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Die Mühen der Ebene

200 Jahre nach dem Aufstand gegen die Spanier begibt sich Bolivien mit einer neuen Verfassung auf den Weg eines sozialen Ausgleichs

Von Thomas Guthmann, El Alto *

Die Revolte wurde bekannt als »Ruf nach Freiheit für Lateinamerika«: Vor 200 Jahren begann am 25. Mai im bolivianischen Sucre der Aufstand gegen die spanische Kolonialmacht. Formell unabhängig wurde Bolivien erst 1825. Gleiche Rechte für alle Bürger soll nun erstmals die im Februar 2009 per Volksabstimmung angenommene neue Verfassung schaffen. »Nie wieder werden sie unsere Bodenschätze plündern. Sie haben sich unserer Früchte bemächtigt und gerodet, aber sie haben nie unsere rebellischen Wurzeln ausreißen können. Deshalb stehen wir hier zusammen, um für Gleichheit, Würde und Einheit zu kämpfen.« Mit diesen Worten gedachte Staatschef Evo Morales vergangenen Montag des Beginns der Revolte gegen die spanische Kolonialmacht vor 200 Jahren und nahm Bezug auf die neue Magna Charta, die künftig auch der verarmten Bevölkerung zu ihrem Recht verhelfen soll.

Nirgendwo ballt sich diese so stark wie in El Alto. Entstanden ist El Alto als Vorstadtslum der Kapitale La Paz. Heute leben in der ungleichen Zwillingsstadt des bolivianischen Geschäfts- und Regierungszentrums La Paz rund eine Million Menschen. Die meisten sind geflüchtet vor den kargen und ärmlichen Lebensbedingungen, die der ländliche Raum des bolivianischen Hochlands bietet.

In El Alto ballt sich die Armut

In El Alto finden sie sich wieder in der informellen Ökonomie von Minibusfahrern, Kleinhändlern oder Handwerkern, oft sogar unterhalb des dürftigen bolivianischen Mindestlohns. Alle haben zu tun auf den Straßen in der Ceja, dem Zentrum der Millionenstadt, und gemeinsam generieren sie das für El Alto typische Ambiente, das den Besucher empfängt und aus einer Mischung an ungefilterten Dieselabgasen, Marktgeschrei und Gehämmer besteht.

Auch Ariel, der Assistent eines Minibusses, der im Moment auf den Straßen der Ceja von El Alto unterwegs ist, hat daran seinen Anteil. Mit lakonischer Stimme ruft er die Namen der Haltestellen der Strecke, die der Minibus abfährt. Sie führt von der Stadtautobahn von La Paz über die Ceja nach Satelite, dem ältesten Teil der gerade mal 40 Jahre alten Stadt. Fahrgäste steigen ein und aus und bis zu dreizehn von ihnen drängen sich im Innenraum des Fahrzeugs. Sein Chef, der Fahrer Héctor, versucht währenddessen in Millimeterarbeit seinen alten Toyota-Minibus durch die vollgestopfte Ceja zu rangieren, um seine Fahrgäste ans Ziel zu bringen.

Sieben von zehn Fahrzeugen in El Alto sind Minibusse, Individualverkehr ist hier weitgehend unbekannt, ebenso wie ein öffentliches Nahverkehrssystem. Es sind Leute wie Héctor und Ariel mit ihren Vehikeln, die die Mobilität der Alteños gewährleisten. Von sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends dauert ihr Arbeitstag – und fast jeder Tag im Jahr ist ein Arbeitstag. Nur montags wird pausiert. Nach wie vor ist der Alltag geprägt vom Mangel und es dominiert die Frage, wie man sich und seine Familie über die Runden bringen kann.

Die Alteños gelten in Bolivien als besonders rebellisch. 2003 wurde hier im Krieg gegen das Gas Präsident Sánchez de Lozada, »Goni«, der Vorgänger von Evo Morales, aus dem Amt gejagt und dem Regierungswechsel der Weg geebnet. Die Querelen um die neue Verfassung im Regierungsviertel in der benachbarten Hauptstadt La Paz, die in den vergangenen Monaten die Schlagzeilen der Tageszeitungen bestimmten, finden wenig Beachtung. Von Fahrer Héctor erntet man nur ein Schulterzucken, wenn man ihn darauf anspricht, was er von dem andauernden Streit zwischen Opposition und Regierung hält. Die Verfassung findet er gut, denn Evo Morales ist für ihn, wie für die meisten hier, einer von ihnen: »Zum ersten Mal stellen wir den Präsidenten«, meint Hector und das hört man in El Alto oft. Hier kann Evo Morales auf eine Unterstützung von bis zu 80 Prozent zählen. Auch der Verfassung wurde hier mit einer ähnlich hohen Prozentzahl zugestimmt.

Budgets der Familien sind auf Kante genäht

Um seine Familie ernähren zu können, fährt Héctor sechs Tage die Woche, und nach einem Zwölf- stundentag bleiben ihm in der Regel nur 10 bis 20 Euro. Davon muss er nicht nur sein Einkommen bestreiten, sondern auch den Kredit abbezahlen, von dem er den alten Toyotabus gekauft hat. Zweidrittel der Menschen sind hier arm, das sind doppelt so viele wie in der Hauptstadt La Paz.

Darum interessiert man sich wenig für die Details der politischen Streitereien zwischen Senat und Präsidenten, die Menschen setzen hier andere Prioritäten. Die steigenden Lebensmittelpreise etwa, die den Chauffeuren der Minibusse zu schaffen machen. »Brot, Milch und Fleisch, alles ist in letzter Zeit teurer geworden«, lamentiert Héctor. Um den Preisanstieg im eigenen Portemonnaie auszugleichen, wollten die Chauffeure eigentlich zu Jahresbeginn die Preise erhöhen. In El Alto sollte der Preis für eine Fahrt von einem Boliviano – also etwa zehn Eurocent – auf 1,50 erhöht werden. Der Plan stieß jedoch bei der Bevölkerung auf heftigen Widerstand. Eine Preiserhöhung um fünfzig Prozent ist für viele in El Alto nicht bezahlbar. Auf die Ankündigung hin drohten die mächtigen Nachbarschaftskomitees mit einem Paro Civico, einem Generalstreik. Die Chauffeure vertagten daraufhin die Preiserhöhung. Das Problem ist aufgeschoben, aber nicht gelöst. Eine Preissteigerung hätte direkte Konsequenzen für die Mehrheit der Alteños. Denn die Bäcker haben bereits angekündigt, dann ebenfalls ihre Produkte zu verteuern. Die Budgets vieler Familien haben dafür aber keine finanziellen Puffer und dementsprechend gibt es wenig Verständnis für solche Ankündigungen.

Die Auseinandersetzung um die Fahrpreise ist ein typischer Streit der Habenichtse in Bolivien, bei dem sich die armen Fahrer mit ihren armen Fahrgästen um einige Centavos rangeln, die keine der beiden Seiten hat. Regierung und Opposition haben sich hier weitgehend rausgehalten. Zwar gab es von Seiten der Regierung Gespräche mit der Transportvereinigung, die dazu führten, dass die Fahrpreiserhöhungen zunächst suspendiert wurden. Einen Ausweg hatte sie aber auch nicht parat. Der Kostendruck bei den Fahrern, die alle auf eigene Rechnung und im eigenen Minibus fahren, ist groß. Auf der anderen Seite stehen die auf Kante genähten Budgets der meisten Familien. Eine einfache Lösung ist hier nicht in Sicht. Sicherlich ein Grund, warum sich Opposition und Regierung bei diesem Thema auffällig zurückhalten.

Bei anderen Themen flackert dagegen regelmäßig leidenschaftlicher Streit zwischen Regierung und Opposition auf. So kam es kurz vor Ostern zu tumultartigen Szenen im Kongress: Die Verabschiedung des Wahlgesetzes stand auf der Kippe. Das Wahlgesetz regelt den Übergang zur neuen Verfassung und stellt die Grundlage für die Wahl der Verfassungsorgane dar. Evo Morales will, dass im Dezember Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden. Damit soll der Übergang hin zur neuen Verfassung abgeschlossen werden.

Die oppositionelle PODEMOS, die die Mehrzahl der Senatoren stellt, hätte das Gesetz gerne zum Scheitern gebracht. Evo Morales trat daraufhin in den Hungerstreik, um Druck zu machen. »Das Volk darf niemals vergessen, dass der revolutionäre Wandel durch Kampf erreicht wird«, sagte Morales nach dem Ende der knapp einwöchigen Diät. Bisher wurde immer mit Demonstrationen und Blockaden auf die Verweigerung des Senats, Gesetzen zuzustimmen, Druck gemacht. Dieses mal entschied sich der Präsident für den Hungerstreik. Möglicherweise fürchteten MAS-Strategen eine zu geringe Beteiligung durch die Bevölkerung an der Belagerung des Senats. Hungern für ein neues Wahlgesetz

Letztlich konnte die Opposition einige Änderungen an der Gesetzesvorlage durchsetzen. Dazu gehörte neben der Einführung eines biometrischen Wahlregisters auch die Verringerung der feststehenden Sitze für die indigenen Minderheiten im neuen Parlament.

Die Menschen in El Alto verfolgten das illustre Treiben in der Nachbarstadt La Paz mit geringem Interesse. Héctor, der seinen Minibus mittlerweile aus der verstopften Ceja herausmanövriert hat, steht dennoch, wie die große Mehrheit, auf der Seite des Präsidenten. Ihm haben sie mit ihrem Aufstand beim Gaskrieg den Weg geebnet und er steht für sie wie kein anderer als Symbol der Hoffnung für die Verbesserung ihrer Lebenssituation.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Mai 2009


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