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Der programmierte Bürgerkrieg

Die Kämpfe im multiethnischen Bosnien-Herzegowina begannen, als der Westen die Abspaltung von Jugoslawien anerkannte

Von Gerd Schumann *

Der Niedergang Jugoslawiens, an dessen Ende die Zerschlagung des Vielvölkerstaats stand, machten Radovan Karadzic zum Politiker. Er scheiterte – wie das Land – tragisch. Und nicht nur das: In führender Position der bosnischen Serben stehend spielte er, wie seine direkten Gegenspieler auf muslimischer und kroatischer Seite, eine zentrale Rolle in einem der fürchterlichsten Bürgerkriege der jüngeren Zeit. Die zwischen 1992 und 1995 geführten erbitterten Kämpfe zwischen den bis dato in Bosnien-Herzegowina friedlich zusammenlebenden Ethnien gingen mit dem Wortungeheuer »ethnische Säuberungen« in die Geschichte ein.

Der Serbe Karadzic, 1945 in Montenegro geboren, sah sich berufen, die Interessen seiner Landsleute in Bos­nien-Herzegowina zu vertreten. Von Haus aus ist Karadzic Doktor der Medizin, späteres Fachgebiet Psychiatrie, der unter anderem ein Jahr an der Columbia-Universität in New York studiert und sich später auch als Kinderbuchautor einen Namen gemacht hatte. Mitte 1990 übernahm er den Parteivorsitz der kurz zuvor gegründeten Serbischen Demokratischen Partei (SDS). Damals deutete sich überdeutlich der Zerfall der multiethnischen jugoslawischen Teilrepublik an, dem ein gigantischer sozialer Abstieg des ganzen Landes vorausgegangen war. Die Massenarmut entstand, nachdem Weltbank und Währungsfonds dem verschuldeten Jugoslawien Daumenschrauben angelegt hatten. Löhne und Gehälter schrumpften um bis zu 80 Prozent.

Die Suche nach Sündenböcken hatte in Bosnien-Herzegowina besonders drastische Konsequenzen. Mit der Bildung nationalistischer Parteien etablierte sich eine Politik des chauvinistischen Hasses, rasend schnell entstand eine Konfrontation der Ethnien: die bosnischen Muslime stellten gut 40 Prozent der Gesamtbevölkerung, die Serben 30 und die Kroaten knapp 20 Prozent. Es bildeten sich Parteien auf ausschließlich ethnischer Basis – die muslimische Partei der Demokratischen Aktion (SDA), die kroatische HDZ (Kroatische Demokratische Aktion) und zuletzt die SDS (Serbische Demokratische Partei). Jede betrieb eine streng ethnisch ausgerichtete Klientelpolitik, keine verfügte über ein politisches Programm, die Interessengegensätze erwiesen sich als antagonistisch.

Die SDA von Alija Izetbegovic, der im sozialistischen Jugoslawien wegen Gründungsversuchen eines islamischen Staats mehrfach zu Gefängnisstrafen verurteilt worden war, orientierte auf eine Unabhängigkeit mit Anbindung sowohl an islamische Staaten als auch des westeuropäischen Kapitalismus. Die von HDZ favorisierte einen Anschluß der kroatisch-bosnischen Region um Mostar an Kroatien. Zwischen HDZ und SDA gab es vor allem wegen der strikt antijugoslawisch ausgerichteten Politik, aber auch wegen der EU-Ausrichtung wichtige Berührungspunkte, die zur bis heute existenten Bildung einer Konföderation in Zentral- und Südbosnien führte. Lediglich die serbische SDS – und die Nachfolgepartei des Bundes der Kommunisten - verfolgten zunächst eine am Erhalt Jugoslawiens und auch Bosnien-Herzegowinas gebundene Politik.

Sie standen damit auch der vielerseits angestrebten Zerschlagung Jugoslawiens im Wege: Gefördert von gewichtigen Kräften im Westen – BRD und Vatikan vorweg – sagten sich Slowenien und Kroatien im Juni 1991 von Belgrad los, Zagreb führte einen Separationskrieg in seinen mehrheitlich serbisch besiedelten Gebieten, vor allem in der Krajina und in Slawonien. Zehntausende starben, Hunderttausende flüchteten.

Karadzic warnte seinerzeit vor einer innerbosnischen Konfrontation. Ein Gegeneinander, so Karadic, hätte fürchterliche Folgen. Und er argumentierte gegen die absehbare Zersplitterung und gegen eine Loslösung von Jugoslawien: »Es gibt drei total gleichberechtigte Nationen. Niemand kann für den anderen entscheiden«, meinte der damals 45jährige und erinnerte an das bis dahin geltende Konsens­prinzip. »Angenommen, hier am Tisch sitzen drei gleichberechtigte Leute zusammen und zwei von ihnen entscheiden sich, aus dem Fenster zu springen. Sie sagen: Wir springen, und du mußt mitspringen. Du willst aber nicht. Das ist das Problem.«

Das Konsensprinzip wurde durch das Mehrheitsprinzip ersetzt, das in einem nach ethnischen Kriterien gewählten Parlament angesichts der gegensätzlichen Positionen zur Niederlage einer der Völker führen mußte. So entstand die Republika Srbska, die bosnische Serbenrepublik, deren Präsident Karadzic wurde. Der Krieg war programmiert. Schuldige hierfür und für die folgenden Verbrechen gibt es auf allen beteiligten Seiten. Aber nicht nur dort.

Alle Staaten, die Bosnien-Herzegowina 1992 unmittelbar nach dessen gegen die Serben durchgesetzte Unabhängigkeitserklärung anerkannten – und damit die Abspaltung von Jugoslawien –, machten sich schuldig, weil ihnen die Folgen bekannt waren. Das Völkermorden begann. Es dauerte bis 1995. Im Friedensabkommen von Dayton/USA wurde ein föderalistisches System für die ehemalige Teilrepublik festgeschrieben, NATO-Truppen und ein ausländischer Administrator etabliert. Zukunft bis heute ungewiß.

* Aus: junge Welt, 26. Oktober 2009


Bosnien-Herzegowina: Vom Anfang des Untergangs

Von Gerd Schumann **

Während zweier Reportagereisen durch Bosnien-Herzegowina im Herbst 1990 und 1991 – es roch bereits nach Krieg – interviewte ich die Vorsitzenden aller Parteien der jugoslawischen Teilrepublik, darunter die Protagonisten des ethnischen Gegeneinanders.

Der spätere erste postjugoslawische Präsident Alija Izetbegovic (1992–1995), ein bosnischer Moslem, proklamierte die Abspaltung von Belgrad und die Schaffung kapitalistischer Strukturen. »Bosnien-Herzegowina sehen wir als einen souveränen Staat in den jetzigen Grenzen und in einem rekonstruierten Jugoslawien«. Darunter verstehe er »eine Konföderation souveräner Republiken mit föderalen Organen, die minimale Macht besitzen«. Seine Drohung: »Entweder das, oder es gibt kein Jugoslawien mehr« So Izetbegovic’ Kampfansage an Belgrad – und an die bosnischen Serben. Deren Partei SDS zählte zu jener Zeit – ein gutes halbes Jahr nach Gründung – etwa 700 000 Mitglieder – wie die ebenso junge muslimische SDA. Daß beide Seiten bereits bewaffnet waren, bezweifelte angesichts der Landessitten niemand.

Auch zum zukünftigen Wirtschaftssystem in Bosnien-Herzegowina redete Izetbegovic Klartext: »Wir haben uns für eine freie Wirtschaft entschieden.« Der montenegrinische Serbe und Antikommunist Radovan Karadzic (»Kommunisten sind auch Serben, aber schlechte«) sprach als Vertreter der zweitgrößten bosnischen Ethnie nach den Muslimen ebenfalls davon, das Land ausländischem Kapital öffnen zu wollen. Seine Position wurde vom Westen ignoriert, weil Karadzic vehement für die Verteidigung Jugoslawiens zunächst als Vielvölkerstaat eintrat, d. h. für einen freiwilligen Zusammenschluß aller, die es wollten, auch nach der Abspaltung Sloweniens und Kroatiens 1991.

Der inzwischen verstorbene Izetbegovic stand auf der Seite der Sieger. Er wurde bis zu seinem Tod 2003 vom Westen hofiert. Verlierer Karadzic sitzt im Königlichen Gefängnis im Haager Stadtteil Scheveningen hinter Gittern.

** Aus: junge Welt, 26. Oktober 2009


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