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Opposition will keinen multinationalen Staat

Boliviens Regierung stößt auf Widerstand im Verfassungsprozess

Von Benjamin Beutler, Cochabamba *

In der Verfassunggebenden Versammlung von Bolivien hat die zuständige Kommission die Errichtung eines »multinationalen Staates« vorgeschlagen und damit heftige Reaktionen seitens der Opposition ausgelöst.

Die Uhr tickt unbarmherzig: Bis August soll eine neue Magna Charta zur »Neugründung Boliviens« ausgearbeitet sein. Doch die Verfassunggebende Versammlung im Andenland tut sich schwer. Das Gremium, in dem die Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) die absolute Mehrheit besitzt, plant die Einrichtung »indigener Autonomien«. Diese selbst bestimmten Verwaltungseinheiten sollen sich an Gebräuchen und Traditionen der indigenen Bevölkerung orientieren und parallel zum bestehenden Regierungssystem arbeiten. »Es wird zwei Systeme geben, die im Staate koexistieren. Eines ist ein liberales, sprich die heutige Verwaltungsform. Das andere ist ein kommunales, welches es zum ersten Mal in der Geschichte der Republik geben wird«, erklärt einer der wichtigsten MAS-Ideologen, Félix Patzi. Über 60 Prozent der Bevölkerung sind Aymara- oder Quechua-Indígenas, Drei Prozent der Bevölkerung aus verschiedensten Ethnien leben im tropischen Tiefland. »Niemals in den 180 Jahren der republikanischen Geschichte wurde die Existenz der über 30 bestehenden Nationen anerkannt. Aus diesem Grund werden wir die öffentliche Verwaltung multinational gestalten«, so der Minister für Dezentralisierung Fabián Yaksic. Den indigenen Völker soll das Recht zugestanden werden, eigenständig »autonome und indigene, originäre und bäuerliche Gebietseinheiten« zu gründen, die sich wiederum durch »demokratische Mechanismen gemäß ihrer eigenen Normen, Regierungsformen und Verfahren« organisieren. Das heutige und das neue Verwaltungssystem müssten sich aufeinander abstimmen, so Patzi. »Wenn sich in einem indigenen Gebiet eine Vergewaltigung ereignet, dann wird diese durch die kommunitäre Justiz gerichtet. Diese kann den Staat um notwendige Unterstützung bitten. Beide Systeme werden nebeneinander bestehen und ihre Aktionen untereinander koordinieren.«

Überall, wo Indígenas »ein angestammtes Gebiet mit eigener kulturellen Identität, Regierung und eigenen Befugnissen bewohnen«, könnten indigene Selbstverwaltungen errichtet werden.

Die Opposition, welche die Interessen der Landbesitzer und Unternehmer im rohstoffreichen Osten des Landes vertritt, drohte derweil mit zivilem Ungehorsam und setzte dem MAS bis zum 21. Juni ein Ultimatum. Eine einberufene Versammlung oppositioneller Präfekten und Bürgerkomitee-Vertreter lehnte den MAS-Vorschlag ab. Die neue Verfassung solle die Autonomie der regionalen Departamente Santa Cruz, Tarija, Pando und Beni garantieren, sonst käme es zur »staatsbürgerlichen Mobilisierung, um den zivilen und demokratischen Widerstand zu organisieren«, ließ der Vorsitzende des Bürgerkomitees Pro Santa Cruz, Branko Marinkovich, verlautbaren. Ab dem 2. Juli werde man bei Nichtbeachtung der Forderung eine De-Facto-Autonomie erklären.

Der Autonomie-Beauftragte von Santa Cruz, Gabriel Dabdoub, kündigte eine Bestrafung all derjenigen an, die »Santa Cruz nicht verteidigen« und sich so zu »Verrätern« machen würden. Die Einheit des Landes sei in Gefahr, so das Hauptargument.

»Die Gruppen, die wirklich die Einheit und Integrität des Landes gefährden, sind die, welche die Teilung und die Anwendung von Waffengewalt androhen und die seit geraumer Zeit Unabhängigkeit fordern«, so der Oberste Kommandant der Streitkräfte. »Im demokratischen Rahmen mögen die Bürgerkomitees nützlich sein, aber wenn sie andere Ziele verfolgen und Interessen von einzelnen Personen und Gruppen vertreten, so wird eine andere Behandlung nötig sein.« Das klingt bedrohlich.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Juni 2007


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