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"Der Wandel Boliviens wird von der Straße begleitet"

In dem Andenland ist eine Volksabstimmung über Teile der neuen Verfassung vorgesehen. Ein Gespräch mit Renato Pardo Angles

Renato Pardo Angles ist stellvertretender Justizminister von Bolivien. Das Interview, das wir im Folgenden dokumentieren, wurde von Timo Berger für die "junge Welt" gemacht. *



In den vergangenen Wochen ist Boliviens Präsident Evo Morales immer stärker unter Druck geraten. Ist die Strategie Ihrer Regierung gescheitert, gleichzeitig von oben und von der Straße aus zu regieren?

In Bolivien dominieren bestimmte Gruppen die Präfekturen und Bürgerkomitees. Sie repräsentieren die Eliten, die bislang die Macht und die Wirtschaft im Griff hatten. Sie wehren sich gegen die Transformation Boliviens. Der Wandel soll aber, wie Morales sagt, den Indigenen und den Bauern zugute kommen – d. h. denjenigen, die bisher immer übergangen wurden. Wir wollen das demokratisch vollziehen, stoßen dabei jedoch nicht nur auf den Widerstand jener Gruppen, sondern auch auf gesetzliche und institutionelle Beschränkungen. Um diese aufzubrechen, wird der Prozeß des Wandels von der Straße begleitet. Die Straße regiert nicht, aber die Regierungsmaßnahmen werden durch den Druck von unten unterstützt. Diese Form, Politik zu machen, ist neu in Bolivien, wo die Machteliten bislang die Streitkräfte einsetzten, um die Mobilisierungen der Bevölkerung niederzuschlagen.

Auch die Regierung Morales schickte Anfang Februar Sicherheitskräfte gegen die Bevölkerung. In der Stadt Camiri im Departement Santa Cruz hatten Guaraní-Indianer zwei Gasanlagen besetzt. Sie forderten mehr Mitsprache in der Energiepolitik der Regierung.

Wir erleben zur Zeit eine große Öffnung, die Leute müssen an den Entscheidungen teilhaben, die ihr Leben betreffen. Wenn es zu einer Situation kommt, in der es Exzesse bei der Mobilisierung von sozialen Bewegungen gibt oder einen Konflikt mit Gesetzen, dann muß der Staat auf die Kräfte zurückgreifen, die ihm aufgrund der Verfassung zustehen. Aber nie mit dem Ziel, selbst über die Stränge zu schlagen, wie es Regierungen vor uns gemacht haben.

Trotz der Mobilisierung von Regierungsanhängern in Cocha­bamba gegen den Präfekten ist der Konflikt mit den abtrünnigen Departements im Osten nicht gelöst. Deren Autonomieforderungen werden auch von einem Teil der Bevölkerung unterstützt.

Die Autonomieforderungen erklären sich aus dem übertriebenen Zentralismus Boliviens, der die Entwicklung der Regionen bislang verhindert hat. Aber die Forderung nach mehr Autonomie, wie sie die Departements Pando, Beni, Santa Cruz und Tarija vertreten, ist widersprüchlich. Rechte Kreise wollen die Schaffung einer eigenen Nation ohne die Indigenen des Hochlands. Das sind rassistische Vorschläge, mit denen die Mehrheit der dortigen Bevölkerung nicht einverstanden ist. Außerdem: Nicht alle, die an den Demonstrationen für Autonomie teilnehmen, tun das freiwillig. Es gibt Fälle, in denen Angestellte von ihren Chefs gezwungen wurden, auf die Straße zu gehen. Teile der lokalen Presse versuchen, die Bevölkerung mit Slogans wie »Autonomie bedeutet Arbeit« zu manipulieren.

Dennoch wird Ihre Regierung nicht umhinkommen, auf die Forderungen nach Autonomie einzugehen...

Wir wollen eine weitläufigere Form der Selbständigkeit. Die Macht darf nicht in den Departementhauptstädten konzentriert bleiben, sondern muß zugunsten der Regionen und bäuerlichen Gemeinschaften verschoben werden. Die Autonomie soll der Mehrheit zugute kommen, außerdem das Gleichgewicht zwischen den Regionen erhalten und Landesteile wie Oruro und Potosí entwickeln, die über wenig Ressourcen verfügen. In der Verfassungsversammlung wollen wir über eine solche Autonomie entscheiden.

Die hat aber bislang nur über Verfahrensfragen gestritten...

Vor wenigen Tagen ist der Konflikt beigelegt worden. Die Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) und ein Teil der Opposition haben sich geeinigt, daß strittige Artikel der neuen Verfassung einer Volksabstimmung unterworfen werden. Die Versammlung hat sich jetzt einen Zeitplan gegeben: Bis Mai werden die Mitglieder in Kommissionen diskutieren. Sie werden aber auch Reisen in die Regionen unternehmen, um die Bevölkerung direkt nach ihren Vorstellungen für eine neue Verfassung zu befragen.

* Aus: junge Welt, 16. Februar 2007


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