsverbot für alle staatlichen Angelegenheiten belegt, er kann nicht einmal in seinen erlernten Beruf als Sprachlehrer zurück; und andererseits ist sein Name bei so gut wie allen bosnisch-herzegowinischen Zeitungen und TV-Stationen in Mißkredit geraten. Ganz zu schweigen von der Mißgunst zwischen den Serben, die aus den persönlichen Interventionen des Hohen Repräsentanten entsteht.

Daß er Angst vor der SFOR hat, gibt Zoran Zuza unumwunden zu. Erst vor einer Woche haben Soldaten der Besatzungstruppen – als solche treten sie hier auf – seinen Kollegen abgeholt. Er wird an einem unbekannten Ort verhört. So etwas passiert immer wieder. Herr Bjelica, auch er von Ashdown entlassen, war Bürgermeister des Distriktes »Serbisch-Sarajevo«, sein Verschwinden schockt auch Zoran Zuza. Bis zu einem Monat werden mißliebige Serben von Spezialisten der SFOR verhört, bevor diese ohne jeden Kommentar freigelassen werden. Zoran Zuza hofft, daß nicht eines morgens ein Trupp italienischer Soldaten vor seiner Tür steht.


Teil III

Von der Herzegowina nach Bihac

Auf dem Weg Richtung Mostar, der Hauptstadt der Herzegowina, kommt einem der Duft des Mittelmeers entgegen. Die Neretva flußabwärts wechselt das Klima von kontinental auf mediterran. Dem kann man sich auch im Angesicht zerstörter Dörfer nicht entziehen. Plötzlich wächst der Feigenbaum, Granatäpfel beginnen Mitte September gerade rot zu werden. Und die Musik aus den unvermeidlichen Lautsprechern in den vielen kleinen Kaffeebars verliert ihre Schwermut. Locker und beschwingt besingen die Menschen hier die Liebe und den Tod.

Mostar

Das im kroatisch-muslimischen Krieg zerstörte Mostar befindet sich im Stadium des Wiederaufbaus. Doch hinter dem historisch getreuen Nachbau der legendären osmanischen Brücke über die Neretva klaffen die baulichen Wunden tief. Am völlig ausgebombten früheren Rathaus, einem neoklassizistischen Bau aus der österreichischen Epoche, prangt eine mehrere Quadratmeter große Tafel: »Looking for investor« ist auf ihr zu lesen; nebstbei findet sich eine Aufstellung für mögliche künftige Nutzungen. Als Rathaus wird dieser ehemalige Prachtbau nie mehr Verwendung finden. Mehrere Gassen weiter ist bereits ein neues Verwaltungsgebäude im billigen Beton-Glas-Stil errichtet worden.

Vor der Karadjozbeg-Moschee, der ältesten der Region, treffen wir einen muslimischen Kämpfer der ersten Stunde. Ins Gespräch kommen wir über den zwei Euro teuren Eintrittspreis für das Haus Allahs. Touristen strömen hinein, ohne ihre Schuhe auszuziehen, im Vorhof rauchen Einheimische aus der Umgebung Zigaretten. »Alles hier ist Geschäft«, antwortet der etwa 60jährige auf unsere skeptischen Fragen, die Heiligkeit und den Geist des Gotteshauses betreffend.

Der Kriegsveteran erzählt uns sein Leben. Vor dem Morden war er Touristenführer gewesen. Als dann die Tschetniks, wie er jugoslawische Volksarmee und irreguläre serbische Truppen unisono nennt, im September 1991 das slawonische Vukovar angegriffen haben, ist er mit einer Gruppe Muslime den eingeschlossenen Kroaten zu Hilfe geeilt. Später dann hat er in den Reihen der »Patriotischen Liga« zusammen mit den – faschistischen – HOS-Milizen des Dobroslav Paraga in und um Dubrovnik gekämpft, bis er am 1. April 1992 zwölf Kilometer von Mostar entfernt einer Streife der bosnisch-serbischen Armee in die Hände fiel. Über die vier Monate Gefangenschaft sagt er nur so viel, daß es Dinge gibt, die man nicht beschreiben kann. Jahre später, als der Muslimkämpfer längst wieder zu Hause war und am Beginn des Sommers in die zwölf Grad kalte Neretva sprang, haben ihm seine von den Tschetniks mehrfach gebrochenen Knochen so weh getan, daß er tagelang zu Hause bleiben mußte. Damals wurde ihm bewußt: Er war ein alter Mann geworden, zum alten Mann geschlagen worden.

Am 14. August 1992 kam unser Gesprächspartner im Zuge des ersten großen Gefangenenaustausches zwischen Kroaten und Serben frei. Der vom kroatischen HOS-General Blaz Kraljevic organisierte Austausch ging bei Osijek über die Bühne, Kraljevic hat ihn allerdings nicht mehr erlebt, weil er – und davon ist unser muslimischer Krieger überzeugt – von Schergen Franjo Tudjmans ermordet worden ist. Daß überhaupt muslimische irreguläre Kämpfer wie er im kroatischen Austauschkontingent Platz gefunden haben, hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet.

Freie Hand fürs Geschäft

Völlig unvorhersehbar kam dann für die Muslime von Mostar der kroatische Angriff. Am 9. Mai 1993 um fünf Uhr früh flogen Tausende Granaten in die mehrheitlich muslimisch besiedelten Gebiete der Stadt. Zigtausende Moslems wurden noch am selben Tag zusammengetrieben und ins nahe Stadion sowie auf einen Hubschrauberlandeplatz gepfercht. Mostar beklagte – nach EU-Statistik – 2 000 Tote. Damals, so unser Gesprächspartner, schwor er sich und seinem Kommandanten, solange keinen Alkohol mehr zu trinken, bis die Stadt Mostar befreit sei. Und bis heute trinkt er keinen Alkohol. Denn Mostar ist seiner Meinung nach eine Stadt in den Klauen korrupter Kroaten und Moslems, denen die niemand verpflichtete internationale Gemeinschaft – allen voran Paddy Ashdown – freie Hand für ihre Geschäfte läßt. Schon damals, am 9. Mai 1993, so der moralisch ungebrochen wirkende Mann, haben führende Politiker aus Sarajevo diesen Teil der Herzegowina an die Kroaten verkaufen wollen. Nur damit erklärt er sich den Angriff jener katholischen Soldaten, mit denen er noch ein Jahr zuvor in Vukovar und Dubrovnik Seite an Seite gegen die Tschetniks gekämpft hatte. Es waren jedoch nicht dieselben, wie er betont. Denn bei vielen der später von den moslemischen Verteidigern von Mostar getöteten kroatischen Angreifern fand sich ein Marschbefehl für einen kleinen Ort nahe Karlobag. Die Angreifer wußten also bis zuletzt nicht, wohin sie bestellt wurden und was ihre Mission in Wahrheit war: die Vertreibung der Muslime aus der herzegowinischen Metropole Mostar.

Die Lebenssituation heute beschreibt der 60jährige als schlecht. Seine Invalidenrente, die er wegen Granatsplitterverletzungen in Leber und Galle bezieht, beträgt magere 307 KM (153 Euro); kroatische Kriegsveteranen, die vis-ŕ-vis am rechten Ufer der Neretva wohnen, erhalten angeblich mehr als das Doppelte. Dies sei möglich, weil trotz gemeinsamer kroatisch-muslimischer Föderation in Bosnien-Herzegowina de facto zwei Verwaltungen bestünden. Ab 1. Januar 2005 sollen muslimische Versehrtenrentner auf 52 KM gekürzt werden, während für kroatische die alte Regel noch bis 1. Januar 2006 gelten wird.

Nicht alle Mostarer Muslime zählen freilich zu den Verlierern des Krieges. Manche haben sich eifrig am Vermögen von Vertriebenen bedient, bauen sich riesige Villen und hohe Mauern drumherum, damit der Neid der Verlierer nicht täglich aufs Neue angestachelt wird.

Die Schwester unseres Kämpfers zählt indes zweifellos zu den Verliererinnen. Schon als Krüppel geboren, fristete sie ein mehr als bescheidenes Leben im Stadtteil Bijeli Brijeg, der mehrheitlich von Kroaten bewohnt wird. Im Krieg haben sie die kroatischen Einheiten übersehen, erst nach dem Abkommen von Dayton, das selbstverständlich jede weitere Vertreibung verboten hat, hat eines Tages ein Wagen vor dem Appartmenthaus gestanden, drei Männer haben sie abgeholt und samt Rollstohl in das Auto verfrachtet. Am Spanski-Platz wurde sie ausgeladen und auf der Straße zurückgelassen. Der Spanski-Platz markiert einen Punkt auf jener in Dayton vereinbarten »Frontlinie« Mostars, die die Stadt in einen kroatischen und einen moslemischen Teil getrennt hat. 1998 konnte die Behinderte – im Zuge eines Rückführungsprogramms der Europäischen Union – wieder in ihr altes Apartment einziehen. Der Mann, der sie damals gepackt und ausquartiert hatte, der ihre Schränke ausgeräumt und die Einrichtung sich für seine Zwecke angeeignet hatte, wohnt jetzt zwei Stockwerke über ihr.

Allmählich kehren Touristen zum Sightseeing nach Mostar zurück. Wir beobachten einen ungarischen Bus, zwei, drei deutsche bzw. österreichische Reisegruppen, Individualreisende aus Kroatien und Bosnien sowie einen Trupp deutscher »Feldjäger« in Uniform. Diese SFOR-Gruppe ist auch die einzige an diesem Vormittag, die einen der jungen Männer auf der alten Brücke per Bakschisch motivieren kann, 21 Meter tief in die eiskalte Neretva zu springen.

In der lokalen Buchhandlung werden keine Reiseführer angeboten. Der deutsche Markt für kulturelles Wissen über die Herzegowina bzw. über Mostar ist anscheinend so klein, daß auch die einschlägigen Reiseführer-Verlage nichts publizieren. Irgendwo zwischen einem Stapel vergilbter Postkarten entdecken wir dann doch einen touristischen Band zur Herzegowina. Erschienen 1985 in Zagreb, Verlag »Privredni Vjesnik – Turisticka Propaganda«, wie das damals so unverholen offen und ehrlich klang. Die ersten und die letzten paar Seiten sind von Mäusen angenagt. Für fünf Euro ist er unser.

Es existieren lange nicht mehr alle Sehenswürdigkeiten, die noch 1985 Touristen angelockt haben. Beide serbisch-orthodoxen Kirchen sind z. B. im Krieg schwer beschädigt worden. Jene im Jahr 1873 erbaute Kathedrale wurde anschließend an die Granatwerferangriffe gesprengt. Ungläubig stehen wir vor einem hohen Steinhaufen, aus dem Metallteile ragen und die eine oder andere Säule, die in gläubigen Zeiten als Stützpfeiler der Kirchenschiffe gedient haben mag. Eine zufällig vorbeikommende Frau, befragt nach dem früheren Nutzen des jetzigen Steinbruchs, klagt laut ihren Kummer hinaus. Mit Tränen in den Augen erzählt sie uns die Geschichte der Zerstörung von »nascha crkva«, »unserer Kirche«. Und obwohl sie bald merkt, daß wir ihrem schnellen und atemlosen Serbisch nicht folgen können, wird sie rascher und wütender, läßt ihrem aufgestauten Haß auf die Zerstörer freien Lauf, hält dann plötzlich inne, grüßt uns freundlich und geht den Weg hinauf, vorbei an dem Steinhaufen, der früher »ihre Kirche« war. Noch ein paar Sekunden sehen wir der letzten Serbin von Mostar, so unser Eindruck, nach, wie sie schwer beladen mit ihren Einkäufen und ihrem Kummer um eine Hausecke entschwindet.

»Kroatische Königsstadt« Knin

Von der dalmatinischen Küste, an der Bosnien-Herzegowina nur einen wenige Kilometer langen Anteil hat, geht es bergan in Richtung Knin. Im kroatischen Heimatkrieg erhielt dieser knapp 50 Kilometer landeinwärts gelegene Ort von den westlichen Kommentatoren den Beinamen »Serbenhochburg« verpaßt. Von hier aus versuchten sich die insgesamt knapp 600 000 Serben, die in Kroatien Anfang der 1990er Jahre gelebt haben, zu organisieren. Nach der Machtergreifung Tudjmans in Zagreb kam es zu Straßensperren rund um die Hauptstadt der Krajina. Am 19. August 1990 hielt man in Knin und Umgebung ein Referendum über eine regionale Autonomie ab, das von Kroatien freilich nie anerkannt wurde. In Knin konstituierte sich dennoch ein Nationalrat der »Serbischen Autonomen Provinz Krajina«.

Der alte Kernort der »Militärgrenze«, die sukzessive ab Mitte des 16. Jahrhunderts von den Behörden der österreichisch-ungarischen Monarchie als teilweise selbständige Verwaltungseinheit gegen die Osmanen – und wohl auch gegen die feudalen Machtansprüche des kroatischen Adels – aufgebaut wurde, wirbt heute am Ortseingang mit der historisch noch weiter zurückliegenden Erinnerung an die »kroatische Königsstadt«. Die Hauptstraße ist nach Franjo Tudjman benannt. In Knin selbst, das am 7. und 8. August 1995 mit einem von pensionierten US-Generälen geschulten kroatischen Sturmtrupp gänzlich von serbischer Bevölkerung gereinigt worden ist, sind die sichtbaren Schäden des Krieges auffallend gering. Viele kleine Dörfer in der Umgebung allerdings stehen komplett menschenleer, ihre Häuser wurden in Schutt gelegt, aus dem meist nur noch der Schornstein emporragt.

Angeblich kehren Serben wieder nach Knin zurück, wenn sie Arbeit finden, wie uns ein Kaffehausbetreiber erzählt. Dies scheint indes so gut wie unmöglich. Denn sowohl das Metallkombinat als auch die große Mühle haben ihren Betrieb so gut wie eingestellt. Und alle Symbole der Stadt rufen rückkehrwilligen Serben ihre Vertreibung als positives Szenario in Erinnerung. Auch jene Statue im Zentrum, die einen kroatischen Krieger mit dem Schachbrett-Wappen auf der Mütze zeigt, in der rechten Hand die Kalaschnikow und zwei Finger der linken Hand zum Viktory-Zeichen gepreizt. Knin wird es schwer haben, wiederum ein wachsender Mittelpunktsort zu werden.

Kaum einer will zurück: Bihac

Dort, wo die Hügellandschaft hinter Dalmatien zu einem hohen Bergmassiv emporsteigt, beginnt – vom Mittelmeer kommend – Bosnien. Die Grenzsoldaten und Zöllner, in rasch und lieblos aufgestellten Metallcontainern untergebracht, üben sich in Freundlichkeit Der sporadische Verkehr wird nicht lange malträtiert, ein Blick in die Pässe und in die grüne Versicherungskarte genügt den Uniformierten, bis sie – auf deutsch – eine gute Fahrt wünschen. Kilometerlang geht es durch fast unbesiedeltes Bergland. An jenen raren Stellen, an denen bis Anfang der 1990er Jahre verstreut Häuser standen, befinden sich heute nur mehr Mauerskelette oder liegen Steinhaufen herum. In dieser unwirtlichen Gegend dürften Krieg und Vertreibungen auf lange Zeit, wenn nicht für immer, eine Entsiedelung bewirkt haben. Anders im Una-Tal ein wenig weiter nördlich. Rund um Bihac stehen die Wunden der Schlachten noch offen im Feld. Nicht mehr als ein Viertel der Häuser wird wieder aufgebaut oder hat bereits einen Dachstuhl. Die Mehrzahl jener Wände, die einstmals Heim für jemanden waren und nun ausgebrannt sind, tragen große aufgemalte Inschriften: »Zu verkaufen.« Wer von hier vertrieben wurde, will nicht mehr zurück.

Statt dessen hätte Bihac ein Symbol dafür werden können, wie sich Serben und Muslime vertragen. Denn jahrelang hat der lokale Chef der Partei der Demokratischen Aktion (SDA) (und Vizevorsitzende der Izetbegovic-Partei) Fikret Abdic seine Region, die er auch über diverse Firmen ökonomisch fest im Griff hatte, vor den Auswirkungen des Bürgerkrieges bewahrt. Seine Allianz mit der bosnisch-serbischen Armee ist ihm allerdings nicht gut bekommen. Fikret Abdic sitzt heute in einem kroatischen Gefängnis. Wie er dahin kam, ist nicht herauszubekommen. Moslems aus Sarajevo meinen, daß es sein »Verrat« an den muslimischen Brüdern in der SDA gewesen ist, der die politische Verfolgung rechtfertigt. In Bihac wiederum weiß man von Korruptionsvorwürfen und illegalen Geschäften, die seine Verurteilung bewirkt haben sollen. Warum Abdic allerdings in Kroatien einsitzt, hängt wohl damit zusammen, daß er vor den muslimischen grünen Baretten der Izetbegovic-Fundamentalisten fliehen mußte. In Bihac erinnert 2004 nichts mehr an ihn. Die Stadt scheint überhaupt jedes Gedächtnis verloren zu haben. Sie ist heutzutage kein Ort, an dem man etwas über die jüngste Geschichte des jugoslawischen Zerfalls erfahren kann.

Velika Kladusa

Im Landstrich zwischen Bihac und Velika Kladusa, dem bosnisch-kroatischen Grenzort, ist der Aufbau neuer Moscheen weitgehend abgeschlossen. Nicht daß hier irgendeine Bürgerkriegspartei die moslemischen Gebetsstätten zerstört hätte. Die alten Gotteshäuser sind dem neuen Bosnien allerdings zu klein geworden. Und so ergibt es sich häufig, daß neben zwei- bis dreihundertjährigen, fünf Meter hohen Minaretten, die farblich Patina angesetzt haben, neue, 20 und mehr Meter aufragende grellweiße Rundtürme in den Himmel zeigen. Moslemische Fonds aus Saudi-Arabien oder Kuwait sichern sich auf diese Weise Dankbarkeit bei der örtlichen Bevölkerung, die in dieser Gegend auch vor dem Krieg zu über 90 Prozent der jugoslawischen Ethnie der Muslime angehört hat.

In Velika Kladusa kann man noch die Reste der einst mächtigen landwirtschaftlichen Kooperative »Agrokomerc« bewundern. Fikret Abdic war jener Mann, der diesen Industriezweig im nordwestlichsten Zipfel von Bosnien zu einem spät-titoistischen Vorzeigebetrieb gemacht hat. Wie es heutzutage, fast zehn Jahre nach dem Ende der innermuslimischen Auseinandersetzungen um die Kontrolle der Region Bihac, bestellt sei, wollen wir von einem älteren Herrn im Stadtpark wissen. Schlecht, lautet seine Antwort. Der Rentner spricht ein typisches Jugo-deutsch. Als Gastarbeiter hat er acht Jahre im Ruhrpott – unter Tage – gearbeitet und Deutsche Mark angespart, um sich in seinem Heimatort ein Domizil aufzubauen. Drängend fordert er uns auf, sein Haus zu besuchen. Wie an allen Bauten in Velika Kladusa hat der Krieg hier keine Schäden hinterlassen. Dies verdankt das Städtchen, da ist sich unser Gesprächspartner ganz sicher, der klugen Politik von Fikret Abdic. Er war es gewesen, der ein Abkommen mit der Armee, die »dort oben in den Bergen stand«, wie der ältere Mann weiß, zustande gebracht hat. Viele in Velika Kladusa denken so wie der ehemalige Gastarbeiter, der Alija Izetbegovic für den eigentlichen Drahtzieher des bosnischen Menschenschlachtens in dieser Gegend hält.

Als die grünen Barette der SDA in die Ortschaften der Region nördlich von Bihac einfielen, kämpfte unser Informant, Moslem wie alle hier, gegen die »Fundamentalisten aus Sarajevo«. Die spätere Verurteilung von Fikret Abdic und seine andauernde politische Gefangenschaft im nahen – kroatischen – Karlovac findet der Mann empörend. Als wir schon im Gehen sind, zeigt er uns noch seinen Parteiausweis. Wie die Mehrheit hier, betrachtet er die SDA nicht als seine politische Vertretung. Er engagiert sich in der Demokratischen Volkspartei (DNZ), der lokalen, laizistischer ausgerichteten Moslempartei, die nach wie vor zu Fikret Abdic steht.

Vor dem Haus grüßt dann noch ein junger Mann im Rollstuhl unseren Gesprächspartner. Mehrere Kugeln haben ihn für immer bewegungsunfähig gemacht. Eine Invalidenrente bekommt er allerdings nicht. Denn wer auf der Seite von Abdic stand, gilt bis heute als irregulärer Kämpfer. Damalige Gegner, wenn sie das Gewehr für Izetbegovic hoch hielten, verletzt wurden und bleibende Schäden davontrugen, werden vom Staat mit einer – wenn auch geringen – Versehrtenrente bedacht. Die Gnadenlosigkeit des Krieges wirkt bis heute nach. Und jeder in Bosnien-Herzegowina wird täglich daran erinnert, wer sich als Sieger und wer sich als Besiegter fühlt.

Auf der anderen Seite der Krajina, in Kroatien, stoßen wir im Vorort von Karlovac auf dieselbe haßerfüllte Erinnerungspflege der Sieger. Das »Heimatkriegsmuseum« in Turanj besteht aus fünf Panzern, drei Haubitzen und zwei zerstörten Häusern, wie es in dieser Gegend Hunderte, Tausende gibt. Auf der einzigen Inschrift des Areals steht geschrieben: »Vorort von Karlovac, in dem die Militärmacht der ›großserbischen‹ Eroberer gestoppt werden konnte.« Von der organisierten Vertreibung der serbisch-orthodoxen Bevölkerung im Jahr 1995 ist nichts zu lesen.

* Aus: junge Welt 5., 6. und 7. Okt. 2004


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