Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Schwieriger Spagat

Bolivien zwischen Verfassungskonvent, Entwicklung des Rohstoffsektors und einem Wirtschaftsabkommen mit den USA

Von Timo Berger *

In seiner sechsmonatigen Amtszeit hat Boliviens sozialistischer Präsident Evo Morales bereits tiefgreifende wirtschaftliche und politische Änderungen in seinem Land angestoßen. Am 1. Mai ließ er die Treibstoffreserven nationalisieren. Seitdem werden Lizenzvergabe, Förderung, Produktion und Verkauf von der staatlichen Mineralölgesellschaft YPFB kontrolliert. Weitere Verstaatlichungen, unter anderem im Bergbau- und Transportsektor, sollen folgen. Außerdem leitete Morales im April eine Bodenreform ein. Künftig können landwirtschaftlich nicht genutzte Flächen konfisziert und an Kleinbauern verteilt werden. Diese Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell seiner Amtsvorgänger soll in einen neuen Verfassungsentwurf einfließen, den ein Anfang Juli gewählter Nationalkonvent ausarbeiten wird.

Zugleich hat Morales, das erste indigene Staatsoberhaupt Boliviens, den Andenstaat außenpolitisch neu positioniert. Nicht mehr die USA sind wie in der Vergangenheit der wichtigste Verbündete des Landes. Der sozialistische Präsident hat den Schulterschluß mit seinen Amtskollegen in Venezuela und Kuba, Hugo Chávez Frías und Fidel Castro, gesucht. Bilaterale Handelsabkommen mit Venezuela und Kuba und eine stärkere regionale Integration mit den anderen Andenländern und mittelfristig mit den Staaten des Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) sollen die bisherige starke wirtschaftliche Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten reduzieren.

Morales’ Politikstil ist selbstbewußt, konfrontativ und linksgerichtet. Bislang hat er es verstanden, die Gewerkschaften und die radikalere Basis seiner Partei in die Entscheidungsprozesse einzubinden. Zum einen, indem er Vertreter der sozialen Bewegungen in sein Kabinett geholt, zum anderen indem er ihre Forderungen, wie die Verstaatlichung der Treibstoffreserven und die Legalisierung des Kokaanbaus, zum Regierungsprogramm erhoben hat. Nicht nur die USA verfolgen den Kurs seiner Regierung deshalb argwöhnisch, auch die einheimische Oligarchie versucht, die Reformpolitik mit allen Mitteln zu torpedieren.

Das ärmste Land Südamerikas ist ein tief gespaltenes Land. Geographisch zerfällt es in drei Teile: das Andenhochland, die Täler im Zentrum und Süden und das tropische Tiefland im Osten. Politisch teilt sich Bolivien auf neun Verwaltungseinheiten, die sogenannten Departments, auf. Während im Andenhochland vor allem indigene Bevölkerungsgruppen in Subsistenzwirtschaft leben, konzentriert sich der Reichtum des Landes im Osten und Süden, wo fruchtbare Böden und die nach Venezuela zweitgrößten Erdgasvorkommen Südamerikas liegen. In den rohstoffreichen Departments Santa Cruz und Tarija verteidigt eine weiße Oligarchie ihre Privilegien und Pfründe aus dem Erdgasgeschäft und der Latifundienwirtschaft. Seit Jahren fordern sie mehr Autonomie von der Zentralregierung und drohten vergangenes Jahr offen mit einer Sezession. Morales sah sich aus diesem Grund gezwungen, gleichzeitig mit den Wahlen zum Verfassungskonvent eine Volksabstimmung über die Autonomien durchzuführen.

Das Ergebnis des Referendums reflektiert die Teilung des Landes: Während in den ärmeren Departments des Hochlands und den Tälern mehrheitlich gegen die Autonomie gestimmt wurde, sprachen sich die Wähler aus dem Tiefland dafür aus. So ergibt sich auf der Karte Boliviens ein »Halbmond«, der die rohstoffreichen Landesteile Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija umfaßt und gleichzeitig die ethnische Zusammensetzung des Landes widerspiegelt: eine große indigene Bevölkerungsmehrheit im Westen und im Zentrum, die befürchtet, durch die Unabhängigkeit der einzelnen Landesteile noch stärker vom nationalen Reichtum ausgeschlossen zu sein, und eine hegemoniale weiße Minderheit im Osten und Süden, die künftig weniger Geld aus dem boomenden Erdgasgeschäft an den Zentralstaat abführen möchte. Seit dem Amtsantritt von Morales kommt es zudem zu einem Exodus der weißen Bevölkerungsminderheit aus La Paz und Cochabamba. Familien der Mittel- und Oberschicht ziehen nach Santa Cruz, womit sich die Klassengegensätze weiter verschärfen werden.

Der Nationalkonvent

Gegen diese Spaltungstendenzen setzt der neue Präsident auf eine weitreichende Verfassungsreform. Bolivien soll künftig sozialer und gerechter gestaltet werden. Morales versprach vor den Wahlen zum Nationalkonvent eine »Neugründung« des Landes unter Berücksichtigung der bislang weitgehend vom politischen Leben ausgeschlossenen indigenen Mehrheit. Zudem treibt die neue bolivianische Regierung die Industrialisierung des Landes voran: Bolivien soll mittelfristig nicht mehr wie bisher fast ausschließlich Rohstoffe, sondern Industriegüter exportieren.

An den Urnen bestätigte die Mehrheit der Wähler Anfang Juli die Politik Morales’. Seine Bewegung zum Sozialismus (MAS) konnte ihre Stimmenzahl gegenüber den Präsidentenwahlen im vergangenen Dezember erhöhen und wird am 6. August 137 von 255 Vertretern in den Nationalkonvent entsenden, der in der historischen Hauptstadt Sucre innerhalb eines Jahres eine neue Verfassung für das Land ausarbeiten soll.

In einem Gespräch mit der argentinischen Tageszeitung Página/12 skizzierte Evo Morales Ende Juni die Aufgaben der Versammlung: »Der Nationalkonvent wird sich nicht damit begnügen, einen indigenen Präsidenten zu haben, er ist dazu da, auf friedliche Weise die Struktur des Staates zu verändern, er ist dazu da, die Hoheit über das Staatsgebiet und die natürlichen Rohstoffe wiederzuerlangen, die indigene Rechtsprechung in die Verfassung aufzunehmen – denn unsere aktuelle Justiz ist erpresserisch und korrupt– und unsere Nation neu zu gründen, indem die nationalen Mehrheiten mit einbezogen werden. So werden wir die Ursünde Boliviens aufheben: daß bei seiner Gründung neunzig Prozent seiner Bevölkerung ausgeschlossen wurden.«

Vor zwei Wochen präzisierten die in den Konvent gewählten Vertreter der MAS bei ihrem zweiten Treffen, wie sie sich diesen Umbau des Staates vorstellen: Der Kurswechsel, den die Regierung Morales in der Wirtschaftpolitik bereits vorgenommen hat, soll in der Verfassung festgeschrieben werden, damit eine Rückkehr zum alten neoliberalen System unmöglich wird. »Wir wollen, daß sich die Verstaatlichung der Treibstoffe in der Verfassung widerspiegelt und daß die natürlichen Rohstoffe das Vermögen der Gesellschaft darstellen, mit dem wir einen Wechsel des Wirtschaftsmodells durchführen können«, erklärte ein MAS-Vertreter gegenüber der bolivianischen Tageszeitung La Razón. In die Magna Charta könnte dieser Wandel als Privatisierungsverbot festgeschrieben werden.

Ungeklärt ist bislang, wieweit sich die ehrgeizigen Pläne der MAS realisieren lassen. In dem Konvent verfügt Morales’ Bewegung zum Sozialismus über keine Zweidrittelmehrheit, um die Verfassung allein nach ihren Vorstellungen ändern zu können. So wird die MAS auf Bündnisse mit anderen Parteien angewiesen sein.

Auch die Deutung der unterschiedlichen Ergebnisse des Autonomievotums wird zu Konflikten in der Versammlung führen. Die Vertreter der rohstoffreichen Landesteile fordern, den Autonomiestatus zumindest für die Provinzen, in denen mehrheitlich mit »Ja« gestimmt wurde, in die Verfassung aufzunehmen. Doch die MAS ist daran interessiert, die bisherige Spaltung des Landes nicht noch weiter zu vertiefen und hat deshalb andere Autonomiemodelle ins Gespräch gebracht. Statt einem Bolivien, das in einzelne Departments zerfällt, soll Städten, dörflichen Gemeinschaften und indigenen Gebieten mehr Selbstverwaltung eingeräumt werden.

Schwieriges Verhältnis zu den USA

Doch nicht nur die Konflikte im Inneren stellen derzeit die bolivianische Regierung vor große Herausforderungen, auch der Druck aus dem Ausland hat sich erhöht. Vor allem die USA stören sich an dem eigenständigen Kurs des Landes. Für Verstimmung sorgte Morales’ Ankündigung, den legalen Kokaanbau auf mehr Anbauflächen auszuweiten und aus der Pflanze Medikamente und Genußmittel wie Koka-Mate-Tee industriell herzustellen und diese zu exportieren.

Bislang genießt Bolivien wie die anderen Andenstaaten, die 1991 einen Pakt mit den USA zur Bekämpfung des Drogenanbaus und -handels geschlossen haben, Erleichterungen bei der Ausfuhr von Waren. So muß Bolivien im Rahmen des Programms ATPDEA keine Importzölle in den USA entrichten. Ursprünglich sollte Ende 2006 das panamerikanische Freihandelsabkommen ALCA unter der Ägide der USA in Kraft treten, womit die Ausnahmebehandlung der Andenländer automatisch in der allgemeinen Liberalisierung des Warenverkehrs aufgehoben worden wäre. Doch seit die ALCA-Verhandlungen gescheitert sind, setzten die USA auf bilaterale Freihandelsabkommen. Mit Kolumbien und Peru sind entsprechende Verträge bereits unterzeichnet, mit Ekuador wird noch verhandelt. Boli­vien hatte bei den bisherigen Verhandlungen zwischen einzelnen Ländern der Gemeinschaft der Andenstaaten (CAN) und den USA nur einen Beobachterstatus.

Wenn die Zollschranken zum Jahresende wiedererrichtet würden, könnte Boliviens Wirtschaft empfindlich getroffen werden – die USA sind zur Zeit der Hauptabnehmer bolivianischer Industriegüter. Guillermo Poumont von der Außenhandelskammer schätzt, daß es zum Verlust von 80000 Arbeitsplätzen kommen könnte.

Als Hugo Chávez Frías im April dieses Jahres den Austritt seines Landes aus der Gemeinschaft der Andenstaaten erklärte, dachte Morales darüber nach, ihm zu folgen, entschied sich dann aber dagegen: Denn bleibt Bolivien in der CAN, kann es darauf hoffen, daß die USA die Zollfreiheit für die ganze Gruppe um ein Jahr verlängern. Gegenwärtig läuft die Diplomatie auf Hochtouren, um den US-Kongreß, der einer Verlängerung abgeneigt scheint, umzustimmen. Boliviens Vizepräsident Álvaro García Linares reiste vergangene Woche zu Gesprächen in die USA.

Morales hat den USA im Gegenzug weitgehende Kooperation in der Drogenbekämpfung angeboten: Bis Jahresende werden in Bolivien mehr als die vereinbarten fünftausend Hektar Kokapflanzungen vernichtet. Er hat US-Präsident George W. Bush vor einigen Wochen in einem Brief erklärt, daß Bolivien erst Verhandlungen über ein Wirtschaftsabkommen beginnen kann, wenn der Verfassungskonvent vorangekommen sei, in dem auch über die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik entschieden werden soll. Der bolivianische Außenminister, David Choquehuanca, erklärte gegenüber der bolivianischen Presse: Sein Land sei bereit, mit den USA ein Wirtschaftsabkommen zu schließen, allerdings ohne sich »den Regeln des Liberalismus« unterzuordnen. »Wir sind daran interessiert, daß die öffentliche Versorgung in unserem Besitz ist, wir wollen den Schutz geistigen Eigentums nicht so regeln, wie es in den Freihandelsabkommen vorgesehen ist; solche Regelungen richten sich gegen die indigenen Völker.«

Die Europäische Union dagegen will der An­dengemeinschaft bei der Wiederaufnahme der Verhandlungen über ein Wirtschaftsabkommen weitreichende Zugeständnisse machen: Vor zwei Wochen wurde in Brüssel der Verhandlungsbeginn über ein Assoziierungsabkommen in Aussicht gestellt, das sich deutlich von den Freihandelszonen US-amerikanischen Zuschnitts unterscheiden soll. Die verschiedenen Entwicklungsstadien der Andenländer sollen berücksichtigt werden. Auch beim Schutz des geistigen Eigentums soll das Abkommen das traditionelle Wissen der indigenen Völker respektieren und Lebewesen von der Patentierung ausnehmen.

Gaspreis und Exploration

Morales’ bislang gewagteste Maßnahme ist die Verstaatlichung der Treibstoffreserven des Landes, die in den 90er Jahren von der Regierung Gonzalo Sánchez de Lozada mittels Dekreten privatisiert worden waren. Besonders in den Departments Santa Cruz und Taija war der Widerstand gegen die Verstaatlichung sehr groß. Doch die dort geschürten Befürchtungen, Bolivien würde sich durch diesen Schritt international isolieren und die Treibstoffindustrie zusammenbrechen, haben sich nicht bewahrheitet. Auf eine anfängliche Verstimmung, vor allem bei dem größten Investor im Erdgasgeschäft, der brasilianischen Petrobras, folgt ein neuer Pragmatismus. Gegenwärtig befindet sich die bolivianische Regierung in Verhandlungen mit den multinationalen Mineralkonzernen über die im internationalen Vergleich niedrigen Gaspreise.

»Zweieinhalb Monate nach der Verstaatlichung der Treibstoffreserven, ist es zu keiner Unsicherheit bei den privaten Investoren gekommen, keiner von ihnen hat das Land verlassen, und alle ausländischen Mineralölkonzerne sind geblieben«, erklärte Carlos Villega, Minister für Wirtschaftsplanung, Anfang Juli bei der Vorstellung der bolivianischen Wirtschaftsdaten gegenüber der Presse. Die Verstaatlichung des Energiesektors bringt dem bolivianischen Staat geschätzte Mehreinnahmen von jährlich rund 600 Millionen US-Dollar.

Als der argentinische Präsident Néstor Kirchner kurz vor den Wahlen zum Verfassungskonvent mit Evo Morales ein Abkommen unterzeichnete, das den Gaspreis auf fünf US-Dollar pro BTU (»British Thermal Unit«, eine Steigerung von 55 Prozent gegenüber dem vorherigen Abnehmerpreis von 3,5 US-Dollar) festlegte, konnte der schnelle Verhandlungsabschluß als Geste der Unterstützung für den MAS-Präsidenten gedeutet werden. Bolivien hatte zwar ursprünglich sechs US-Dollar angestrebt, rückte aber von der Forderung ab, als Argentinien dem Nachbarstaat im Gegenzug einen zinslosen Kredit über 120 Millionen US-Dollar versprach, mit dessen Hilfe in Yacuiba, an der argentinisch-bolivianischen Grenze, eine Anlage zur Trennung von Flüssiggasen errichtet werden soll.

Anders als mit Argentinien, das über eigene Gasvorkommen im Norden und in Patagonien verfügt und bolivianisches Gas lediglich einführt, um Versorgungsengpässe im Winter auszugleichen und Lieferverpflichtungen mit anderen Ländern der Region zu erfüllen, wird sich die Neuverhandlung der Gaspreise mit dem Nachbarland Brasilien vorausichtlich noch bis in den Dezember hinausziehen. Néstor Kirchner kann die erhöhten Gaspreise zum Teil beim Wiederverkauf an die Endabnehmer in Chile und Uruguay weitergeben; eine solche Möglichkeit hat Brasilien nicht. Die staatliche brasilianische Mineralölgesellschaft Petrobras hat deshalb ihre Position Anfang Juli gegenüber Bolivien klargemacht: Petrobras ist nicht bereit, mehr als den aktuellen Preis von vier US-Dollar pro BTU zu bezahlen. Mittlerweile hat der Konzern zudem neue Investitionen in dem Andenland gestoppt und nutzt nun die dadurch freiwerdenden Mittel für die Erkundung und Ausbeutung von Gasfeldern in anderen Regionen.

Daß sich an der harten Verhandlungsposition kurzfristig etwas ändert, ist nicht zu erwarten: In Brasilien herrscht derzeit Wahlkampf, so ist es unwahrscheinlich, daß Präsident Inácio »Lula« da Silva, der auf eine zweite Amtszeit hofft, vor dem Urnengang im Oktober zugunsten Boliviens intervenieren wird. Schon seine moderate Reaktion auf die Verstaatlichung der Erdgasfelder am 1. Mai, von der Förderstellen der Petrobras betroffen waren, hatte ihm in seiner Heimat die Kritik eingebracht, er sei vor Bolivien »eingeknickt«. Brasilien ist zur Zeit der mit Abstand größte Abnehmer des bolivianischen Gases: Das Land führt durch eine Pipeline täglich 26 Millionen Kubikmeter des Rohstoffes ein, um den Energiebedarf des Industriegroßraums São Paulo zu decken.

Beide Länder sind im Augenblick voneinander abhängig: Bolivien braucht die Erlöse aus dem Gasgeschäft mit Brasilien, Brasilien die Rohstofflieferungen. Die von der neuen bolivianischen Regierung angestrebte Weiterverarbeitung des Gases durch Verflüssigung und Trennung hat den Hintergrund, so in Zukunft neue Märkte erschließen zu können. Doch bis solche Anlagen in dem Land ihren Betrieb aufnehmen können, werden vier bis fünf Jahre vergehen. Deshalb kann Petrobras in den Verhandlungen um einen neuen Gaspreis hoch pokern. Wenn Bolivien seine Lieferverträge aufkündigt, wohin sollte es sein Gas dann verkaufen?

Deshalb bietet die momentane energiepolitische Annäherung an Venezuela für die bolivianische Regierung eine Möglichkeit, sich aus der starken Abhängigkeit vom brasilianischen Absatzmarkt und den Petrobras-Investitionen zu befreien. Mitte Juli kündigten die staatlichen Mineralölkonzerne Boliviens (YPFB) und Venezuelas (PDVSA) die Gründung einer gemeinsamen Gesellschaft an, an der YPFB zu 51 Prozent und PDVSA zu 49 Prozent beteiligt ist. Längerfristig sollen insgesamt 1,2 Milliarden US-Dollar investiert werden, um die Suche, Erkundung und Ausbeutung von neuen Lagerstätten voranzutreiben. Das erste Explorationsprojekt soll im bolivianischen Teil des Amazonasbeckens, wo man schon seit Jahrzehnten Treibstofflagerstätten vermutet, in Angriff genommen werden – auch eine Prospektion mineralischer Bodenschätze soll dort durchgeführt werden. Seit der Verstaatlichung der Rohstoffreserven ist Venezuela das einzige Land, das neue Investitionen in Bolivien realisiert und damit bestätigt hat, daß es zum wichtigsten außenpolitischen Verbündeten von Morales geworden ist. Auf Drängen von Hugo Chávez Frías wird Bolivien auch an die geplante Gaspipeline zwischen Venezuela und Argenti­nien durch Brasilien angeschlossen werden – eine entsprechende Vereinbarung wurde im Vorfeld des Sondergipfels des Mercosur in Caracas unterzeichnet. Die energiepolitische Strategie der bolivianischen Regierung zielt darauf, mit Hilfe der neuen Partner – Venezuela, in geringerem Maße Argentinien und möglicherweise bald auch Rußland – die Gasförderung zu erhöhen und mittelfristig neue Absatzmärkte erschließen zu können.

Interessenkonfikte

Die künftigen Mehreinnahmen aus dem Gasgeschäft aufgrund der gestiegenen Verkaufspreise wecken aber auch Begehrlichkeiten im eigenen Land. Die Departments, in denen der Rohstoff gefördert wird, Tarija und Santa Cruz, verlangen, daß der bolivianische Staat ihnen mehr Geld überläßt. Eine Forderung, die Vizepräsident García Linera umgehend zurückwies: »Unsere Vorstellung ist, daß wir das Gas industriell verarbeiten. Und um es zu verarbeiten, müssen wir das Geld der YPFB überlassen (...) Die Menschen, das Land, die Departments und Departmentregierungen müssen die Verantwortung übernehmen, die Verarbeitung zu garantieren (...)«, erklärte er Mitte Juli gegenüber der bolivianischen Presse. Für den ehemaligen Guerillero ist das Ziel klar: Um seine wirtschaftliche und politische Abhängigkeit zu verringern, muß Bolivien sich vom Rohstofflieferanten zum Produzenten von Industriegütern wandeln. Evo Morales argumentierte ähnlich, als er darauf verwies, daß in dem bindenden Referendum über die Gasfrage, die bolivianische Bevölkerung im Februar 2005 mehrheitlich für die Weiterverarbeitung des Gases im eigenen Land gestimmt habe und es diesen Wählerauftrag nun zu erfüllen gelte. Abgaben und Steuern werden seit der Verstaatlichung direkt von der YPFB eingezogen und dann an die Departments verteilt.

In den nächsten Monaten wird es Morales’ schwierige Aufgabe sein, zum einen zu garantieren, daß der Verfassungsgebungsprozeß vorankommt und sich nicht in Diskussionen über Verfahrensfragen verzettelt sowie andererseits die Abspaltungstendenzen der Provinzen im Osten durch ein moderates Autonomiemodell aufzufangen; in den Verhandlungen mit Brasilien um eine Erhöhung der Gasverkaufspreise wird es darauf ankommen, nicht nachzugeben und eine vorsichtige und kritische Annäherung an die USA zu unternehmen, um die bolivianischen Exporte dorthin zu sichern und das Wirtschaftswachstum des ersten Trimesters 2006 nicht abzuwürgen (das BIP stieg um 4,3 Prozent). Am Ende könnte auf diesem Weg möglicherweise sogar ein bilaterales Wirtschaftsabkommen zu neuen Bedingungen mit dem ungeliebten Geschäftspartner im Norden erreicht werden.

* Aus: junge Welt, 27. Juli 2006


Zurück zur Bolivien-Seite

Zur Lateinamerika-Seite

Zurück zur Homepage