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Neugründung Boliviens

Seit dem Wochenende tagt der Verfassungskonvent – an der Spitze eine Frau

Timo Berger *

Am Sonntag hat in Bolivien ein Verfassungskonvent seine Tätigkeit aufgenommen. Ein Jahr lang haben 255 am 2. Juni von der Bevölkerung direkt gewählte Mitglieder Zeit, um den Entwurf für eine neue Magna Carta auszuarbeiten. 181 Jahre nach der Gründung der Republik und der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Spanien 1825, strebt die Regierungspartei MAS (»Bewegung zum Sozialismus«), eine »Neugründung« des Staates unter indigenem Vorzeichen an.

Boliviens Präsident Evo Morales und die gewählte Präsidentin des Konvents, Silvia Lazarte, werteten die Eröffnung der Verfassunggebenden Versammlung als Anfang einer neuen Geschichte. Die »schwarze Geschichte der Kolonie« und die Ausgrenzung der indigenen Völker werde beendet, versprach Morales am Sonntag auf der Plaza 25 de Mayo in der historischen Hauptstadt Sucre. »Heute ist der jach’a uru (der große Tag) gekommen, die sumaj punchay (neue Morgendämmerung) für die indigenen Völker. Wir sind in der Pflicht, uns gegenseitig zu verstehen, die wirtschaftliche und soziale Situation zu entwickeln und zu verbessern«, erklärte das erste indigene Staatsoberhaupt des Landes vor geschätzten 30000 Zuhörern. Gleichzeitig signalisierte der ehemalige Gewerkschafter, er würde sich den Entscheidungen des Konvents vollständig unterordnen. Er rief auch die anderen Staatsgewalten, das Parlament und das Justizwesen dazu auf, den Beschlüssen der Versammlung Folge zu leisten. Es handele sich »nicht um eine einfache Verfassungsreform, sondern eine Neugründung Boliviens«.

Im Vorfeld hatte sich Morales für die Wahl einer indigenen Frau an die Spitze des Konvents, eingesetzt. Die ehemalige Kokabäuerin Silvia Lazarte ist wie Morales Mitglied der MAS, die die absolute Mehrheit in der Versammlung innehat. Lazarte, gekleidet in die traditionelle Tracht einer Quetschua-Indianerin, rief in ihrer Antrittsrede zur Einheit Boliviens auf. »Jetzt werden keine Unterschiede mehr aufgrund der Hautfarbe gemacht«. Das Volk habe den Mitgliedern des Konvents den Auftrag erteilt, eine Verfassung für das Volk zu machen. »Deshalb gibt es weder Diskriminierung noch Ausgrenzung«. Das Land solle in der Welt als Beispiel für den Kampf um die Rechte der am meisten unterdrückten Teile der Bevölkerung, der Indigenen und der Frauen, stehen. Die Stärkung der Rechte der Angehörigen der 36 in Bolivien lebenden indigenen Volksgruppen sollten aber nicht zu einer Diskriminierung der europäischstämmigen Bevölkerung führen. Morales versicherte, die Einberufung eines Verfassungskonvents bedeute keine »Revanche« für die von den Indios erlittene Unterdrückung: »Wir wollen Gleichheit, Würde und Freiheit für alle Bolivianer«. Von dem Konvent erhofft sich Morales eine »friedliche, demokratische und kulturelle Revolution«.

In den nächsten Monaten wird der Konvent mehrere Grundsatzdiskussionen führen müssen. Zum einen geht es darum, wie die von der Regierung Morales begonnene Verstaatlichung der Rohstoffreserven des Landes und die Abkehr von dem seit den 90er Jahren neoliberal geprägten Wirtschaftssystem ihren Niederschlag in der Verfassung finden können. Zum anderen soll über die künftige Staatsform des stark zentralistischen Landes entschieden werden. Nach den Vorstellungen von Morales soll Gemeinden, Städten und indigenen Gemeinschaften künftig mehr Selbstverwaltung zugestanden werden. Damit hofft er, die Spaltung des Landes in einen reichen Ostteil und einen armen Westteil verhindern zu können. Vor einem Monat hatten die Departments im Osten für mehr Autonomie gegenüber der Zentralregierung gestimmt, während dieser Vorschlag im Westen mehrheitlich abgelehnt wurde.

* Aus: junge Welt, 9. August 2006


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